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Als ich, nur in Unterwäsche gekleidet, zur üblichen frühen Stunde mit einem Ruck aus dem Schlaf fuhr, drehte ich mich aus alter Gewohnheit auf die rechte Seite, um mich in der »Löffelchenposition« an Penelope zu schmiegen, doch wie so oft mußte ich feststellen, daß sie von einem nächtlichen Einsatz noch nicht zurück war. Beim zweiten Aufwachen sah ich schon klarer, nämlich, daß ich im Bett eines verstorbenen weißen Verwandten lag, dessen bärtige Züge aus einem viktorianischen Zierrahmen von der Wand über dem Marmorkamin grimmig auf mich herunterstarrten. Doch beim dritten Mal hatte ich zu meiner Freude Hannah im Arm, und so konnte ich sie, aller Geheimhaltungspflicht zum Trotz, darüber informieren, daß ich bei einer geheimen Mission mitwirkte, die dem Kongo die Demokratie bringen würde, und nur deshalb nicht bei ihr angerufen hatte.
Erst im nächsten Anlauf sah ich mich imstande, im Schein der durch den Vorhang lugenden Morgensonne mein komfortables Zimmer zu inspizieren, in dem sich das Traditionelle harmonisch mit dem Modernen verband. Es gab einen Frisiertisch mit einer altmodischen elektrischen Schreibmaschine samt A4-Papier, es gab eine Hosenpresse, es gab eine Kommode, einen Bauernschrank, einen Shaker-Schaukelstuhl, und es gab ein Teetablett mit einem Wasserkocher aus Plastik.
Auch das Bad bot keinen Grund zur Klage: beheizter Handtuchhalter, Bademantel, Dusche, Shampoo, Badeöl, Feuchttücher, alles, was das Herz begehrte. Aber keinerlei Hinweise auf meinen Aufenthaltsort. Die Toilettenartikel waren von internationalen Herstellern, ich fand keinen Brandschutzplan, keine Wäschelisten, keine Streichholzbriefchen, keine fremd klingende Willkommensnachricht der Geschäftsführung mit einer vorgedruckten, unlesbaren Unterschrift und auch keine Bibel im Nachttisch, ganz gleich in welcher Sprache.
Nach dem Duschen stellte ich mich im Bademantel an das Fenster mit seinen schweren Granitlaibungen und vertiefte mich in die Aussicht. Das erste, was ich sah, war eine honigfarbene Schleiereule mit ausgebreiteten Flügeln, bis auf die äußersten Spitzen der Federn vollkommen reglos. Ein erfreulicher Anblick, aber da Vögel kein Nationenkennzeichen haben, kein sehr hilfreicher. Links und rechts von mir erhoben sich baumlose Hänge mit olivgrünen Weiden, dazwischen glitzerte silbern das Meer, an dessen fernem Horizont ich den Umriß eines Containerschiffes mit unbekanntem Ziel voraus ausmachte, und näher am Ufer eine Schar möwenumkreister kleiner Fischerboote, aber so angestrengt ich auch spähte, ich konnte an ihnen keine Flagge erkennen. Eine Straße war nirgends in Sicht, nur der kurvenreiche Feldweg, über den wir am Vorabend hergerumpelt waren. Auch von unserem Landeplatz war nichts zu sehen, nicht einmal ein Windsack oder eine Antenne. Aus dem Stand der Sonne schloß ich, daß ich nach Norden blickte, und aus dem Laub der jungen Bäume, die am Wasser wuchsen, daß der Wind vorherrschend von Westen wehte. Auf einer grasigen Anhöhe näher beim Haus stand ein Pavillon oder Gartenhäuschen im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, östlich davon die Ruine eines Kirchleins und ein Friedhof, in dessen einer Ecke etwas aufragte, was wie ein keltisches Kreuz aussah, aber genausogut ein Kriegerdenkmal oder das Monument eines verblichenen Würdenträgers hätte sein können.
Als ich wieder zum Pavillon schaute, erblickte ich zu meiner Überraschung einen Mann, der auf einer lang ausgefahrenen Leiter stand. Eben war er noch nicht da gewesen, er mußte wohl hinter einer Säule hervorgekommen sein. Neben ihm auf dem Boden stand ein schwarzer Kasten, ähnlich denen, die mit uns im Flugzeug gewesen waren. Sein Inhalt blieb mir verborgen, da der Deckel zu mir hin aufgeklappt war. Ob der Mann etwas reparierte? Und wenn ja, was? Und warum zu dieser frühen Stunde?
Einmal neugierig geworden, entdeckte ich noch zwei weitere Männer, die ebenfalls Rätselhaftes trieben: Einer lag vor einem Wasser- oder Stromanschluß auf den Knien, der andere erklomm gerade einen Telegraphenmast, wofür er offenbar weder Seil noch Leiter benötigte – ein Kunststück, durch das er ganz nebenbei Penelopes Privattrainer, der sich für Tarzan persönlich hält, mühelos in den ihm gebührenden Schatten stellte. Und diesen zweiten Mann, das wurde mir Sekunden später klar, kannte ich, nicht nur vom Sehen, sondern mit Namen. Er war noch nicht ganz oben angekommen, da hatte ich ihn bereits als meinen gesprächigen neuen Waliser Freund identifiziert, Spider, den Proviantmeister des Teams und Chatroom-Veteranen.
Im Nu stand mein Plan fest. Unter dem Vorwand, vor dem Frühstück einen kleinen Spaziergang machen zu wollen, würde ich Spider in ein Gespräch verwickeln und mir anschließend auf dem Friedhof die Inschriften der Grabsteine ansehen, um die Landessprache und unseren Aufenthaltsort zu bestimmen. Ich zog meine graue Sträflingshose und das Tweedsakko an, nahm die zu engen Schuhe in die Hand und schlich mich über die Haupttreppe nach unten zur Haustür. Die aber war, wie ich sogleich feststellen mußte, abgeschlossen, genau wie alle anderen Türen und Fenster, bei denen ich mein Glück versuchte. Doch damit nicht genug: Durch eines der Fenster entdeckte ich nicht weniger als drei ausgebeulte Anoraks, die rings um das Haus Wache standen.
Bei dem Anblick meldeten sich zugegebenermaßen all die Ängste zurück, die der Gedanke, Maxies ganz speziellen Anforderungen genügen zu müssen, in mir aufgerührt hatte und die trotz aller Entschlossenheit, meinen Beitrag zu der großen Sache zu leisten, in der Nacht immer wieder meinen Schlaf gestört hatten. Besonders ein Traum fiel mir wieder ein, in dem ich im tiefen Wasser schnorchelte. In meiner Taucherbrille stieg das Wasser immer höher. Wenn ich nicht aufwachte, würde es bis ganz nach oben steigen, und ich würde ertrinken. Um mich abzulenken und die negativen Gedanken abzuschütteln, beschloß ich, die Räume im Erdgeschoß zu erkunden und mich bei der Gelegenheit schon einmal mit dem Schauplatz meines bevorstehenden Martyriums vertraut zu machen.
Als ehemaliges Herrenhaus, für das ich das Gebäude hielt, besaß es auf der Gartenseite eine Reihe von Durchgangszimmern, deren Terrassentüren auf eine ebene Rasenfläche hinausgingen. Von dort führte eine breite Steintreppe zu dem Säulenpavillon auf dem Hügel hinauf. Nachdem ich mich vorsorglich nach den Anoraks umgeblickt und behutsam die Tür zum ersten Raum geöffnet hatte, fand ich mich in einer ansehnlichen Bibliothek in Wegdewood-Blau mit eingebauten Bücherschränken aus Mahagoni wieder. Ich drückte die Nase gegen die Glastüren, weil ich mir von den Büchern dahinter einen Hinweis auf ihren Besitzer erhoffte, sah aber nur einheitliche Ausgaben der großen Weltschriftsteller in der jeweiligen Originalsprache: Dickens auf Englisch, Balzac auf Französisch, Goethe auf Deutsch und Dante auf Italienisch. Als ich versuchte, die Türen zu öffnen, um womöglich in dem einen oder anderen Band ein Exlibris oder eine Widmung zu finden, waren sie verschlossen, oben wie unten.
An die Bibliothek schloß sich ein holzgetäfeltes Billardzimmer an. Der Tisch, dem Anschein nach eine Dreiviertelgröße, hatte keine Taschen, was auf Frankreich oder ein anderes kontinentaleuropäisches Land hindeutete, aber das Zählwerk aus Mahagoni stammte von Burroughes of London. Der dritte Raum war ein herrschaftlicher Salon mit vergoldeten Spiegeln und einer teilvergoldeten Bronzeuhr, die weder die britische noch die kontinentale Zeit anzeigte, sondern stramm um Punkt zwölf Uhr stehengeblieben war. Auf einer Konsole aus Marmor und Messing lag eine verlockende Auswahl an Zeitschriften bereit, von der französischen Marie Claire über den T a t l e r bis zum Schweizer Du. Während ich sie noch durchsah, vernahm ich plötzlich aus dem benachbarten vierten Raum einen unterdrückten französischen Fluch. Die Verbindungstür war nur angelehnt. Ich huschte über das blanke Parkett und spähte hinein. Es war ein Spielzimmer. In der Mitte stand ein ovaler, mit grünem Tuch bespannter Kartentisch, um ihn herum acht bequeme Stühle mit breiten hölzernen Armlehnen. Am entfernten Ende saß, kerzengerade hinter einem Computerbildschirm verschanzt, Monsieur Jasper ohne die Baskenmütze, aber dafür mit Tonsur, und tippte im Zweifingersystem vor sich hin. Die rötlichen Stoppeln, die über Nacht in seinem langen Gesicht gesprossen waren, verliehen ihm das Aussehen eines Meisterdetektivs. Er faßte mich ins Auge und musterte mich streng.
»Warum spionieren Sie mir nach?« fragte er schließlich auf Französisch.
»Ich spioniere Ihnen nicht nach.«
»Und warum haben Sie dann Ihre Schuhe nicht an?«
»Weil sie nicht passen.«
»Sie haben sie gestohlen?«
»Geliehen.«
»Sie sind Marokkaner?«
»Brite.«
»Warum sprechen Sie dann Französisch wie ein piednoir?«
»Ich bin in Äquatorialafrika aufgewachsen. Mein Vater war Ingenieur«, erwiderte ich steif. Auf das Beleidigende an seiner Bemerkung ging ich nicht ein. »Und wer sind Sie?«
»Ich komme aus Besançon. Ich bin ein französischer Provinznotar mit einer bescheidenen Kanzlei, die sich auf bestimmte technische Sphären der internationalen Rechtsprechung spezialisiert hat. Ich habe französisches und Schweizer Steuerrecht studiert. Ich bin Lehrbeauftragter an der Universität Besançon, wo ich Vorlesungen über die Vorteile von Steueroasen halte. Ich bin alleiniger Rechtsvertreter eines bestimmten anonymen Syndikats. Habe ich Ihre Frage damit zufriedenstellend beantwortet?«
Seine Ausführlichkeit war entwaffnend. Zu gern hätte ich das soeben angedeutete Bild meiner fiktiven Person noch korrigiert, doch die Vorsicht siegte. »Aber wenn Ihre Kanzlei so bescheiden ist, wie kommt es dann, daß Sie einen derart wichtigen Auftrag an Land ziehen konnten?« fragte ich.
»Ich habe eine blütenweiße Weste, ich bin ein ehrbarer Akademiker, ich praktiziere ausschließlich Zivilrecht. Ich vertrete weder Drogenhändler noch Kriminelle. Interpol hat noch nie etwas von mir gehört. Ich bewege mich streng innerhalb der Grenzen meiner Fachkompetenz. Möchten Sie zufällig auf Martinique eine Holding gründen, die handelsgerichtlich in der Schweiz eingetragen ist und sich im Besitz einer anonymen Liechtensteiner Stiftung befindet, deren Treuhänder Sie selbst sind?«
Ich lachte bedauernd.
»Möchten Sie auf Kosten des französischen Steuerzahlers schmerzlos in Konkurs gehen?«
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Aber vielleicht können Sie mir wenigstens verraten, wie man diesen vermaledeiten angelsächsischen Computer bedient. Erst verbieten sie mir, meinen Laptop mitzubringen. Dann geben sie mir einen Laptop ohne Handbuch, ohne Akzente, ohne Logik, ohne …« Doch die Liste der Unterlassungssünden war zu lang, und er endete mit einem Achselzucken astreiner gallischer Verzweiflung.
»Und woran arbeiten Sie, daß Sie überhaupt nicht ins Bett gekommen sind?« fragte ich mit einem Blick auf die Papierstapel und die leeren Kaffeebecher, die ihn umringten.
Seufzend ließ er seinen langen, hageren Körper auf dem Stuhl nach hinten sinken. »Konzessionen. Feige Konzessionen, immer wieder neue, die ganze Nacht. ›Warum geben Sie diesen Freibeutern nach?‹ frage ich sie. ›Warum sagen Sie ihnen nicht, sie sollen sich zum Teufel scheren?‹«
Und wen hatte er gefragt? Doch ich hielt mich zurück. Ein falscher Schritt, und sein Redefluß würde versiegen.
»Jaspen, sagen sie zu mir. ›Wir können es uns nicht leisten, diesen lebenswichtigen Vertrag platzen zu lassen. Die Zeit ist kostbar. Wir sind nicht das einzige Pferd am Start.‹«
»Dann setzen Sie also den Vertrag auf«, rief ich. Jetzt wußte ich es wieder: Maxie hatte als Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens einen Vertrag genannt.
»Meine Güte. Da haben Sie aber eine ziemliche Verantwortung. Das ist ja bestimmt eine hochkomplizierte Sache, oder?«
Ich hatte ihm mit meiner Frage schmeicheln wollen, aber ich erntete nur einen verächtlichen Blick.
»Der Vertrag ist nicht kompliziert, denn er ist von mir in verständlicher Sprache aufgesetzt worden. Ein Proforma-Vertrag, der nicht einklagbar ist.«
»Wie viele Parteien sind daran beteiligt?«
»Drei. Wir wissen nicht, wer sie sind, aber sie wissen es. Der Vertrag nennt die Vertragsparteien nicht und beinhaltet unspezifizierte hypothetische Eventualitäten. Wenn etwas eintritt, zieht es vielleicht etwas anderes nach sich. Wenn nicht …« Noch so ein gallisches Schulterzucken.
Vorsichtig machte ich mich daran, ihn aus der Reserve zu locken.
»Aber wenn ein Vertrag anonym ist und die hypothetischen Eventualitäten nicht spezifiziert sind und der Vertrag sowieso nicht einklagbar ist, wie kann es dann überhaupt ein Vertrag sein?«
Ein süffisantes Lächeln überzog sein Totenkopfgesicht.
»Weil dieser Vertrag nicht nur hypothetisch ist, sondern auch landwirtschaftlich.«
»Hypothetisch landwirtschaftlich?«
Das Lächeln bestätigte mir, daß dem so war.
»Wie soll das gehen? Ein Vertrag kann doch wohl nur landwirtschaftlich oder hypothetisch sein. So etwas wie eine hypothetische Kuh gibt es nicht – oder etwa doch?«
Monsieur Jasper drückte den Rücken durch, legte die Hände flach auf die grüne Tischbespannung und bedachte mich mit dem verächtlich düsteren Blick, den Anwälte für ihre minderbegüterten Mandanten auf Lager haben.
»Dann beantworten Sie mir folgende Frage«, sagte er. »Wenn ein Vertrag Menschen betrifft – sich aber namentlich nicht auf Menschen bezieht, sondern auf Kühe –, ist dieser Vertrag dann hypothetisch oder landwirtschaftlich!«
Wo er recht hatte, hatte er recht. »Und über was für eine Hypothese reden wir – im vorliegenden Fall zum Beispiel?«
»Die Hypothese ist ein Ereignis.«
»Was für ein Ereignis?«
»Ein unspezifiziertes. Vielleicht ein Todesfall.« Er reckte den knochigen Zeigefinger, um mich vor einer übereilten Schlußfolgerung zu warnen. »Vielleicht ist es aber auch ein Hochwasser oder eine Eheschließung, höhere oder menschliche Gewalt. Vielleicht ist es die Einhaltung beziehungsweise Nichteinhaltung einer Vertragsbedingung durch eine andere Partei. Das wird nicht näher ausgeführt.« Er hatte das Wort, und er würde es sich von niemandem mehr nehmen lassen, schon gar nicht von mir. »Bekannt ist, daß bei Eintritt dieses unspezifizierten Ereignisses bestimmte landwirtschaftliche Bestimmungen und Bedingungen in Kraft treten, daß bestimmte landwirtschaftliche Güter ge- und verkauft, bestimmte landwirtschaftliche Rechte übertragen und bestimmte hypothetische Anteile an bestimmten landwirtschaftlichen Erträgen an ungenannt bleibende Personen fließen werden. Aber nur in dem Fall, daß dieser Fall eintritt.«
»Aber wie ist dieses anonyme Syndikat bloß auf Sie gekommen?« hakte ich nach. »Wenn ich mir das vorstelle, Sie mit Ihrem unendlichen Fachwissen, ganz bescheiden in Besançon, wie ein Veilchen im Moose …«
Mehr Ermunterung brauchte er nicht. »Vor einem Jahr habe ich etliche Verträge für Timeshare-Ferienhäuser in Valence ausgehandelt. Ich habe mich selbst übertroffen, der Abschluß war die Krönung meiner bisherigen Karriere. Die Häuser wurden dann nicht gebaut, doch dafür konnte ich nicht haftbar gemacht werden. Meine Mandantin war eine ausländische Immobiliengesellschaft, inzwischen insolvent, mit Sitz auf den Kanalinseln.«
Es kam über mich wie eine Erleuchtung. Timeshare-Ferienhäuser in Valence. War das nicht der Skandal, der Lord Brinkley auf die Titelseiten von Penelopes Zeitung katapultiert hatte? Doch, sicher! Luftschlösser eines Lords.
»Und diese Gesellschaft ist jetzt wieder im Geschäft?« fragte ich.
»Ich hatte persönlich die Ehre, sie zu liquidieren. Die Gesellschaft existiert nicht mehr.«
»Aber die Vorstände gibt es noch.«
Er setzte seine überhebliche Miene wieder auf, falls er sie denn zwischendurch überhaupt abgelegt hatte. »Nein, denn sie haben keinen Namen. Wenn sie einen Namen haben, existieren sie. Wenn nicht, sind sie abstrakte Konzepte.« Offenbar langweilte ihn unser Gespräch, oder er war zu dem Schluß gekommen, daß wir die Grenzen des juristischen Anstands verletzten, denn er fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn und schaute mich an, als sähe er mich zum erstenmal. »Wer sind Sie? Was machen Sie hier am Ende der Welt?«
»Ich bin der Konferenzdolmetscher.«
»Welche Sprachen?«
»Swahili, Französisch und Englisch«, antwortete ich widerwillig, während in meiner Taucherbrille das Wasser wieder stieg.
»Wieviel zahlt man Ihnen?«
»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen das sagen darf.« Aber meine Eitelkeit gewann die Oberhand, ein Fehler, der mir gelegentlich unterläuft. Der Kerl hatte sich lange genug vor mir aufgespielt. Es wurde Zeit, daß er meinen wahren Wert erfuhr. »Fünftausend Dollar«, sagte ich lässig.
Er riß den Kopf hoch, den er kurz in die Hände gestützt hatte. »Fünf?«
»Ganz richtig. Fünf. Wieso?«
»Keine Pfund?«
»Dollar. Das sagte ich doch.« Sein triumphierendes Lächeln gefiel mir ganz und gar nicht.
»Ich bekomme« – jedes Wort gnadenlos betonend – »zweihunderttausend – Schweizer – Franken.« Und zum krönenden Abschluß: »Bar auf die Hand. In Hundertern. Keine großen Scheine.«
Ich war sprachlos. Warum gab es für Salvo, den Meister seltener Sprachen, die er verschweigen mußte, nur einen Bruchteil dessen, was ein hochnäsiger französischer Notar einstrich? Meine Empörung reichte weiter – viel weiter –, bis zurück zu meinen mühevollen Anfängen, als mir Mr. Osman von der WorldWide and Legal Translation Agency von jedem Honorar fünfzig Prozent abgeknöpft hatte. Doch ich beherrschte mich. Ich heuchelte Bewunderung. Schließlich war er der große Rechtsexperte und ich nur ein popeliger kleiner Dolmetscher.
»Wissen Sie vielleicht, wo diese verwünschte Insel liegt?« fragte er, indem er sich wieder über den Laptop beugte.
Was ich verneinen mußte – ob verwünscht oder nicht.
»Davon war bei unserer Abmachung nie die Rede. Dafür werde ich einen Erschwerniszuschlag verlangen.«
Der Gong des Herz-Jesu-Heims rief uns zum Gebet. Ich war noch nicht ganz an der Tür, da tippte Monsieur Jasper schon wieder gedankenschwer vor sich hin. Unser Gespräch, daran ließ sein Verhalten keinen Zweifel, hatte nie stattgefunden.
Von der lächelnden Janet in die Eingangshalle geleitet, spürte ich sofort, daß es mit unserem Team nicht zum Besten stand. Das Frühstücksbüfett der Extraklasse – britische Bratwürstchen, Speck und Rührei – erfreute sich bei unseren Jungs, die mit verquollenen Augen in kleinen Grüppchen beisammensaßen und Trübsal bliesen, keines besonderen Zuspruchs. An einem Tisch unterhielt sich Anton leise mit zwei ebenfalls düster blickenden Anoraks; an einem anderen stierte Benny, das riesige Kinn in die noch riesigere Pranke gestützt, blind in seine Tasse. Ich paßte mich der vorherrschenden Stimmung an, nahm mir still ein paar Scheibchen Räucherlachs und setzte mich allein an einen Tisch, um den Gang der Ereignisse abzuwarten. Ich hatte kaum den ersten Bissen gegessen, als das rasche Quietschen von Gummisohlen auf Steinfliesen das Nahen unseres Skippers Maxie ankündigte. Er trug einen vergilbten Pullover der Rudermannschaft von Oxford, knielange, ausgefranste Shorts und alte Turnschuhe ohne Socken. Die roten Flecken auf seinen jungenhaften Wangen glühten von der Morgenluft, die bebrillten Augen strahlten. Ihm dicht auf den Fersen folgte Spider.
»Entwarnung«, verkündete Maxie, sobald er das Glas frisch gepreßten Orangensaft hinuntergestürzt hatte, das Gladys ihm hinhielt. »Volltreffer an allen Fronten« – nicht weiter auf das Aufatmen ringsum achtend –, »das heißt, es läuft alles nach Plan. Philip und seine Dreierbande landen in zwei Stunden und zehn Minuten.« Philip, endlich! Philip, dem Maxie untersteht! »Uhrenvergleich …«
Tante Imeldas Uhr ging eine Minute vor. Ich stellte sie schnell zurück. Pater Michael hätte sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, daß das Geschenk, das er mir auf dem Sterbebett gemacht hatte, mir einmal derartige Dienste leisten würde.
»Majestät samt Gefolge treffen zwanzig Minuten später ein. Konferenzbeginn Punkt elf Uhr dreißig, Pinkelpausen werden von Philip ad hoc angesetzt. Lunchbüfett für die Delegierten – nur für die Delegierten – um vierzehn Uhr fünfzehn, immer vorausgesetzt, Philip gibt sein Okay und wir haben den größten Teil der Arbeit bis dahin hinter uns. Und bitte immer schön locker bleiben, daß mir ja keiner Krisenstimmung verbreitet. So hat er es geplant, und so werden wir es machen. Der Wetterbericht ist erste Sahne, ideale Bedingungen für Frischluftaktivitäten. Abpfiff allerspätestens um siebzehn Uhr dreißig. Janet. Ein Rauchen-verboten-Schild in den Konferenzraum, bitte. Und zwar ein großes. Sinclair, ich brauche Sie. Wo zum Henker steckt Sinclair?«
Zeit für Teil zwei meiner Geheimbefehle.