17
Hannah war keine Frau, die leicht weinte. Und nun kauerte sie da auf der Kante von Mrs. Hakims Bett, um ein Uhr nachts, in ihrem Missionsschülerinnennachthemd, die Hände vors Gesicht geschlagen, so daß ihr die Tränen zwischen den Fingern hervorquollen, und ich wußte nicht aus noch ein vor Mitleid.
»Wir können nichts tun, um uns zu retten, Salvo«, erklärte sie schluchzend, als ich sie zumindest überredet hatte, den Kopf zu heben. »Wir haben so einen wunderbaren Traum. Frieden. Einheit. Fortschritt. Aber wir sind Kongolesen. Wenn wir einen Traum haben, müssen wir immer wieder bei Null anfangen. Für uns kommt nie ein neuer Tag.«
Nachdem ich sie nach besten Kräften getröstet hatte, machte ich uns Rührei, Toast und eine Kanne Tee und schwatzte dabei über dies und das. Was ich dabei lieber für mich behielt, waren gewisse Telefonate, die ich geführt, und ein gewisses Geheimdokument mit dem Titel J’accuse!, das ich hinter dem Kleiderschrank versteckt hatte – Gegenvorschläge gleich welcher Art, so fürchtete ich, würden ihren Kummer nur schlimmer machen. Bis sie nach Bognor fuhr, waren es nur noch kurze zwölf Stunden. Viel besser, ich wartete mit meiner Eröffnung bis nach ihrer Rückkehr, denn bis dahin würde ich meinen Plan in die Tat umgesetzt haben, und alle unsere Probleme wären gelöst. Doch als ich vorschlug, wir sollten uns schlafen legen, schüttelte sie nur heftig den Kopf und sagte, sie müsse das Lied noch einmal hören.
»Hajs Lied. Das er gesungen hat, nachdem sie ihn gefoltert hatten.«
»Jetzt?«
»Jetzt.«
Da ich ihr nichts abschlagen mochte, holte ich die entsprechende Kassette aus dem Versteck.
»Hast du die Visitenkarte noch, die er dir gegeben hat?«
Ich reichte sie ihr. Sie betrachtete die Vorderseite und lächelte schwach über die Tiere. Dann drehte sie sie um und sah sich nachdenklich die Rückseite an. Sie setzte den Kopfhörer auf, schaltete den Kassettenrecorder ein und versank in ein unergründliches Schweigen. Ich faßte mich derweil in Geduld.
»Hast du deinen Vater geachtet, Salvo?« fragte sie, als sie sich das Band zweimal angehört hatte.
»Aber natürlich. Sehr sogar. Und du deinen doch sicher auch.«
»Haj achtet seinen Vater ebenfalls. Er ist Kongolese. Er achtet seinen Vater und gehorcht ihm. Glaubst du wirklich, er kann ohne einen Beweis in der Hand zu seinem Vater hingehen und zu ihm sagen: ›Vater, dein lebenslanger Freund und politischer Weggefährte, der Mwangaza, ist ein Lügner‹? Wo er doch nicht einmal die Spuren der Folter vorweisen kann, wenn seine Peiniger ihre Arbeit gut gemacht haben!«
»Hannah, bitte. Du bist todmüde, und du hattest einen furchtbaren Tag. Komm ins Bett.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schob sie sacht beiseite.
»Er hat für dich gesungen, Salvo.«
Ich gab zu, daß das auch mein Eindruck gewesen war.
»Und was meinst du, was er dir damit sagen wollte?«
»Daß er überlebt hat. Und daß wir ihn am Arsch lecken sollen.«
»Und warum hat er dir dann seine E-Mail-Adresse gegeben? Die Schrift ist zittrig. Er hat sie dir aufgeschrieben, nachdem sie ihn gefoltert hatten, nicht vorher. Warum?«
Ich flüchtete mich in einen schlechten Witz. »Wahrscheinlich, weil er mit mir in seinen Nachtclubs einen draufmachen will.«
»Haj will dir sagen, daß du dich mit ihm in Verbindung setzen sollst, Salvo. Er braucht deine Hilfe. Er sagt: Hilf mir, schick mir deine Aufnahmen, schick mir die Beweise für das, was sie mir angetan haben. Er braucht die Beweise. Und er will sie von dir.«
War es Nachgiebigkeit meinerseits oder lediglich Taktik? Meiner festen Überzeugung nach war Haj ein Playboy, kein Ritter in schimmernder Rüstung. Französischer Pragmatismus und das süße Leben hatten ihn korrumpiert. Die drei Millionen Dollar bis Montag abend waren der Beweis dafür. Sollte ich ihre Illusionen zerstören oder mich lieber auf einen Handel mit ihr einlassen, aus dem mit einiger Sicherheit sowieso nichts werden würde?
»Du hast recht«, sagte ich. »Er will die Beweise. Wir schicken ihm die Aufnahmen. Anders geht es nicht.«
»Wie?« fragte sie mißtrauisch.
Es sei kinderleicht, versicherte ich ihr. Man brauche bloß irgendwen zu finden, der die technischen Möglichkeiten habe – einen Toningenieur zum Beispiel oder jemanden aus einem Plattenladen. Dann lasse man sich das Band in eine Audiodatei umwandeln und schicke es per E-Mail an Haj. Finito.
»Nein, Salvo, nicht finito.« Sie zog bedenklich die Stirn kraus, während sie versuchte, nun ihrerseits auf meinen Standpunkt umzuschwenken.
»Warum nicht?«
»Du begehst ein schweres Verbrechen. Haj ist Kongolese, und du willst ihm britische Geheimnisse verraten. Im Herzen bist du Brite. Lassen wir es lieber bleiben.«
Ich holte einen Kalender. Bis zu Maxies geplantem Coup seien es noch elf Tage, sagte ich und kniete mich neben sie. Es habe also keine extreme Eile, oder?
Wahrscheinlich nicht, pflichtete sie mir zweifelnd bei. Doch je mehr Zeit Haj blieb, desto besser.
Schon, aber ein paar Tage könnten wir auf jeden Fall noch warten, entgegnete ich listig. Sogar eine Woche würde nicht schaden, schob ich nach – ich dachte an das gemächliche Tempo, in dem Mr. Anderson seine Wunder vollbrachte.
»Eine Woche ? Wieso sollen wir eine Woche warten?« Wieder runzelte sie die Stirn.
»Weil wir es ihm dann vielleicht gar nicht mehr schicken müssen. Vielleicht bekommen sie kalte Füße. Sie wissen ja, daß wir an der Sache dran sind. Vielleicht blasen sie das Ganze noch ab.«
»Und wie erfahren wir, daß sie es abgeblasen haben?«
Darauf hatte ich keine Antwort parat, und obwohl sie den Kopf auf meine Schulter gelegt hatte, war unser Schweigen nicht sehr behaglich.
»In vier Wochen hat Noah Geburtstag«, sagte sie unvermittelt.
»Ich weiß. Wir wollen ihm doch zusammen ein Geschenk aussuchen.«
»Am meisten wünscht er sich, seine Cousins und Cousinen in Goma zu besuchen. Ich möchte nicht, daß er in ein Kriegsgebiet fahren muß.«
»Das muß er auch nicht. Gib uns nur ein paar Tage. Nur für den Fall, daß sich noch etwas tut.«
»Was denn zum Beispiel, Salvo?«
»Das sind schließlich nicht alles Monster. Vielleicht siegt die Vernunft ja doch«, beharrte ich, woraufhin sie sich aufrichtete und mich mit einem Blick bedachte, den sie sonst vermutlich für Patienten bereithielt, die sie im Verdacht hatte, sie über ihre Symptome zu belügen.
»Fünf Tage«, insistierte ich. »Am sechsten schicken wir alles an Haj. Dann hat er immer noch genug Zeit. Mehr als genug, würde ich sagen.«
Danach kann ich mich nur noch an ein Gespräch erinnern, das später bedeutsam werden sollte. Wir liegen engumschlungen beieinander, unsere Sorgen scheinbar vergessen, als Hannah mir plötzlich von Grace’ Freund Latzi erzählt, dem verrückten Polen.
»Weißt du, womit er sein Geld verdient? Er arbeitet in Soho in einem Plattenstudio für Rockbands. Nachts werden die Aufnahmen eingespielt, morgens kommt er völlig bekifft nach Hause, und dann lieben sie sich den ganzen Tag.«
»Und?«
»Und? Ich kann ihn fragen. Er macht uns bestimmt einen guten Preis.«
Ich setze mich auf. »Hannah. Ich möchte nicht, daß du dich der Mittäterschaft schuldig machst. Wenn jemand Haj die Bänder schickt, dann ich.«
Sie sagt nichts, und ich nehme ihr Schweigen als Zustimmung. Wir verschlafen und müssen in fliegender Hast packen. Auf Hannahs Bitte laufe ich barfuß nach unten und frage Mr. Hakim, ob er uns ein Taxi rufen kann. Als ich zurückkomme, steht sie vor dem altersschwachen Kleiderschrank, in der Hand meine Umhängetasche, die in der Hektik aus dem Versteck gerutscht ist – aber, Gott sei Dank, ohne mein kostbares J’accuse!
»Komm, laß mich«, sage ich, recke mich und packe die Tasche wieder an ihren Platz zurück.
»Ach, Salvo«, sagt sie, was ich als Dankbarkeit deute.
Sie ist immer noch nicht fertig angezogen. Fatal, fatal.
* * *
Auf der Strecke Victoria-Sevenoaks waren zusätzliche Schnellbusse eingesetzt worden, für die vielen Bahnpendler, die der Schiene seit den Bombenanschlägen den Rücken gekehrt hatten. Die Pudelmütze tief in die Stirn gezogen, näherte ich mich vorsichtig der Warteschlange, mir meiner Hautfarbe nur allzu bewußt. Bis hierher war ich teils zu Fuß, teils mit dem Bus gekommen, wobei ich unterwegs zweimal in letzter Sekunde ausgestiegen war, um potentielle Verfolger abzuschütteln. Die Gegenaufklärung verlangt einem Agenten einiges ab. Als mich der Wachmann am Busbahnhof abtastete, wünschte ich mir fast, er möge mich erkennen und dem grausamen Spiel ein Ende machen. Aber an dem braunen Umschlag mit der Aufschrift J’accuse!, der gefaltet in der Innentasche meiner Lederjacke steckte, hatte er nichts auszusetzen. In Sevenoaks rief ich von einer Telefonzelle aus Grace an, die sich unter lautem Gelächter meldete. Die Busfahrt nach Bognor war nicht ohne Abenteuer abgelaufen.
»Du weißt noch, Amelia? Ihr ist unterwegs schlecht geworden, Salvo. Alles war voll, du würdest es nicht glauben. Der ganze Bus, ihr neues Kleid und die neuen Schuhe. Hannah und ich, wir stehen hier mit Wischmops und schütteln bloß noch den Kopf.«
»Salvo?« Das war Hannah.
»Ich liebe dich, Hannah.«
»Ich liebe dich auch, Salvo.«
Sie hatte mir die Absolution erteilt, jetzt konnte ich weitermachen.
* * *
Die St. Roderic’s School for Boys and Girls lag am grünen Rand der Altstadt von Sevenoaks. Zwischen Villen, in deren unkrautfreien, sauber gekiesten Einfahrten noble Neuwagen parkten, stand sie da wie eine Doppelgängerin des Herz-Jesu-Heims, mitsamt Türmchen, Zinnen und einer unheilverkündenden Uhr. Die Memorial Hall, ein Saal aus Glas und Backstein, war von dankbaren Eltern und ehemaligen Schülern gestiftet worden. Ein neonfarbener Pfeil wies die Besucher eine geflieste Treppe hinauf. Im Kielwasser korpulenter Damen gelangte ich auf eine Holzempore und setzte mich neben einem älteren Geistlichen mit ähnlich wohlfrisiertem weißen Haupt wie Philip. Unter uns, hufeisenförmig angeordnet, hatte der sechzig Mann starke Chor von Sevenoaks Aufstellung genommen – der autorisierte, wohlgemerkt. Ein Mann mit Samtjacke und Fliege erteilte seinen Schäfchen von einem Podest aus eine Lektion zum Thema Entrüstung.
»Sie zu fühlen ist schön und gut. Aber man muß sie auch hören. Denken wir es doch rasch einmal durch. Die Geldverleiher haben sich im Hause Gottes breitgemacht. Gibt es etwas Schlimmeres? Kein Wunder, daß wir entrüstet sind. Wer wäre das nicht? Also bitte: reichlich Entrüstung. Und sehr sachte mit den S, vor allem die Tenöre. Nun denn, noch einmal von vorn, wenn ich bitten darf.«
Und ob er durfte. Mr. Anderson warf sich mit dem Ausdruck schönster Entrüstung in die Brust, machte den Mund auf und sah mich – aber so direkt und ausschließlich, daß man hätte meinen können, ich sei der einzige Mensch im Saal, und auf der Empore gleich gar. Und dann klappte er den Mund wieder zu. Alles um ihn herum sang, und der Mann auf dem Podest fuchtelte so selbstvergessen mit seinen dünnen Ärmchen, daß er gar nicht mitbekam, daß Mr. Anderson,
der aus der Reihe ausgeschert war, plötzlich neben ihm stand, puterrot vor Verlegenheit. Dem Chor aber war es nicht entgangen, und allmählich erstarb der Gesang. Was sich zwischen Mr. Anderson und seinem Chorleiter abspielte, werde ich nie erfahren, denn ich war längst die Treppe wieder hinuntergegangen und hatte mich vor den Türen zum großen Saal postiert. Zu mir gesellten sich eine ältliche Frau im Kaftan und eine stämmige Jugendliche, die, wenn man sich das grüne Haar und die Augenbrauenpiercings wegdachte, ihrem ehrwürdigen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sekunden später schob sich die massige Gestalt von Mr. Anderson selbst durch die Tür. Er sah an mir vorbei, als ob ich nicht existierte, und wandte sich im Befehlston an seine Damen.
»Mary, ich muß euch bitten, nach Hause zu fahren und dort auf mich zu warten. Ginette, mach nicht so ein Gesicht. Nehmt bitte den Wagen, Mary. Wenn nötig, werde ich schon ein anderes Transportmittel finden.«
Die halbwüchsige Ginette, deren schwarzumrandete Augen mich beschworen, die Schmach zu bezeugen, die man ihr antat, ließ sich von ihrer Mutter hinausführen. Erst jetzt geruhte Mr. Anderson, mich zur Kenntnis zu nehmen.
»Salvo. Sie sind in meine Chorprobe geplatzt.«
Ich hatte meine Rede parat. Darin wollte ich meine Wertschätzung für ihn und meinen Respekt für seine hehren Prinzipien zum Ausdruck bringen und ihn daran erinnern, wie oft er mir gesagt hatte, ich solle meine Sorgen nicht in mich hineinfressen, sondern gleich damit zu ihm kommen. Doch für diese Rede war der Zeitpunkt nicht der richtige.
»Es geht um den Coup, Sir. Mein Auftrag übers Wochenende. Er ist überhaupt nicht im nationalen Interesse. Es ist ein Komplott gegen den Kongo.«
An den Wänden des grüngekachelten Korridors hingen Bilder von Schülern. Die ersten beiden Türen waren abgeschlossen. Die dritte ging auf. Am anderen Ende des Klassenzimmers standen sich zwei Tische gegenüber und hinter ihnen an der Tafel mein schlechtestes Fach: Algebra.
* * *
Mr. Anderson hat sich angehört, was ich zu sagen hatte.
Ich habe mich kurz gefaßt, so wie er, der Vielredner, es bei anderen schätzt. Die Ellenbogen auf dem Tisch, das formidable Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, hat er mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, auch nicht, als ich mich an das heikle moralische Labyrinth herantastete, das seine ureigene Domäne ist: individuelles Gewissen contra höheres Ziel. Mein J’accuse! liegt vor ihm. Er setzt die Lesebrille auf und greift in seine Jacke, nach dem silbernen Drehbleistift.
»Und der Titel ist von Ihnen, Salvo? Sie klagen mich an.«
»Nicht Sie, Mr. Anderson. Die anderen. Lord Brinkley, Philip, Tabizi, das Syndikat. Die Leute, die den Mwangaza benutzen, um sich persönlich zu bereichern, und die zu diesem Zwecke sogar einen Krieg in Kivu anzetteln.«
»Und das steht alles hier drin? Schwarz auf Weiß. Von Ihnen aufgeschrieben.«
»Nur zu Ihrer persönlichen Verwendung, Sir. Es gibt keine Kopie.«
Die Spitze des silbernen Bleistifts begann seine bedächtige Wanderung über das Papier.
»Sie haben Haj gefoltert«, fügte ich hinzu. Das mußte ich unbedingt sofort loswerden. »Mit einem Elektroschocker. Den Spider gebaut hat.«
Ohne sich beim Lesen stören zu lassen, sah Mr. Anderson sich gezwungen, mich zu korrigieren. »Folter ist ein sehr emotionsgeladener Begriff, Salvo. Ich würde zurückhaltend damit umgehen. Mit dem Begriff, meine ich.«
Danach zügelte ich meine Ungeduld, während er las und die Stirn runzelte, sich hier eine Anmerkung an den Rand kritzelte, dort tadelnd mit der Zunge schnalzte, wenn ihm etwas an meinem Stil nicht gefiel. Einmal blätterte er ein paar Seiten zurück, um eine Textstelle mit einem vorangegangenen Absatz zu vergleichen, und schüttelte den Kopf. Und als er die letzte Seite gelesen hatte, fing er wieder von vorn an, beim Titel. Er befeuchtete seinen Daumen und studierte noch einmal den Schluß, wie um sich zu überzeugen, daß er auch nichts übersehen oder unberücksichtigt gelassen hatte, bevor er zur Notengebung schritt.
»Und was haben Sie mit diesem Schriftstück vor, wenn ich fragen darf, Salvo?«
»Nichts, Sir. Es ist für Sie, Mr. Anderson.«
»Und was soll ich damit machen?«
»Ganz nach oben gehen, Sir. Zum Außenminister oder in die Downing Street, wenn es sein muß. Man kennt Sie als einen Mann von Gewissen. Ethische Grenzfälle sind Ihr Spezialfach, wie Sie mir einmal gesagt haben.« Und als er nicht antwortete: »Es geht allein darum, die Operation zu stoppen. Wir verlangen nicht, daß irgendwelche Köpfe rollen. Wir stellen niemanden bloß. Aber die Operation muß gestoppt werden!«
»Wir?« wiederholte er. »Wer ist denn auf einmal wir?«
»Sie und ich, Sir«, antwortete ich, auch wenn ich ein anderes Wir im Sinn gehabt hatte. »Und diejenigen von uns, die nicht wußten, daß dieses ganze Projekt durch und durch verwerflich ist. Wir werden Menschen retten, Mr. Anderson. Hunderte, vielleicht Tausende. Auch Kinder.« Und diesmal dachte ich an Noah.
Mr. Anderson legte die Hände flach auf J’accuse!, als ob ich es ihm jeden Augenblick, wegreißen würde. Nichts hätte mir ferner gelegen. Er atmete tief durch, und in meinen Ohren klang es ein wenig zu sehr nach einem Seufzer.
»Sie waren sehr fleißig, Salvo. Sehr gewissenhaft, wenn ich das sagen darf, aber etwas anderes hätte ich von Ihnen auch gar nicht erwartet.«
»Das war ich Ihnen schuldig, Mr. Anderson.«
»Daß Sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben, ist jedem klar, der Ihre Arbeit kennt.«
»Danke, Mr. Anderson.«
»Sie zitieren hier längere Passagen wortwörtlich. Ebenfalls aus dem Gedächtnis?«
»Nicht ganz, nein.«
»Hätten Sie dann vielleicht die Güte, mir zu verraten, auf welche anderen Quellen Sie diese – Anklage stützen?«
»Das Rohmaterial, Mr. Anderson.«
»Und wie roh wäre das?«
»Die Bänder. Nicht alle. Nur die wichtigsten.«
»Und was genau ist auf den Bändern?«
»Die Verschwörung. Der Volksanteil. Wie Haj gefoltert wird. Wie Haj Kinshasa anklagt. Wie Haj sich kaufen läßt. Wie Philip über Satellit nach London telefoniert.«
»Um wie viele Bänder geht es hier, Salvo? Bitte die Gesamtzahl.«
»Nun ja, sie sind nicht alle voll. Spider hält sich an die Chatroom-Regeln. Also ein Band pro Aufzeichnung.«
»Bitte, Salvo. Wie viele?«
»Sieben.«
»Gibt es auch schriftliches Beweismaterial?«
»Nur meine Stenoblöcke.«
»Und wie viele von Ihren Stenoblöcken wären das?«
»Vier. Drei volle, ein halbvoller. In meiner babylonischen Keilschrift«, fügte ich hinzu, unser alter Witz.
»Und wo mögen sie wohl sein, Salvo? Das frage ich Sie. Wo sind sie in diesem Augenblick? Jetzt?«
»Die Söldner? Maxies Privatarmee?« Ich tat so, als ob ich ihn nicht verstand. »Hocken noch irgendwo herum, würde ich meinen. Ölen ihre Waffen, oder was sie eben sonst so machen. Der Angriff soll ja erst in zehn Tagen stattfinden, da müssen sie noch eine Weile Däumchen drehen.«
Aber so leicht ließ er sich denn doch nicht ablenken.
»Ich denke, Sie wissen, was ich meine, Salvo. Die Bänder, Stenoblöcke und das sonstige Material, das Sie sich widerrechtlich angeeignet haben. Was haben Sie damit gemacht?«
»Versteckt.«
»Wo?«
»An einem sicheren Ort.«
»Ich bitte Sie, Salvo. Was für eine kindische Antwort. Wo befindet sich der sichere Ort, an dem sie versteckt sind?«
Mein Mund blieb zu, nicht störrisch zusammengekniffen, aber zu, auch wenn es mich in den Lippen kribbelte, als ob sie unter Strom stünden.
»Salvo.«
»Ja, Mr. Anderson.«
»Sie wurden auf meine persönliche Empfehlung für diese Mission ausgewählt. Es gibt mehr als einen, der Sie nicht genommen hätte. Der der Meinung war, Ihr Temperament und Ihre unorthodoxe Herkunft würden Sie für eine solche Aufgabe disqualifizieren. Ich war nicht dieser Meinung.«
»Das weiß ich, Mr. Anderson. Und ich bin Ihnen dankbar. Deshalb komme ich ja auch zu Ihnen.«
»Also, wo sind sie?« Er wartete einen Augenblick und fuhr dann fort, als ob er die Frage nie gestellt hätte. »Ich habe Sie beschützt, Salvo.«
»Ich weiß, Mr. Anderson.«
»Vom ersten Tag an habe ich die Hand über Sie gehalten. Nicht nur im Chatroom, auch außerhalb gab es Leute, die dagegen waren, Sie zu verpflichten, Ihre Talente hin oder her.«
»Ich weiß.«
»Manche waren der Meinung, Sie seien zu leicht zu beeinflussen. Angefangen bei den Leuten von der Sicherheitsüberprüfung. Viel zu weichherzig, hieß es. Nicht manipulativ genug. An Ihrer alten Schule hielt man es für möglich, daß Sie sich zum Rebellen entwickeln. Und dann die Frage Ihrer persönlichen Neigungen, die ich hier nicht weiter vertiefen möchte.«
»An der Front ist inzwischen alles geklärt.«
»Ich habe zu Ihnen gestanden, durch dick und dünn. Ich habe mich für Sie in die Bresche geworfen. Jederzeit und ohne zu zaudern. ›Salvo ist der Beste‹, habe ich ihnen gesagt. ›Es gibt in unserer ganzen Branche keinen besseren Linguisten, solange er nicht den Kopf verliert, und den verliert er nicht, dafür sorge ich schon.‹«
»Das ist mir klar, Mr. Anderson. Das weiß ich zu schätzen.«
»Sie wollen doch eines Tages Kinder haben, nicht wahr? Das haben Sie mir selbst gesagt.«
»Ja.«
»Kinder zu haben ist nicht immer eitel Sonnenschein, durchaus nicht. Aber man liebt sie trotzdem, auch wenn sie einen noch so enttäuschen. Man hält zu ihnen, und genau das versuche ich auch bei Ihnen. Ist Ihnen inzwischen wieder eingefallen, wo sich die Bänder befinden?«
Um nicht etwa aus Versehen mehr zu sagen, als ich wollte, zupfte ich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger an meiner Unterlippe.
»Mr. Anderson, die Operation muß abgeblasen werden«, sagte ich schließlich.
Worauf er den silbernen Drehbleistift mit beiden Händen vom Tisch nahm, eine Zeitlang stumm Zwiesprache mit ihm hielt und ihn zuletzt wieder in der Brusttasche versenkte. Aber seine Hand blieb in der Jacke, so wie bei Maxie in seiner Napoleonpose.
»Und das ist endgültig, ja? Das ist Ihr letztes Wort in dieser Angelegenheit. Kein Dankeschön, keine Entschuldigung, keine Kassetten oder Stenoblöcke. Nur: ›Die Operation muß abgeblasen werden.‹«
»Ich gebe Ihnen die Kassetten und Blöcke. Aber erst, wenn Sie die Operation abgeblasen haben.«
»Und wenn ich es nicht tue? Wenn ich weder die Neigung noch die Macht habe, sie abzublasen?«
»Dann übergebe ich sie jemand anderem.«
»Ach ja? Und wem?«
Der Name Haj lag mir auf der Zunge, aber ich beherrschte mich.
»Meinem Unterhausabgeordneten zum Beispiel«, antwortete ich, womit ich nur verächtliches Schweigen erntete.
»Was wäre denn nun Ihrer ehrlichen Meinung nach dadurch gewonnen, daß man die Operation ›abbläst‹, wie Sie es formulieren?« hakte er nach einer Weile nach.
»Frieden, Mr. Anderson. Ein gottgefälliger Frieden.«
Daß ich mich so hoffnungsvoll auf Gott berief, schien in ihm den richtigen Nerv getroffen zu haben, denn ein Ausdruck tiefster Frömmigkeit breitete sich auf seinen grobschlächtigen Zügen aus.
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, es könnte Gottes Wille sein, daß die rapide zu Ende gehenden Rohstoffvorkommen der Welt besser bei zivilisierten, kultivierten Christenmenschen aufgehoben sind als in den Händen von Heiden, deren Rückständigkeit auf Erden ihresgleichen sucht?«
»Ich bin mir nur nicht sicher, wer hier die Heiden sind, Mr. Anderson.«
»Aber ich«, erwiderte er und stand auf. Dabei kam die Hand wieder aus der Jacke zum Vorschein, darin ein Handy. Offenbar hatte er es während der Chorprobe ausschalten müssen, denn sein dicker Daumen krümmte sich noch um den oberen Teil, während er daraufwartete, daß er ein Netz bekam. Sein schwerer Körper schob sich nach links, vermutlich, um mir den Weg zur Tür zu versperren. Also machte ich ebenfalls einen Schritt nach links, jedoch nicht, ohne unterwegs mein J’accuse! wieder an mich zu nehmen.
»Ich werde jetzt einen sehr speziellen Anruf tätigen, Salvo.«
»Das weiß ich, Mr. Anderson. Es wäre mir lieber, Sie würden es nicht tun.«
»Dieser Anruf wird Erschütterungen auslösen, die sich Ihrer und auch meiner Kontrolle entziehen. Ich möchte Sie bitten, mir hier und jetzt einen Grund zu nennen, warum er unterbleiben sollte.«
»Es gibt Millionen Gründe, Mr. Anderson. Überall in Kivu. Der Coup ist ein krimineller Akt.«
»Ein Schurkenstaat, Salvo – ein Staat, der nicht fähig ist, für geordnete Lebensverhältnisse zu sorgen, ein Staat, der in großem Maßstab Völkermord, Kannibalismus und Schlimmeres begeht, hat meiner wohlüberlegten Meinung nach« – noch ein Schritt – »jeglichen Anspruch auf internationale Achtung verwirkt« – er hatte mir den Fluchtweg fast abgeschnitten – »genauso, wie ein schurkenhaftes Element in unserer eigenen Gesellschaft – ein Schurke wie Sie, Salvo – das Recht verwirkt hat, zum Nachteil seiner Wahlheimat seiner Naivität zu frönen. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, es besteht keine Veranlassung näherzukommen. Was ich Ihnen zu sagen habe, können Sie auch dort hören, wo Sie stehen. Ich frage Sie ein allerletztes Mal: Wo befindet sich das unterschlagene Material? Alles weitere wird zu seiner Zeit geklärt werden. In zwanzig Sekunden werde ich den Anruf tätigen. Im gleichen Moment oder kurz vorher werde ich eine Jedermann-Festnahme vornehmen. Ich werde Ihnen die Hand auf die Schulter legen, wie es das Gesetz verlangt, und sagen: ›Bruno Salvador, hiermit nehme ich Sie fest, im Namen des Gesetzes.‹ Salvo. Ich möchte Sie daran erinnern, daß ich ein kranker Mann bin. Ich bin achtundfünfzig Jahre alt und leide an Altersdiabetes.«
Ich hatte ihm das Telefon aus der Hand genommen. Er ließ es geschehen. Wir standen voreinander, Auge in Auge, ich einen halben Kopf größer als er, was ihn sichtlich mehr überraschte als mich. Hinter der geschlossenen Tür rang der Chor von Sevenoaks ohne die Hilfe seines stimmmächtigsten Baritons um die angemessene Entrüstung.
»Salvo. Ich stelle Sie vor eine faire Wahl. Wenn Sie mir hier und jetzt Ihr Ehrenwort geben, daß Sie und ich das Material morgen früh – als allererstes – zusammen aus seinem Versteck holen, lade ich Sie ein, als mein Gast bei mir in Sevenoaks zu übernachten, mit mir und meiner Familie gemütlich zu Abend zu essen, schlichte Hausmannskost, nichts Exotisches, das Zimmer meiner ältesten Tochter ist frei, sie wohnt momentan nicht bei uns. Und um mich für die Rückgabe des Materials zu revanchieren, werde ich es mir zur Aufgabe machen, mit bestimmten Leuten zu reden und ihnen zu versichern – Vorsicht, Salvo, nicht doch …«
Die Hand, mit der er mich hatte festnehmen wollen, war abwehrend erhoben. Ich griff langsam nach der Klinke, um ihn nicht zu erschrecken. Ich entfernte den Akku aus seinem Handy und steckte ihm den Apparat in die Jackentasche. Zuletzt zog ich die Tür hinter mir zu, weil ich nicht wollte, daß andere Menschen meinen letzten Mentor in seiner bedauernswerten Verfassung sahen.
* * *
Wo ich mich in den nächsten Stunden aufhielt, was ich tat, daran habe ich nur vage Erinnerungen, und schon damals nahm ich es nur verschwommen wahr. Ich weiß, daß ich die Schuleinfahrt hinunterging, erst langsam, dann schneller, daß ich an einer Haltestelle stand und, als nicht gleich ein Bus kam, auf die andere Straßenseite hinüberwechselte und in den Bus in die entgegengesetzte Richtung stieg, was man nicht gerade als unverdächtiges Verhalten bezeichnen kann; daß ich mich danach hakenschlagend und im Zickzackkurs querfeldein bewegte, nicht nur, um echte oder eingebildete Verfolger abzuschütteln, sondern vor allem auch den Anblick Mr. Andersons; und daß ich in Bromley einen späten Zug zur Victoria Station nahm, von da mit dem Taxi bis zum Marble Arch fuhr und mit einem zweiten zu Mr. Hakims Pension, alles bezahlt mit Maxies großzügiger Prämie. Und daß ich am Bahnhof Bromley South, wo ich zwanzig Minuten auf den Zug warten mußte, aus einer Telefonzelle Grace anrief.
»Willst du mal was total Verrücktes hören, Salvo?«
Höflich, wie ich bin, wollte ich.
»Ich bin heute von einem Esel geplumpst! Voll auf den Hintern, vor den ganzen kreischenden Kids! Amelia ist oben geblieben, ich bin runtergefallen. Und der Esel, Salvo, der hat Amelia bis zur Eisbude am Strand auf sich reiten lassen, und Amelia hat dem Esel mit ihrem Taschengeld ein Eis gekauft, und der Esel hat das Eis ganz aufgefressen, und dann hat er Amelia wieder bis zu uns zurückgeschleppt! Kein Scheiß, Salvo! Was meinst du, was ich für blaue Flecken am Allerwertesten habe? Du würdest es nicht glauben, auf beiden Backen! Latzi lacht sich bestimmt tot, wenn er das sieht!«
Latzi, ihr polnischer Freund aus der Musikbranche, fiel es mir flüchtig wieder ein. Latzi, der Hannah einen guten Preis machen würde.
»Soll ich dir noch was erzählen, Salvo?«
Wann dämmerte mir, daß sie mich hinhielt?
»Wir waren im Kasperltheater, okay?«
Okay, antwortete ich.
»Und unsere Kids, die waren hin und weg. Ich hab noch nie so viele glückliche Kinder gesehen, die vor Angst dermaßen die Hosen voll hatten.«
Toll. Kinder lieben es, wenn man ihnen angst macht, sagte ich.
»Und das Café auf der Herfahrt, Salvo – wo wir Rast gemacht haben, weil sie uns in dem anderen nicht haben wollten, weil wir Neger sind? Die waren so was von nett. Wir können also echt nicht meckern.«
Wo ist sie, Grace?
»Hannah?« – als ob sie sich gerade erst an sie erinnert hätte. »Ach, Hannah, die ist mit den Großen ins Kino gegangen, Salvo. Wenn du anrufst, soll ich dir ausrichten, daß sie dich so bald wie möglich zurückruft. Vielleicht morgen früh – heute wird’s sicher zu spät. Hannah und ich, wir sind nämlich bei verschiedenen Familien untergebracht. Und mein Handy brauch ich hier, wegen Latzi.«
Aha.
»Wenn Latzi mich nicht erreicht, springt er im Dreieck. Und wo Hannah wohnt, da gibt es zwar ein Telefon, aber es ist besser, wenn du sie nicht anrufst. Es steht nämlich im Wohnzimmer, wo die ganze Familie vor dem Fernseher hockt. Sie meldet sich, sobald sie kann. Wolltest du irgendwas Bestimmtes, Salvo?«
Ihr sagen, daß ich sie liebe.
»Hm, kann es sein, daß sie das schon mal gehört hat, Salvo, oder ist das ganz was Neues?«
Ich hätte sie fragen sollen, in welchen Film Hannah mit den Großen gegangen war, dachte ich, nachdem ich aufgelegt hatte.
* * *
Ich hatte nicht gewußt, wie rasch mir unser kleines Hinterzimmer zum Zuhause geworden war. In wenigen Tagen hatte es all meine Jahre in den Norfolk Mansions verdrängt. Als ich hereinkam, duftete es nach Hannah, als ob sie noch da wäre, nicht nach einem Parfüm, nur nach ihr. In kameradschaftlicher Verbundenheit begrüßte ich das zerwühlte Bett, unsere ramponierte Triumphstätte. Nichts von dem, was sie zurückgelassen hatte, entging meinem schuldbeladenen Blick: ihr Afrokamm, die Armbänder, die sie in den letzten Minuten ihres verspäteten Aufbruchs gegen einen Reif aus Elefantenhaar ausgetauscht hatte, unsere halbleeren Teetassen, das Photo von Noah auf dem wackeligen Nachttisch, das mir während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten sollte, und das Regenbogenhandy für ihre Liebesbotschaften, auf dem sie mir mitteilen wollte, wann ich sie schätzungsweise zurückerwarten konnte. Warum ich es nicht mitgenommen hatte? Weil ich nichts bei mir haben wollte, womit ich sie im Falle meiner Festnahme belasten würde. Wie lange noch, bis ich es ihr zurückgeben konnte? Eigentlich sollten die Eltern ihre Sprößlinge um ein Uhr mittags an der Kirche in Empfang nehmen, aber Hannah hatte mich gewarnt: Ein einziges ungezogenes Kind wie Amelia, das sich versteckt hatte, ein Bombenalarm oder eine Straßensperre, und schon würde aus Mittag Abend werden.
Ich hörte mir die Zehn-Uhr-Nachrichten an und überprüfte im Internet die Steckbriefe der meistgesuchten Verbrecher, immer darauf gefaßt, auf mein Photo nebst einer politisch korrekten Beschreibung meiner ethnischen Zugehörigkeit zu stoßen. Ich wollte mich gerade ausloggen, als Hannahs Handy sein Vogellied trällerte. Grace habe ihr meine Nachricht ausgerichtet, sagte sie. Sie sei in einer Telefonzelle und habe nicht genug Kleingeld dabei. Ich rief sie sofort zurück.
»Vor wem bist du denn davongerannt?« fragte ich, um einen scherzhaften Ton bemüht.
Sie war überrascht: Wie ich auf die Idee käme, daß sie gerannt sei?
»Weil du dich so anhörst«, sagte ich. »Ganz außer Atem.«
Das Gespräch ließ sich gar nicht gut an. Am liebsten hätte ich es abgebrochen und noch einmal von vorne angefangen, wenn ich wieder klarer denken konnte. Wie sollte ich ihr sagen, daß mich Mr. Anderson genauso enttäuscht hatte wie Lord Brinkley, nur auf eine scheinheiligere Art? Daß er ein zweiter Brinkley war, genau wie sie es vorhergesagt hatte?
»Wie geht’s deinen Kids?« fragte ich.
»Gut.«
»Grace sagt, sie haben jede Menge Spaß.«
»Stimmt. Sie sind überglücklich.«
»Du auch?«
»Ich bin glücklich, weil ich dich habe, Salvo.« Warum so feierlich? So endgültig?
»Und ich bin auch glücklich. Daß ich dich habe. Du bedeutest mir alles. Hannah, was ist los? Bist du nicht allein in der Telefonzelle? Du klingst so … unwirklich.«
»Ach, Salvo!«
Und dann beteuerte sie mir plötzlich, fast wie auf Knopfdruck, ihre leidenschaftliche Liebe, versicherte mir, nie geahnt zu haben, daß es ein solches Glück überhaupt geben könne, und schwor, mir niemals im Leben schaden zu wollen, auch nicht durch die kleinste Kleinigkeit, auch nicht durch etwas, das sie nur gut meinte. Nie im Leben.
»Aber natürlich nicht!« rief ich, fast ein bißchen perplex. »Du könntest mir nicht schaden und ich dir auch nicht. Wir halten immer zusammen, durch dick und dünn. Abgemacht!«
Und sie: »Ach, Salvo!«
Sie hatte aufgelegt. Eine lange Zeit stand ich da und starrte auf das Regenbogenhandy in meiner Hand. Wir Kongolesen lieben Farben. Warum hätte Gott uns sonst Gold und Diamanten, Früchte und Blumen geschenkt, wenn nicht, damit wir uns an der Buntheit freuen? Ich wanderte ziellos im Zimmer auf und ab, wie Haj, nachdem er gefoltert worden war – sah mich im Spiegel an und fragte mich, ob an mir überhaupt noch etwas war, was zu retten es lohnte. Ich setzte mich auf die Bettkante und stützte den Kopf in die Hände. Ein guter Mensch weiß, wann er sich opfern muß, pflegte Pater Michael zu sagen. Ein schlechter Mensch rettet sein Leben, aber er verliert seine Seele. Es war noch Zeit, nicht viel, aber genug. Genug für einen allerletzten Versuch. Aber ich mußte sofort handeln, solange Hannah noch in Bognor war.