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Von meiner heutigen Warte aus ist es mir schlicht ein Rätsel, daß ich mich an diesem Abend, als ich Bridget die Treppe hinunter und hinaus auf die South Audley Street folgte, gewandet wie ein Oberlehrer aus der Provinz und mit nichts an der Hand als ein paar gefälschten Visitenkarten und der Aussicht auf ungeahnte Gefahren, für den größten Glückspilz von London, wenn nicht von ganz England hielt, für den unerschrockensten Patrioten und geheimsten Geheimagenten, doch genau so war es.
Fram hieß das Schiff des berühmten Polarforschers Nansen, eines der Helden aus Pater Michaels Pantheon großer Männer. Fram, das ist norwegisch für vorwärts, Fram, so hätte das Motto meines seligen Vaters lauten können, als er auf seinem Ketzerfahrrad über die Pyrenäen gestrampelt war – und Fram lautete nolens volens auch mein Motto, seit ich von dem »Ruf aus der Höhe« ereilt worden war, wie Pater Michael es in anderem Zusammenhang genannt hatte. Vo r w ä r t s , während ich mich für die mir bevorstehende Entscheidung wappnete, vorwärts in den lautlosen Krieg, den mein Land gegen die Schurken in natura führte, vorwärts und fort von Penelope, die mir lange schon fremd geworden war, vorwärts auf den schimmernd hellen Pfad zurück zu einem Leben mit Hannah. Und vorwärts nicht zuletzt zu Maxie, meinem geheimnisvollen neuen Herrn, und zu Philip, dem noch geheimnisvolleren Berater.
Angesichts der extremen Eile und Brisanz unserer Operation hätte ich angenommen, daß Fred, unser weißer Fahrer; schon mit heißlaufendem Motor vor der Tür warten würde, doch Bridget versicherte mir, bei den derzeitigen Verkehrsstaus plus der Polizeiabsperrung am Marble Arch kämen wir zu Fuß schneller ans Ziel.
»Das macht Ihnen doch nichts aus, Salv?« fragte sie und hakte sich bei mir unter, entweder aus Angst, ich könnte ihr weglaufen – nichts lag mir ferner –, oder weil sie zu dem Typ Mensch gehörte, der einem immerfort die Wange tätschelt oder den Rücken rubbelt, bis man – beziehungsweise ich – gar nicht mehr weiß, ob man es nun mit tätiger Nächstenliebe zu tun hat oder mit einer Einladung ins Bett.
»Um Gottes willen, nein!« beteuerte ich. »Doch nicht an so einem herrlichen Abend! Aber könnte ich mir vielleicht kurz Ihr Handy ausborgen? Nicht daß Penelope meine Nachricht übersieht …«
»Geht nicht, leider. Das ist gegen die Vorschriften.«
Hatte ich eine Ahnung, wohin wir gingen? Erkundigte ich mich danach? Nein. Das Leben eines Geheimagenten ist eine einzige Reise ins Ungewisse, das Leben eines heimlichen Liebhabers desgleichen. Bridget bestimmte das Tempo, ich trottete in meinen Secondhand-Schuhen, die mir die Knöchel wundrieben, brav nebenher. Im Schein der Abendsonne hob sich meine Stimmung immer mehr, wozu unbewußt auch Bridget beitragen mochte, die sich meinen rechten Arm unter ihre – dem Gefühl nach halterlose – linke Brust geschmiegt hatte. Von dem Licht, das Hannah in mein Leben gebracht hatte, bekamen offenbar auch andere Frauen ein paar Strahlen ab.
»Sie lieben sie echt, hm?« sinnierte sie, während sie mich durch eine Gruppe von Nachtschwärmern steuerte. »Die meisten Ehepaare, die ich kenne, liegen sich andauernd in den Haaren. Grauenhaft. Aber bei Penelope und Ihnen ist das ja scheint’s anders? Das muß wunderbar sein.«
Ihr Ohr war nur eine gute Handbreit von meinen Lippen entfernt, und sie duftete nach Je Reviens, seines Zeichens die Lieblingswaffe von Penelopes jüngerer Schwester Gail. Gail, Augenstern ihres Vaters, hatte einen Parkhausbesitzer aus niederem Adel geehelicht. Aus Rache an der Schwester und den Eltern hatte Penelope mich geheiratet. Dennoch, um zu erklären, was ich als nächstes tat, brauchte es ein ganzes Jesuitentribunal.
Denn warum sollte ein frischgebackener Ehebrecher, nur wenige Stunden nachdem er sich erstmals in seiner fünfjährigen Partnerschaft mit Körper, Seele und seiner ganzen Vergangenheit einer anderen hingegeben hat, den unwiderstehlichen Drang verspüren, seine betrogene Frau in den Himmel zu heben? Um ihr Bild, das er besudelt hat, wieder reinzuwaschen? Oder das Bild seiner selbst – vor dem Sündenfall? Holte mich inmitten meiner Euphorie meine katholische Dauerschuld wieder ein? Waren meine Hymnen auf Penelope in Wahrheit Hymnen auf Hannah, die ich für mich behalten mußte, um meine Tarnung nicht auffliegen zu lassen?
Ich war fest entschlossen gewesen, Bridget über meine neuen Auftraggeber auszuhorchen und durch listige Fragen mehr über die Zusammensetzung des anonymen Syndikats sowie über seine Verbindung zu den vielen geheimen Organen des britischen Staates zu erfahren, die sich, vor den neugierigen Blicken der Normalsterblichen verborgen, Tag und Nacht zu unserem Schutze abrackern. Doch was tat ich, während wir uns durch den fast stehenden Verkehr schlängelten? Ich stimmte aus voller Kehle einen Lobgesang auf meine Frau Penelope an, die attraktivste, aufregendste, gebildetste und treueste Partnerin, die sich ein Spitzendolmetscher und Geheimsoldat im Dienste der Krone nur wünschen konnte, dazu eine begnadete Journalistin, knallhart und doch menschlich, und eine phantastische Köchin obendrein – was ans Absurde grenzte, wenn man bedachte, wer bei uns zu Hause den Kochlöffel schwang. Natürlich schwärmte ich nicht nur, so unklug war ich nicht. Wer sich in weiblicher Begleitung durch die Rush-hour kämpft, muß auch ein klein wenig auf die negativen Seiten seiner Frau eingehen, sonst steht er über kurz oder lang alleine da.
»Und wie hat sich dieses Traumpaar gefunden? Können Sie mir das mal verraten?« sagte Bridget in dem melancholischen Ton eines Menschen, der allen Anweisungen auf der Packung gefolgt und trotzdem gescheitert ist.
»Bridget«, antwortete eine fremde Stimme in mir, »das kam so.«
* * *
In Salvos kleiner Junggesellenbude in Ealing ist es acht Uhr abends, erzähle ich ihr, während wir Arm in Arm an einer Fußgängerampel warten. Mr. Amadeus Osman von der WorldWide and Legal Translation Agency ruft mich aus seinem muffigen Kabuff in der Tottenham Court Road an: Ich möge mich unverzüglich zur Canary Wharf begeben, wo mich eine unserer großen Tageszeitungen für meine Dienste fürstlich entlohnen will. Ich bin ein Berufsanfänger, der zu kämpfen hat, und gehöre zu fünfzig Prozent Mr. Osman.
Eine Stunde später sitze ich in der feudalen Redaktion der Zeitung, zu meiner Rechten der Redakteur – und zu meiner Linken seine wohlgestalte Topreporterin. Uns gegenüber hockt ihr Informant, ein bärtiger afro-arabischer Handelsmatrose, der für eine Summe, wie ich sie in einem Jahr verdiene, einen Ring korrupter Zoll- und Polizeibeamter im Liverpooler Hafen ans Messer liefern will. Er spricht nur spärliche Brocken Englisch, denn seine Muttersprache ist ein klassisches, tansanisch gefärbtes Swahili. Unsere Topkriminalreporterin und ihr Redakteur stecken in der typischen Zwickmühle des Enthüllungsjournalisten: entweder die Quelle auf Herz und Nieren überprüfen und damit die Story aufs Spiel setzen oder sich dem Informanten auf Treu und Glauben ausliefern und eine saftige Verleumdungsklage riskieren.
Mit Penelopes Einverständnis übernehme ich die Gesprächsleitung. Während sich ein munteres Frage-und-Antwort-Spiel entspinnt, verändert und ergänzt unser Informant seine Geschichte, fügt neue Elemente hinzu, nimmt alte zurück. Ich zwinge den Schurken,
sich zu wiederholen. Ich weise ihn so lange auf die zahlreichen Diskrepanzen hin, bis er mürbe wird und alles zugibt. Er ist ein Betrüger, ein Märchenerzähler. Fünfzig Pfund, und wir sind ihn los. Der Redakteur fließt fast über vor Dankbarkeit. Ich habe sie nicht nur vor einer Blamage bewahrt, jubelt er, sondern auch vor empfindlichen Schadensersatzforderungen. Und nachdem Penelope die Schmach überwunden hat, meint sie, daß sie mir einen großen Drink schuldet.
»Die Leute stellen sich einen Dolmetscher gern als gelehrsames Männlein mit Brille vor«, erklärte ich Bridget bescheiden und ging mit einem Lachen über das starke und, rückblickend betrachtet, etwas zu offensichtliche Interesse an meiner Person hinweg, das Penelope vom ersten Moment an bekundete. »Diese Erwartung konnte ich anscheinend nicht erfüllen.«
»Oder sie war einfach bloß hin und weg«, vermutete Bridget und drückte meine Hand fester.
Ob ich Bridget den Rest auch erzählte? Sie in Ermangelung Hannahs zu meiner Ersatzbeichtmutter machte? Ihr anvertraute, daß ich, als ich Penelope kennenlernte, mit meinen dreiundzwanzig Jahren noch Jungfrau war, nach außen hin der schmucke Dandy, aber hinter der sorgsam konstruierten Fassade mit einem ganzen Komplex von Komplexen behaftet? Daß mich die Zuwendung von Pater Michael und zuvor schon von Père André in ein sexuelles Zwielicht gerückt hatte, aus dem ich mich nicht mehr hervorwagte? Daß sich die Schuldgefühle meines seligen Vaters hinsichtlich seiner späten Sinnenfreuden vollständig und ohne Abstriche auf den Sohn übertragen hatten?
Wie sehr mir, als wir im Taxi zu Penelopes Wohnung fuhren, in meiner Scheu vor dem Moment graute, da sie meine Unzulänglichkeit ans Licht bringen würde? Und wie dann dank ihres Könnens und Mikromanagements alles doch ein gutes Ende nahm, ein extrem gutes sogar, ein besseres, als sie es sich je hätte vorstellen können, wie sie mir hinterher versicherte: mir, Salvo, ihrem Traumhengst – ihrem besten Pferd im Stall, wie sie hätte hinzufügen können –, ihrem Alphamann plus? (Oder, wie sie es später ihrer Freundin Paula erzählte, als sie sich unbelauscht glaubten, ihrem Schokosoldaten, der immer so brav vor ihr strammstand?) Und wie ihr Salvo – so überwältigt von Dankbarkeit und seinen neuentdeckten Talenten als unersättlicher Matratzenakrobat, daß er sexuelle Höchstleistungen mit der großen Liebe verwechselte – in seiner üblichen Impulsivität und Naivität nur eine Kalenderwoche später einen Heiratsantrag machte, der auf der Stelle angenommen wurde? Nein. Gnädigerweise gelang es mir, mich wenigstens in diesem Punkt zurückzuhalten. Und ich behielt auch für mich, welchen Preis ich seitdem jahrein, jahraus für diese dringend benötigte Therapie bezahlte – aber nur deshalb, weil wir inzwischen das Connaught Hotel passiert hatten und in den oberen Teil des Berkeley Square einbogen.
* * *
Während ich, mitgerissen von meinen Gefühlen, noch davon überzeugt war, daß wir einfach immer weitergehen würden, bis Piccadilly und vielleicht darüber hinaus, zog Bridget mich plötzlich energisch nach links, eine Treppe hinauf zu einer imposanten Eingangstür. Ehe ich auch nur die Hausnummer erkennen konnte, fiel die Tür auch schon hinter uns ins Schloß, und da waren wir, in einem Vestibül mit Samtvorhängen und zwei identisch aussehenden blonden Jüngelchen. Da ich mich an kein Läuten oder Anklopfen von seiten Bridgets erinnere, nehme ich an, daß die beiden auf ihrem Videoüberwachungsschirm nach uns ausgespäht hatten. Ich weiß noch, daß sie graue Flanellhosen trugen, genau wie ich, und Blazer, die von oben bis unten durchgeknöpft waren. Und ich weiß, daß ich mich fragte, ob das wohl in der Welt, in der sie sich bewegten, Vorschrift war und ob ich die Knöpfe meines Tweedsakkos nicht besser auch schließen sollte.
»Skipper verspätet sich«, sagte der sitzende Knabe zu Bridget, ohne den Blick von dem Schwarzweißbild der Tür zu wenden, durch die wir gerade gekommen waren. »Aber er ist unterwegs, okay? Viertelstunde, höchstens. Wollen Sie ihn bloß abliefern oder warten?«
»Warten«, sagte Bridget.
Der Knabe streckte die Hand nach meiner Tasche aus. Auf Bridgets Nicken hin übergab ich sie ihm.
Die prächtige Halle, in die wir traten, wurde von einer Kuppel mit einem Deckengemälde überwölbt, weiße Nymphen und weiße Babys, die Trompete spielten. Eine majestätische Treppe teilte sich auf halber Höhe und schwang sich zu einer Galerie mit mehreren geschlossenen Türen empor. An ihrem Fuß wurde sie von zwei weiteren Türen eingerahmt, groß und imposant, darüber goldene Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Bei der rechten versperrte eine zwischen Messinghaken gespannte Seidenkordel den Zugang. Solange ich da war, ging niemand durch sie hindurch. An der linken prangte ein rotes Leuchtschild: Konferenz Ruhe Bitte, ohne Satzzeichen, wie ich gleich bemerkte, denn in Sachen Interpunktion entgeht mir so leicht nichts. Ein Pedant, dachte ich, hätte es auch als Imperativform deuten können: Konferenz, nun ruhe doch bitte! Was nur beweist, wie sehr meine Gemütsverfassung zwischen postkoital, übermütig, nervös und völlig abgedreht schwankte. Ich habe nie Drogen genommen, aber genau so stellte ich mir die Wirkung vor, und deshalb hielt ich mich mit aller Kraft an Einzelheiten fest, bevor sie sich womöglich in etwas anderes verwandelten.
Bewacht wurde die Tür von einem grauhaarigen Gorilla, den ich als Araber einstufte, mit Sicherheit älter als die beiden blonden Bürschchen zusammengenommen und mit seiner platten Nase, den hängenden Schultern und den schützend vors Gemächt gehaltenen Händen unschwer als Mitglied der Faustkämpferkaste zu erkennen. An unseren Weg die majestätische Treppe hinauf erinnere ich mich nicht. Wenn Bridget in ihrer hautengen Jeans vor mir hergegangen wäre, wüßte ich es noch, also blieb sie vermutlich neben mir. Und Bridget war nicht zum erstenmal hier. Sie kannte sich aus, sie kannte die Knaben, und den arabischen Rausschmeißer kannte sie offenbar auch, denn sie lächelte ihm zu, und er lächelte sanft und bewundernd zurück, bevor er wieder seinen stieren Boxerblick aufsetzte. Sie wußte von selbst, wo wir zu warten hatten:
auf halber Höhe der Treppe, bevor sie sich teilte, was man von unten niemals hätte erraten können.
Es gab zwei Sessel hier oben, ein Ledersofa ohne Armlehnen, dazu Hochglanzmagazine mit Angeboten für Privatinseln in der Karibik und Charteryachten inklusive Crew und Hubschrauber, Preis auf Anfrage. Bridget nahm sich eine Zeitschrift, blätterte darin und bot mir ebenfalls eine an. Doch während ich darüber phantasierte, mit was für einer Fram Hannah und ich davonsegeln würden, stellte sich mein inneres Ohr automatisch auf die dröhnenden Stimmen ein, die aus dem Konferenzsaal drangen, denn Zuhören ist das, wofür ich geschaffen und worin ich geübt bin, nicht nur dank des Trainings im Chatroom. Egal, wie es in mir aussieht, ich höre zu und ich passe auf, das ist mein Beruf. Nicht zu vergessen die Tatsache, daß ein Kind, das es nicht gibt, in einem abgelegenen Missionshaus beizeiten lernt, die Ohren zu spitzen, wenn es wissen will, was ihm als nächstes blüht.
Und während ich lauschte, nahm ich in den Räumen über uns nach und nach das an- und abschwellende Jaulen von Faxgeräten wahr, die auf Hochtouren liefen, das Schrillen allzu schnell abgewürgter Telefone und dazwischen immer wieder die gespannte Stille, wenn nichts geschah und das ganze Haus den Atem anhielt. Alle paar Minuten huschte eine junge Assistentin an uns vorbei die Treppe hinunter und drückte dem Gorilla einen Zettel in die Hand, worauf dieser die Tür einen Spalt öffnete, die Nachricht nach innen weitergab, die Tür schloß und die Hände wieder vor dem Gemächt verschränkte.
Die Stimmen aus dem Konferenzraum dröhnten unvermindert weiter. Sie gehörten Männern, wichtigen Männern, denn dies war offenbar eine Versammlung, in der jeder einzelne etwas zu sagen hatte, nicht eine Gruppe von Handlangern, die einem Wortführer lauschten. Und was sie sagten, klang zwar englisch, aber aus den Stimmen waren die unterschiedlichsten nationalen Färbungen und Sprachmelodien herauszuhören, bald indischer Subkontinent, bald Euroamerikanisch oder weißes Afrokolonialisch, so wie ich es auch von meinen hochkarätigeren Konferenzen her kannte, wo die Vortragssprache Englisch ist, die Gespräche hinter den Kulissen jedoch in den Muttersprachen der jeweiligen Delegierten geführt werden, mit den Dolmetschern als der Brücke zwischen den ringend sich bemühenden Geschöpfen Gottes.
Bei einer Stimme freilich hatte ich das Gefühl, daß sie zu mir persönlich sprach. Lupenreines Englisch, Oberschicht, mit einer Satzmelodie, der ich mich nur schwer entziehen konnte. Die einzelnen Worte verstand ich nicht, aber so fein waren meine Antennen eingestellt, so präzise arbeitete mein »drittes Ohr«, wie ich es nenne, daß ich schon nach wenigen Minuten überzeugt war, daß es sich bei dem Sprecher um einen Gentleman handelte, den ich kannte und schätzte. Während ich mir noch den Kopf zerbrach, wer der Mann war, riß mich ein Donnerschlag aus meinen Gedanken. Die Eingangstür flog auf, und herein kam kein anderer als der ausgemergelte, atemlose Mr. Julius Bogarde alias Bogey, mein ehemaliger Mathematiklehrer und Galionsfigur der unseligen Herz-Jesu-Wandertage.
Meine Verblüffung über seine Reinkarnation fiel um so größer aus, als Bogey vor zehn Jahren, während er in den Cairngorms einen Trupp verängstigter Schulkinder auf der falschen Seite einen Berg hinaufgeführt hatte, ums Leben gekommen war.
»Maxie«, hauchte Bridget vorwurfsvoll und bewundernd zugleich und sprang auf. »Sie verrückter Hund. Wer ist die Glückliche diesmal?«
Na gut, er war nicht Bogey.
Und ich möchte bezweifeln, daß Bogeys Frauenbekanntschaften, so er denn welche hatte, sich für glücklich erachtet hätten, eher im Gegenteil. Aber er hatte Bogeys schlenkernde Handgelenke, er hatte Bogeys permanenten Sturmschritt und wild entschlossenen Blick, er hatte Bogeys rotblondes Zottelhaar, das aussah wie von einem immerwährenden Wind zur Seite geblasen, und Bogeys rote Flecken oben auf den Backenknochen. Und er hatte Bogeys von der Sonne ausgebleichte khakifarbene Leinentasche, die ihm wie ein Gasmaskenbehälter aus einem alten Kriegsfilm von der Schulter schwang. Wie bei Bogey verdoppelte auch bei ihm die Brille den Umfang seiner abwesend blickenden blauen Augen, die an und aus blinkten, während er unter dem Kronleuchter hindurch auf uns zueilte. Wäre Bogey jemals nach London gefahren, was für ihn aus Prinzip nicht in Frage kam, hätte er sich für diese Expedition mit Sicherheit genau die gleiche Montur ausgesucht: einen zerknautschten, strapazierfähigen, waschbaren hellbraunen Tropenanzug, einen Fair-Isle-Pullunder und abgewetzte Wüstenstiefel.
Und hätte Bogey jemals die Prunktreppe zu unserem Freisitz erstürmen müssen, dann so und nicht anders: mit drei schwerelosen Sprüngen, daß der Gasmaskenbehälter nur so baumelte.
»Dieses Drecks-Fahrrad«, schimpfte er und gab Bridget einen flüchtigen Kuß, der ihr mehr zu bedeuten schien als ihm. »Fliegt mir doch glatt mitten im Hyde Park der Scheiß-Hinterreifen um die Ohren! Da waren ein paar Nutten, die haben sich krankgelacht. Sind Sie der Sprachguru?«
Unvermittelt hatte er einen Schwenk zu mir vollführt. Kraftausdrücke dieses Kalibers bin ich von meinen Auftraggebern sonst nicht gewohnt, zumal in Anwesenheit von Damen, aber soviel stand für mich ohnehin fest, noch ehe er mich mit Bogeys wäßrigen Augen ins Visier nahm: der Mann, der mir von Mr. Anderson als Genie auf seinem Gebiet beschrieben worden war, hatte nichts gemein mit meinen übrigen Kunden.
»Das ist Brian, Darling«, antwortete Bridget rasch an meiner Stelle, vielleicht, damit ich nicht aus Versehen etwas anderes sagte. »Brian Sinclair. Jack weiß über ihn Bescheid.«
Von unten hallte eine Männerstimme zu uns herauf, dieselbe, mit der ich mich schon angefreundet hatte.
»Maxie! Wo bleiben Sie denn, Mann? Wir brauchen Sie!«
Aber Maxie reagierte nicht, und als ich hinuntersah, war der Sprecher verschwunden.
»Sie wissen, worum es bei unserem kleinen Spaß geht, Sinclair?«
»Noch nicht, Sir.«
»Hat Anderson Ihnen das nicht gesagt, dieser Sack?«
»Darling«, protestierte Bridget.
»Er meinte, er wüßte es auch nicht, Sir.«
»Und Sie sprechen Französisch, Lingala, Swahili et cetera? Richtig?«
»Korrekt, Sir.«
»Bembe?«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Shi?«
»Kein Problem, Sir.«
»Kinyarwanda?«
»Fragen Sie ihn lieber, was er nicht spricht«, riet Bridget. »Das geht schneller.«
»Kinyarwanda habe ich gestern abend erst gedolmetscht, Sir«, antwortete ich und schickte in Gedanken Liebesgrüße an Hannah.
»Wow«, murmelte er, wobei er mich immer noch musterte, als ob ich ein Exemplar einer interessanten neuen Spezies wäre. »Wo haben Sie das alles her?«
»Mein Vater war Missionar in Afrika«, erklärte ich. Zu spät fiel mir ein, daß ich nach Mr. Andersons Willen der Sohn eines Bergbauingenieurs zu sein hatte. Um ein Haar hätte ich noch katholisch hinzugefügt, um den Rest der Geschichte nur auch gleich loszuwerden, aber Bridget durchbohrte mich mit Blicken, deshalb sparte ich es mir lieber für eine spätere Gelegenheit auf.
»Und Ihr Französisch ist hundert Pro, richtig?«
Sosehr mir der wohlwollende Ton der Befragung auch schmeichelte, mußte ich doch Einspruch erheben. »Hundert Prozent würde ich mir nie anmaßen, Sir. Ich bemühe mich um Perfektion, aber man kann sich immer noch verbessern« – was ich all meinen Auftraggebern sage, von den Mächtigsten bis zu den Unbedeutendsten, aber als ich es nun Maxie sagte, schwang für mich ein heldischer Ton darin mit.
»Mein Französisch ist nicht mal Mittelstufe«, gab er zurück. Sein verschwommener Blick ruhte unverändert auf mir. »Und Sie sind mit im Boot, ja? Fertig und bereit, aufs Ganze zu gehen?«
»Solange es zum Besten unseres Landes ist, Sir«, antwortete ich, ein Echo meiner Antwort an Mr. Anderson.
»Gut für unser Land, gut für den Kongo, gut für Afrika«, versicherte er mir.
Damit war er verschwunden, jedoch nicht, bevor ich an meinem neuen Auftraggeber nicht noch weitere interessante Details festgestellt hatte. Am linken Handgelenk trug er eine Taucheruhr, am anderen ein goldenes Gliederarmband. Die rechte Hand sah aus, als ob an ihr Kugeln abprallen könnten. Die Lippen einer Frau streiften meine Schläfe, und im ersten Moment bildete ich mir ein, es sei Hannah. Aber es war Bridget, die sich mit einem Küßchen verabschiedete. Ich weiß nicht, wie lange ich danach noch wartete. Oder auf welche Gedanken ich mich länger als zwei Sekunden konzentrieren konnte. Natürlich beschäftigten mich mein neuer Anführer und der Inhalt unseres kurzen Gesprächs. Bembe, wiederholte ich ein paarmal im stillen. Wenn ich an Bembe denke, muß ich lächeln. Immer schon. Es war die Sprache, in der wir Missionsschüler uns anschrien, draußen im roten Matsch, wenn wir im strömenden Regen Spritzfußball spielten.
Ich kann mich auch noch erinnern, daß ich mir leid tat, weil Maxie und Bridget mich gleichzeitig im Stich gelassen hatten, und einen ganz trüben Moment gab es, in dem ich mich sogar auf Penelopes Empfang zurückwünschte, worauf ich aufsprang, um Hannah anzurufen, koste es, was es wolle. Ich ging auch wirklich die Treppe hinunter – sie hatte ein auf Hochglanz poliertes Messinggeländer, das ich mit meinen verschwitzten Händen kaum anfassen mochte – und nahm gerade allen Mut zusammen, um mich unter den Augen des grauhaarigen Türstehers bis zum Vestibül vorzuwagen, als sich wie in Zeitlupe die Flügeltür des Konferenzraums öffnete und die Teilnehmer in Zweier- und Dreiergrüppchen heraustraten, bis etwa sechzehn in der Halle versammelt waren.
* * *
Ab hier bewege ich mich auf dünnem Eis. Wer sich jäh von einer Vielzahl teils prominenter Gesichter umringt sieht, macht unwillkürlich seine geistigen Schnappschüsse, und er ordnet ihnen Namen zu. Aber sind es auch die richtigen Namen? Von den zehn bis elf Weißen kann ich hier und heute zwei als hochrangige Wirtschaftsbosse aus der Londoner City identifizieren, einen dritten als ehemaligen Spindoctor aus der Downing Street, der seitdem unter die unabhängigen Berater gegangen ist, einen vierten, einen Mittsiebziger, als Finanzhai, der für seine Verdienste in den Ritterstand erhoben wurde, sowie einen fünften als einen ewigjungen Popstar und Intimus der jüngeren Royals, über den Penelopes große Tageszeitung erst vor kurzem in Zusammenhang mit einem Drogen- und Sexskandal berichtet hatte. Die Gesichter dieser fünf Männer haben sich mir unauslöschlich eingeprägt. Ich erkannte sie sofort, als sie durch die Tür traten. Sie kamen miteinander heraus und blieben beieinander stehen, keine drei Schritte von mir entfernt, so daß ich Fetzen ihres Gesprächs mitbekam.
Von den zwei Indern kannte ich keinen, habe aber seitdem den lauteren der beiden als den Gründer eines milliardenschweren Textilimperiums mit Sitz in Manchester und Madras identifiziert. Der einzige der drei Schwarzafrikaner, dem ich einen Namen hätte geben können, war der ins Exil verbannte ehemalige Finanzminister einer westafrikanischen Republik, die ich in Anbetracht meiner derzeitigen Lebensumstände lieber nicht näher benennen möchte. Wie seine beiden Begleiter schien er entspannt und verwestlicht in Kleidung und Auftreten.
Delegierte, die aus einer Konferenz kommen, sind nach meiner Erfahrung in einer von zwei Gemütsverfassungen: verärgert oder aufgekratzt. Diese Männer waren aufgekratzt, aber auch kampflustig. Sie hatten große Hoffnungen, aber auch Feinde. Ein solcher Feind war Tabby, dessen Namen der betagte Finanzhai nur knurrend über die faltigen Lippen brachte. Tabby sei ein aalglattes Arschloch, sogar nach den Maßstäben seiner Branche, erklärte er seinen indischen Zuhörern; er würde ihn mit dem größten Vergnügen bei passender Gelegenheit in die Pfanne hauen. Mit diesen flüchtigen Einblicken allerdings war es schlagartig vorbei, als aus dem Konferenzraum zwei Nachzügler kamen, Maxie und neben ihm, ebenso groß wie er, aber eleganter in Garderobe und Haltung, der Besitzer der Stimme, die zu mir gesprochen hatte, während ich auf der Treppe wartete: Lord Brinkley of the Sands, Kunstliebhaber, Unternehmer, Gesellschaftslöwe, ehemaliger Minister unter New Labour und – für mich persönlich schon immer sein größtes Plus – langjähriger Verfechter und Vertreter afrikanischer Interessen.
Und ich kann nur sagen, daß die hohe Meinung, die ich mir durch das Fernsehen und mein liebstes Medium, das Radio, über Lord Brinkley gebildet hatte, durch den ersten persönlichen Eindruck mehr als bestätigt wurde. Die klaren Gesichtszüge, das energische Kinn und die fliegende Mähne spiegelten genau jene visionäre Entschlossenheit wider, die ich von jeher mit ihm assoziierte. Hatte ich ihn nicht oft genug bejubelt, wenn er den Westen für seine Gleichgültigkeit gegenüber Afrika ins Gebet nahm? Wenn Männer wie Maxie und Lord Brinkley sich für ein hochgeheimes prokongolesisches Unternehmen engagierten – Seite an Seite, so wie sie jetzt auch auf mich zukamen –, durfte ich mich wahrlich geehrt fühlen, meinen kleinen Beitrag dazu leisten zu dürfen!
Meine Wertschätzung für Lord Brinkley hatte auch einen persönlichen Grund, und dieser Grund hieß Penelope. Respektvoll am Rand des Geschehens postiert, dachte ich zurück an das rekordverdächtige Schmerzensgeld, das Sir Jack, wie er damals noch hieß, wegen haltloser Unterstellungen bezüglich seines Finanzgebarens gegen ihre große Tageszeitung erstritten hatte, und an den Schatten, den sein Triumph damals auf unser häusliches Glück warf, denn natürlich mußte Penelope halsstarrig die unverletzliche Freiheit der Presse verteidigen, jeden mit Dreck zu bewerfen, der sich gerade anbot, während Salvo ebenso halsstarrig für Sir Jack Partei ergriff, aus Anerkennung für dessen aufrichtige Sympathie für Afrika und die Afrikaner, und für seine Entschlossenheit, den Kontinent vom dreifachen Fluch der Ausbeutung, Korruption und Krankheit zu befreien, um ihm dadurch die wirtschaftliche Geltung zu verschaffen, die ihm gebührte.
So groß war meine Entrüstung gewesen, daß ich Lord Brinkley hinter Penelopes Rücken in einem privaten, vertraulichen Brief meine Unterstützung bekundete, auf den er mir freundlich zurückschrieb. Und dieses Gefühl der persönlichen Verbundenheit – gemischt wohl auch mit einer Prise Besitzerstolz des loyalen Anhängers – war es, was mir nun doch den Mut verlieh, hervorzutreten aus meinem Schatten und ihn direkt anzusprechen, von Mann zu Mann.
»Entschuldigen Sie bitte, Sir« – immerhin hatte ich daran gedacht, daß dies eine anonyme Operation war, weshalb ich ihn bewußt nicht, wie ich es sonst sicher getan hätte, mit »Lord Brinkley«, »Mylord« oder »Eure Lordschaft« anredete.
Mit einem Ruck blieb er stehen, Maxie ebenso. Sie schienen sich nicht ganz schlüssig, welchen Sir ich meinte, darum baute ich mich gezielt vor Lord Brinkley auf. Anders als Maxie, der sich mit einem Urteil über meine Dreistigkeit sichtlich zurückhielt, lächelte er mich freundlich an. Bei meiner Hautfarbe wird man von einer bestimmten Sorte Mitmensch typischerweise mit einem Doppellächeln bedacht: zuerst dem automatischen, dann dem übertriebenen des weißen Liberalen. Aber Lord Brinkleys Lächeln war ein spontaner, unmittelbarer Ausdruck des Wohlwollens.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich sehr stolz bin, Sir«, sagte ich.
Um ein Haar hätte ich noch hinzugefügt, daß Hannah ebenso stolz gewesen wäre, wenn sie eine Ahnung gehabt hätte, aber ich beherrschte mich.
»Stolz? Worauf stolz, mein junger Freund?«
»Daß ich mit an Bord bin, Sir. Daß ich für Sie arbeiten darf, in welcher Form auch immer. Mein Name ist Sinclair, Sir. Der Dolmetscher, den Mr. Anderson geschickt hat. Französisch, Swahili, Lingala und kleinere afrikanische Sprachen.«
Das freundliche Lächeln blieb ungetrübt.
»Anderson?« Er schien sein Gedächtnis zu durchforsten. »Sagt mir nichts. Tut mir leid. Wahrscheinlich ein Freund von Maxie.«
Das überraschte mich, denn natürlich war ich davon ausgegangen, den Jack vor mir zu haben, mit dem Mr. Anderson telefoniert hatte – offensichtlich zu Unrecht. Lord Brinkley reckte sein edles Löwenhaupt; in einem der Zimmer mußte jemand nach ihm gerufen haben, auch wenn ich nichts gehört hatte.
»Bin gleich bei Ihnen, Marcel. Konferenzschaltung um Mitternacht, da will ich euch drei dabeihaben, für den letzten Feinschliff. Nicht daß dieser Mistkerl Tabby es in letzter Minute noch mal spannend macht.«
Er eilte davon. Maxie betrachtete mich mit leisem Spott. Aber ich hatte nur Augen für Brinkley, der die drei Afrikaner elegant in seine Arme zog: ein Meister der Überzeugungskraft, ganz gleich in welcher Sprache, das sah ich ihren strahlenden Mienen an.
»Alles in Ordnung, alter Junge?« fragte Maxie, und seine Bogey-Augen blickten leicht belustigt dabei.
»Schon, Sir. Ich frage mich nur, ob ich nicht etwas anmaßend war.«
Worauf Maxie in dröhnendes Gelächter ausbrach und mir mit seiner kugelsicheren Pranke auf die Schulter schlug.
»Sie waren einmalig. Haben ihm den Schock seines Lebens verpaßt. Haben Sie eine Tasche? Wo ist Ihre Tasche? Vorne? Dann marsch.«
Mit nicht mehr als dem allerflüchtigsten Nicken für seine illustren Freunde bugsierte er mich durch das Gedränge ins Vestibül, wo mir einer der blonden Knaben bereits die Reisetasche hinhielt. Am Straßenrand parkte ein Van mit schwarzen Scheiben und offenen Türen, auf dem Dach ein rotierendes Blaulicht, hinterm Steuer ein nichtuniformierter Fahrer. Neben dem Wagen ein drahtiger kleiner Mann mit Bürstenschnitt, der schon auf uns wartete, auf dem Rücksitz ein Riese mit grauem Pferdeschwanz und Lederjacke. Der Bürstenschnitt verfrachtete mich zu dem Pferdeschwanz auf die Rückbank, stieg ein und knallte die Tür zu. Maxie schmiß sich auf den Beifahrersitz. Kaum saß er, da kamen auch schon zwei Polizisten auf Motorrädern aus der Mount Street auf den Platz gebraust, unser Fahrer gab Gas und reihte sich zügig hinter ihnen ein.
Aber einen Blick zurück über die Schulter warf ich doch noch – meine Standardreaktion, wenn ich unter Druck stehe. Ich soll in die eine Richtung sehen? Prompt sehe ich in die andere! Ich drehte mich um und prägte mir durch das staubig verschmierte Rückfenster das Haus ein, das wir soeben verlassen hatten. Ich sah drei oder vier Stufen, die zu einer dunkelblauen oder vielleicht schwarzen geschlossenen Tür führten. Ich sah zwei große Überwachungskameras in einigem Abstand darüber. Ich sah eine flache georgianische Backsteinfassade mit weiß gestrichenen Schiebefenstern und heruntergelassenen Rollos. Ich sah nach der Hausnummer und fand keine. Dann war das Haus verschwunden – aber man sage mir nicht, es habe nie existiert! Es war da, und ich habe es gesehen. Ich bin durch seine Pforten geschritten, ich habe meinem Helden Jack Brinkley die Hand gegeben und ihm, laut Maxie, den Schock seines Lebens verpaßt.
* * *
Kam Salvo, unser Agentennovize, nicht fast um vor Angst, als er in halsbrecherischem Tempo durch den zähen Freitagabendverkehr des terrorgeplagten London chauffiert wurde, in Begleitung von Männern, die er nicht kannte, Gefahren entgegen, von denen er noch keinerlei Begriff hatte? Ganz und gar nicht. Er zog aus, um seinen Auftraggebern zu dienen, Gutes zu tun für sein Land, den Kongo, für Mr. Anderson und Hannah. Bei welcher Gelegenheit mir unsere Nachbarin Paula einfällt, Penelopes Vertraute und, wenn man mich fragt, eine Wölfin im Schafspelz, die an einem kanadischen Provinzcollege Psychologie studiert hat und in Ermangelung zahlender Patienten ihre Künste an jedem ausprobiert, der unvorsichtig genug ist, sich in ihre Nähe zu verirren – weshalb sie mich, nachdem sie sich eine gute halbe Flasche von meinem Rioja genehmigt hatte, einmal davon in Kenntnis setzte, daß es mir, von meinen anderen Unzulänglichkeiten ganz zu schweigen, an Raubtierinstinkt gebreche.
Wir saßen zu fünft in dem Van, der vom Berkeley Square aus in Richtung Westen davonfuhr, in rasender Fahrt immer dicht hinter unserer Polizeieskorte, in Busspuren, über rote Ampeln, auf der falschen Seite um Verkehrsinseln herum, doch die Stimmung im Wagen war so entspannt wie bei einer sonntäglichen Bootspartie. Der Zivilfahrer, dessen Silhouette sich gegen die Windschutzscheibe abhob, schaltete so geschmeidig von einem Gang in den anderen, daß er sich kaum zu bewegen schien. Neben ihm lümmelte sich Maxie in seinem Sitz, nicht angeschnallt. Den geöffneten Gasmaskenbehälter auf dem Schoß, konsultierte er beim Schein der Innenbeleuchtung ein angeschimmeltes Notizbuch und gab per Handy lässig eine Reihe von Anweisungen durch:
»Wo steckt Sven? Der soll seinen Arsch in Bewegung setzen und heute abend in den Flieger steigen. Bis Ende der Woche muß er sechzig Mann zusammengetrommelt haben, marschbereit. Wenn er sie von Kapstadt aus mit einer Chartermaschine rauffliegen muß, Pech gehabt. Und vor allem topfit, Harry. Alte Haudegen, aber noch nicht mit einem Fuß im Grab, kapiert? Spitzengage, voller Versicherungsschutz. Was willst du noch? Gratisnutten?«
Unterdessen machte ich mich mit meinen beiden ungleichen Gefährten bekannt. Der graue Pferdeschwanz zu meiner Rechten hieß Benny, wie er mir sagte, während er mir zur Begrüßung fast die Hand brach; er hatte den feisten Körper und das narbige Gesicht eines abgehalfterten Boxers. Ein weißer Rhodesier, hätte ich der Stimme nach gesagt. Der Bürstenschnitt zu meiner Linken war nur halb so groß wie Benny und ein waschechter Cockney, auch wenn er sich Anton nannte. Er trug ein besseres Sportsakko als ich, eine Gabardinehose mit scharfer Bügelfalte und braune Schuhe mit blankgewienerten Kappen. Welchen Respekt mir gut geputzte Schuhe einflößen, habe ich bereits erwähnt.
»Mehr Gepäck haben wir nicht, Chef?« murmelte Anton, nachdem wir uns vorgestellt hatten, und stupste mit der Schuhspitze gegen meine kunstlederne Reisetasche.
»Mehr haben wir nicht, Anton.«
»Und was ist da drin?« So wenig, wie er dabei die Lippen auseinandernahm, hätte man aus größerer Entfernung kaum erkennen können, daß er überhaupt etwas sagte.
»Persönliche Effekten, Wachtmeister«, antwortete ich keck.
»Und unter persönlich verstehen wir was, Chef?
Kassettenrecorder? Eine Neun-Millimeter-Automatik? Oder ein ganz persönliches Spitzenhöschen? Wer will heutzutage schon sagen, was persönlich ist, stimmt’s, Benj?«
»Ein ewiges Rätsel, der persönliche Aspekt«, pflichtete ihm der Riese zu meiner Rechten bei.
Maxie ließ sich derweil bei seinem rasanten Monolog nicht stören:
»Mir scheißegal, wie spät es ist. Corky hat in seinem ganzen Leben noch nicht geschlafen. Wenn er in fünf Tagen nicht fertig ist, steigt die Party eben ohne ihn. Wie wär’s mit einem Stift, oder hast du den auch noch verloren?«
Knightsbridge rauschte vorbei, dann Chelsea, wo sich, wie ich erleichtert feststellte, kein Kind an die Ufermauer klammerte. Nachdem die Motorradeskorte eine weitere rote Ampel überfahren hatte, bogen wir nach links ab, in Richtung Süden, was in meinem Kopf eine unkontrollierte Detonation auslöste. Wir fuhren über die Battersea Bridge! Wir waren nur eine gute halbe Meile von Norfolk Mansions 17, Prince of Wales Drive entfernt, von meiner Wo h n u n g , ihrer Wohnung, unserer Wohnung, kamen ihr von Sekunde zu Sekunde näher! Eine idealisierte Vision unseres Ehelebens stieg vor mir auf, ähnlich der, mit der ich Bridget zwangsbeglückt hatte. Links von mir lag unser Park, wo ich in einem der nächsten Jahre mit unserem Kind auf den Rummelplatz hatte gehen wollen! Hinter mir lag unser Fluß! Wie oft waren Penelope und ich nicht nach dem Essen, nach dem Sex, dort auf dem Treidelpfad spazierengegangen? Und da, unser Schlafzimmerfenster! Bei meiner überstürzten Umkleideaktion hatte ich vergessen, das Licht auszumachen!
Ich riß mich am Riemen. Geheimagenten im Dienste der Krone, ob Teilzeit oder Vollzeit, dürfen nicht überreagieren, nicht einmal, wenn sie von einem Donnerkeil getroffen werden. Doch als ich mein Battersea sah, mein Viertel, das mich wie einen verlorenen Sohn willkommen zu heißen schien, überkamen mich die unsinnigen Ängste aller ehebrecherischen Ersttäter: die Angst, mit nichts als einem Koffer vor die Tür gesetzt zu werden, die Angst, die Achtung der wunderbaren Frau zu verwirken, die man, wie man allzu spät erkennt, mehr als jede andere liebt und begehrt, die Angst, seine CD-Sammlung zu verlieren, die so mühsam erklommene unterste Sprosse der Immobilienleiter wieder hinunterzupurzeln und als Namenloser auf der Hampsteader Heide unter einem Busch zu verrecken.
Wir hatten die Brücke hinter uns und waren in Rufweite meiner Haustür, als die Polizeieskorte ausscherte und unser Fahrer noch einmal links abbog, eine Rampe hinunter und durch eine offene Toreinfahrt, wo der Wagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. Die Türen des Vans flogen auf, und ohrenbetäubender Motorenlärm schlug mir entgegen, ohne daß ich ihn in meiner Verwirrung gleich hätte einordnen können. Im nächsten Moment sah ich, keine dreißig Schritte von uns entfernt, glänzend unter einem Ring aus Natriumlampen, einen silberfarbenen Hubschrauber mit kreisenden Rotorblättern.
»Wo fliegen wir hin?« rief ich Anton nach, der mit einem Satz auf den Asphalt hinaussprang.
»Sie haben eine Traumreise gewonnen! London bei Nacht! Raus aus der Karre, aber zackig!«
Maxie hatte schon drei lange Schritte in Richtung Hubschrauber gemacht und wirbelte nun herum, daß ihm der Gasmaskenbehälter gegen die Hüfte schlug. Er schob Anton zur Seite und beugte sich zu mir herein.
»Ist was, alter Junge?«
»Ich wohne hier, Sir. Die Straße rauf. Keine halbe Meile. Mit meiner Frau. Heute ist ihr großer Abend«, erklärte ich. Vor lauter Aufgewühltheit hatte ich schon wieder vergessen, daß ich ja eigentlich in einem Postfach residierte.
»Wie, ihr großer Abend?«
»Ihr Empfang, Sir. Sie ist befördert worden. Sie macht Karriere. Sie ist eine Spitzenjournalistin.«
»Aha. Und wie geht’s jetzt weiter? Kommen Sie mit, oder laufen Sie nach Hause zu Mami und lassen uns im Regen stehen?«
Zu meinem Retter in der Not wurde ausgerechnet Thorne the Horn, Thorne und seine zahlreichen Vorgänger, Thorne und all die Hühnchen, die ich metaphorisch dem Abfallhäcksler überantwortet oder eben nicht überantwortet hatte. Ein Gedanke an ihn, und meine Stimmung schlug neuerlich um, Scham erfaßte mich, daß ich in einem Augenblick der Schwäche über läppischen Sentimentalitäten unser hehres Ziel aus den Augen verloren hatte. Flankiert von Benny und Anton, folgte ich Maxie zu dem wartenden Hubschrauber. Benny, der Riese, hievte mich die Stufen hinauf und durch die Türöffnung, Anton drückte mich auf einen Fensterplatz und pflanzte sich daneben. Maxie quetschte sich neben den Piloten und setzte einen Kopfhörer auf.
Plötzlich waren wir die Realität gewordene Fram. Das Kraftwerk Battersea versank unter uns im Boden und nahm den Prince of Wales Drive mit sich. Wir waren sechshundert Fuß über der wirklichen Welt, auf dem Weg nach Norden. Während wir über den Stau in der verstopften Park Lane hinwegglitten, warf ich einen Blick auf das Lord’s Cricket-Stadion, aber es wurde nicht gespielt. Mein Herz fing wild zu klopfen an, als ich das Krankenhaus erkannte, in dem ich gestern abend am Bett eines Sterbenden neu geboren worden war. Ich verrenkte mir den Hals nach ihm, bis es am Horizont verschwand. Mir kamen die Tränen, ich machte die Augen zu und muß wohl ein paar Minuten eingeschlafen sein, denn als ich wieder um mich blickte, stiegen vor uns die Lichter des Flughafens Luton auf, um uns zu verschlingen, und ich hatte nur noch den einen Wunsch, Hannah anzurufen, und wenn es das letzte war, was ich tat.
* * *
Jeder Flughafen, das weiß ich jetzt, hat eine helle und eine dunkle Seite. In der Ferne landeten und starteten ganz normale Maschinen, aber in dem abgezäunten Bereich, durch den wir liefen, war das lauteste Geräusch das Klappern meiner geborgten Schuhe. Feucht sank die Abenddämmerung herab. Vor uns lag ein grüner Schuppen, zwischen Erdwällen eingesunken, die Türen einladend geöffnet. Darin herrschte eine Stimmung wie in einer Exerzierhalle. Acht wehrtaugliche weiße Männer in Freizeitkleidung standen herum, Seesäcke vor ihren Füßen. Maxie ging von einem zum anderen, brachte hier ein Schulterklopfen an, dort einen beidhändigen afrikanischen Händedruck. Ich sah mich nach einem Münztelefon um, vergeblich. Was hätte ich auch hineinstecken sollen?
»Wo bleibt Spider, verdammt?«
»Muß jede Sekunde aufkreuzen, Skipper«, lautete Antons respektvolle Antwort. »Sein Wagen pfeift aus dem letzten Loch, sagt er.«
Ich erspähte eine Tür mit der Aufschrift Zutritt nur für Personal und ging hinein. Auch hier kein Telefon. Als ich wieder herauskam, unterhielt Maxie sich mit einem mißmutigen Mann im langen Trenchcoat und mit einer schiefsitzenden schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf, der in der Ecke stand und einen großen Aktenkoffer an sich preßte. Die beiden versuchten, sich auf Französisch zu verständigen. Das von Maxie, wie er mir schon angekündigt hatte, war schauerlich. Ob der andere womöglich der mysteriöse Philip beziehungsweise Philippe war? Ich hatte weder Zeit noch Lust, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Ein junger Mann im Trainingsanzug sammelte die Handys ein, klebte Namensschilder darauf, packte sie in einen Pappkarton und verteilte als Quittung Garderobenscheine. Mit jedem Gerät, das in dem Karton landete, sah ich meine Chancen schwinden.
Ich appellierte an Anton: »Entschuldigung, aber ich müßte ganz dringend noch mal telefonieren.«
»Nämlich mit wem, Chef?«
»Mit meiner Frau.«
»Und warum müssen wir mit unserer Frau telefonieren, wenn man fragen darf? Ich hab seit acht Jahren nicht mit meiner geredet.«
»Wir haben einen Notfall in der Familie. Ein guter Freund von uns ist krank. Sie sitzt an seinem Bett. Meine Frau. Im Krankenhaus. Pflegt ihn. Er liegt im Sterben.«
Maxie ließ seinen Franzosen stehen und mischte sich in unser Gespräch. Dem Mann entging anscheinend gar nichts.
»Und wo liegt er im Sterben, alter Junge?«
»Im Krankenhaus, Sir.«
»Was hat er?«
»Sein Blutbild ist aus dem Tritt. So komplett offenbar, daß nichts mehr zu machen ist.«
»Was für ein beschissener Tod. In welchem?«
»North London District.«
»Staatlich oder privat?«
»Staatlich. Aber teilweise privat. Raumweise. Es hat eine eigene Station für Blutkrankheiten.«
»Ich wette, er wünscht sich noch ein Jahr mehr. Wer im Sterben liegt, meint immer, er braucht noch ein Jahr. Wünscht er sich noch ein Jahr?«
»Hat er nicht gesagt, Sir. Bis jetzt jedenfalls nicht. Soviel ich weiß, zumindest.«
»Kann er schlucken?«
Mir fiel der Geruch nach Methylalkohol in Jean-Pierres Atem ein. Doch, er konnte schlucken.
»Dann soll sie ihm eine Überdosis verpassen. Eine Flasche lösliches Aspirin, da kann nichts schiefgehen. Hauptsache, sie hinterläßt keine Fingerabdrücke. Und die Flasche kann sie unter seinem Kopfkissen verstekken. Hast du dein Handy noch, Anton?«
»Am Leib, Skipper.«
»Laß ihn anrufen, dann gibst du’s ab. Keine Handys bei der Operation. Und geraucht wird auch nicht«, rief er in den Raum. »Das war eure letzte Zigarette. Kippen aus!«
»Ich hätte es gern ein bißchen privat«, sagte ich zu Anton, als Maxie uns verlassen hatte.
»Hätten wir das nicht alle gern?« antwortete er, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Ich zog das Tweedsakko aus und krempelte den linken Hemdsärmel hoch, um die Telefonnummer der Station lesen zu können, die Hannah mir mit dem Filzstift hinter ihrem Ohr auf den Unterarm geschrieben hatte. Ich wählte. »Tropenkrankheiten«, meldete sich eine Frauenstimme in jamaikanischem Singsang.
»Ja, hallo, Grace«, sagte ich munter. »Ich rufe wegen des Patienten Jean-Pierre an. Ich glaube, Hannah ist an seinem Bett. Könnte ich sie bitte sprechen?«
»Salvo?« Mein Herz machte einen Satz, aber es war immer noch Grace. »Sind Sie das, Salvo? Der Dolmetscher?«
»Ja, genau. Könnten Sie mir jetzt bitte Hannah geben?« – das Handy fest ans Ohr gepreßt, Antons wegen. »Es ist persönlich, und es eilt ein bißchen. Wären Sie so nett, sie an den Apparat zu holen? Sagen Sie ihr einfach« – um ein Haar wäre mir »Salvo« herausgerutscht –, »daß ich es bin.« Rasches Lächeln zu Anton hinüber.
Anders als Hannah lebte Grace nach afrikanischem Tempo. Je wichtiger eine Angelegenheit, desto mehr galt: Eile mit Weile. »Hannah hat zu tun, Salvo«, sagte sie schließlich vorwurfsvoll.
Zu tun? Wie? Mit wem? Ich schlug einen militärischen Maxie-Ton an.
»Trotzdem. Es dauert nur eine Minute. Es ist dringend, Grace. Sie weiß genau, worum es geht. Wenn Sie so gut wären, bitte.«
Noch eine epochale Pause, die Anton geduldig mit mir teilte.
»Geht es Ihnen gut, Salvo?«
»Danke, ja. Ist sie da?«
»Hannah ist grade bei der Oberschwester drin, Salvo. Eine ganz ernste Sache. Sie hätten es gar nicht gern, wenn ich sie störe. Probieren Sie es lieber wann anders, Salvo. Morgen vielleicht, wenn sie frei hat.«
Bei der Oberschwester? Der Halbgöttin in Weiß? Eine ganz ernste Sache? Was ? Daß sie mit verheirateten Dolmetschern schlief? Ich mußte ihr eine Nachricht hinterlassen – aber was für eine?
»Salvo?« Wieder Grace.
»Ja?«
»Ich muß Ihnen was Trauriges sagen.«
»Ja?«
»Jean-Pierre. Der alte Mann, den sie auf der Heide aufgegabelt haben. Wir haben ihn verloren, Salvo. Hannah war ganz fertig. Ich auch.«
An diesem Punkt muß ich die Augen geschlossen haben. Als ich sie wieder aufschlug, hatte Anton mir das Handy abgenommen und dem Jungen im Trainingsanzug ausgehändigt.
»So heißt Ihre Frau, hm?« fragte er. »Hannah?«
»Warum nicht?«
»Woher soll ich das wissen, Chef? Kommt ganz drauf an, wen Sie sonst noch auf Ihrem Arm stehen haben.«
Maxies Männer schulterten ihre Seesäcke und traten in die Dunkelheit hinaus. Vor uns ragte bedrohlich ein gedrungenes, namenloses Flugzeug in den Abendhimmel. Anton ging neben mir her, um den Franzosen mit der Baskenmütze kümmerte sich Benny.