5
Es ist eine bekannte Tatsache, daß am Vorabend der Schlacht die Gedanken noch des loyalsten Jungrekruten auf ungeahnte Abwege geraten können, teils bis an die Grenze zur Meuterei. Und ich will nicht leugnen, daß auch die meinigen keine Ausnahme bildeten, zumal sich unser fensterloses Fluggerät in puncto Innenausstattung, Belüftung und Beleuchtung eher für den Transport von Ausstellungshunden geeignet hätte und das Brüllen der beiden Triebwerke, nachdem sich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt hatte, eine Toncollage sämtlicher Stimmen bildete, die ich nicht hören wollte, allen voran Penelopes. Statt gepolsterter Sitze hatten wir Eisenkäfige, zum Mittelgang hin offen und mit verdreckten Gefängnismatratzen bestückt. An der Decke hingen Netze aus orangefarbenem Gurtband, und demjenigen, der den Sprung ins Unbekannte wagen mochte, standen Haltegriffe zur Verfügung. Mein einziger Trost waren Anton und Benny, die die Zellen neben mir belegten, aber Benny führte, wie es aussah, sein Haushaltsbuch, und Anton war in ein moribundes Pornoheft vertieft.
Vor dem Cockpit, für manchen das Allerheiligste eines Flugzeugs, spannte sich ein zerschlissenes Absperrband. Die beiden Piloten, mittelalt, übergewichtig und unrasiert, ignorierten ihre Passagiere so geflissentlich, daß man sich fragte, ob sie überhaupt wußten, daß sie welche an Bord hatten. Dazu die blauen Lämpchen der Gangbeleuchtung, die Erinnerungen an ein bestimmtes Nordlondoner Krankenhaus weckten: kaum verwunderlich, daß mein Tatendurst versiegte und meine Gedanken ihren Pendelverkehr zwischen Penelope und Hannah wieder aufnahmen.
Wenige Minuten nach dem Start waren die Männer allesamt von der afrikanischen Schlafkrankheit niedergestreckt worden, ihre Seesäcke als Kissen unterm Kopf. Nur Maxie und sein französischer Freund nicht. Sie hockten im hinteren Teil der Maschine und schoben sich Papierbögen hin und her, wie ein besorgtes Ehepaar, das ein bedrohliches Schreiben von der Hypothekenbank erhalten hat. Der Franzose, nunmehr ohne seine Baskenmütze, hatte eine Adlernase, stechende Augen und eine kreisrunde, von strohblondem Haar eingefaßte Tonsur. Wie ich dem wortkargen Benny entlockte, hieß er Monsieur Jasper. Ein Franzose, der Jasper hieß? Hatte es das schon mal gegeben? Aber vielleicht reiste ja auch er unter einem Decknamen.
»Soll ich vielleicht rübergehen und ihnen meine Dienste anbieten?« fragte ich Anton – die beiden mußten doch Verständigungsprobleme haben, dachte ich.
»Wenn der Skipper Ihre Dienste braucht, sagt er Ihnen schon Bescheid, Chef«, antwortete er, ohne von seinem Pornoheft aufzublicken.
Von den restlichen Mitgliedern unseres Teams kann ich, bis auf eine Ausnahme, nichts berichten. In meiner Erinnerung verschmelzen sie zu einer Gruppe verbissen dreinblickender Gestalten in ausgebeulten Anoraks und Baseballmützen, die jedesmal verstummten, wenn ich in ihre Nähe kam.
»Na, wieder Friede an der Ehefront, alter Junge? Meine Leute nennen mich übrigens Skipper.«
Ich mußte eingedöst sein, denn als ich aufsah, blickte ich aus nächster Nähe in die vergrößerten blauen Augen von Maxie, der in Araber-Manier neben mir in die Hocke gegangen war. Sogleich hellte sich meine Stimmung auf. Hatte ich nicht oft genug Pater Michael gelauscht, wenn er mir von den kriegerischen Heldentaten eines Colonel T. E. Lawrence und anderer großer Engländer erzählte? Wie durch Zauberei verwandelte sich das Innere unseres Flugzeugs in ein arabisches Nomadenzelt. Das Gurtband über uns wurde zum Dach aus Ziegenhaut. In meiner Phantasie blinzelten sogar Wüstensterne daraus hervor.
»Ehefriede wiederhergestellt, Skipper«, antwortete ich, ebenso schneidig wie er. »Aus der Ecke sind keine weiteren Probleme zu erwarten, Gott sei Dank.«
»Und Ihr kranker Freund?«
»Der hat’s leider nicht gepackt«, antwortete ich angemessen salopp.
»Arme Sau. Aber wer will schon hinter der Herde hertraben, wenn seine Zeit abgelaufen ist? Kennen Sie sich mit Napoleon aus?«
»Nicht besonders.« Ich wollte nicht gern zugeben, daß ich in meinen historischen Studien erst bei Cromwell, Our Chief of Men angelangt war.
»Spätestens bei Borodino war er im Eimer. Schlafgewandelt in Smolensk, plemplem in Borodino, mit vierzig total hinüber. Konnte nicht mehr pissen, konnte nicht mehr geradeaus denken. Das heißt, mir bleiben noch drei Jahre. Ihnen?«
»Ah, zwölf«, sagte ich. Schon erstaunlich, daß sich ein Mann, der mit Französisch nicht zurande kam, ausgerechnet Napoleon zum Vorbild genommen hatte.
»Es wird eine Blitzaktion. Hat Anderson Ihnen das gesagt?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Wir tauchen auf, palavern mit ein paar Kongolesen, handeln einen Deal mit ihnen aus, lassen sie einen Vertrag unterschreiben, tauchen wieder ab. Sechs Stunden höchstens, länger haben wir sie nicht am Wickel. Einzeln haben sie alle schon ja gesagt, jetzt müssen wir sie bloß noch dazu kriegen, daß sie auch zueinander ja sagen. Offiziell sind sie woanders, und da müssen sie auch wieder hin, bevor die Uhr Mitternacht schlägt. Kapiert?«
»Kapiert, Skipper.«
»Für Sie ist das hier eine Premiere, richtig?«
»Leider ja. Meine Feuertaufe, könnte man sagen«, gestand ich mit einem zerknirschten Lächeln, um ihm zu zeigen, daß ich mir meiner Unzulänglichkeit durchaus bewußt war. Dann konnte ich meine Neugier nicht länger zügeln: »Sie möchten mir vermutlich nicht verraten, wohin wir fliegen, Sir?«
»Auf eine kleine Insel oben im Norden, wo wir ungestört sind. Je weniger Sie wissen, desto ruhiger können Sie hinterher schlafen.« Er gestattete sich eine Art Schmunzeln. »Bei diesen Jobs ist es immer dasselbe. Erst heißt es ›Beeilung‹, dann ›Warten‹ und zuletzt: ›Wo bleiben Sie denn?‹ Und bevor du dich’s versiehst, spielen noch zehn andere Wichtigtuer mit, deine eigenen Leute sind über den ganzen Globus verstreut, und dein Hinterreifen ist im Arsch.«
Sein ruheloser Blick heftete sich auf einen Stapel kofferähnlicher schwarzer Kästen, die alle die gleiche Größe hatten und neben der Kabinentür festgezurrt waren. Auf einer Matratze davor lag, zusammengerollt wie ein neugeborenes Kälbchen, ein zwergenhafter Mann mit Schlägerkappe und Steppweste, der dem Anschein nach genauso tief und fest schlief wie seine Kameraden.
»Taugt denn der Krempel da was, Spider?« fragte Maxie, die Stimme erhoben, um sich über die Breite des Flugzeugrumpfs hinweg verständlich zu machen.
Kaum daß der Zwerg seinen Namen hörte, sprang er wie ein Akrobat auf die Füße und baute sich in komödiantischer Habachtstellung vor uns auf.
»Glaube kaum, Skip. Ein Haufen Schrott, so wie’s aussieht«, antwortete er heiter mit einem walisischen Einschlag, wie mir das Ohr des Spitzendolmetschers sogleich verriet. »Was erwartest du für dein Geld, wenn einer nur zwölf Stunden Zeit kriegt, um so ein Teil zusammenzubasteln?«
»Wie sieht’s mit Proviant aus?«
»Gute Frage, Skip. Ein anonymer Gönner hat uns freundlicherweise diesen Fortnum-Freßkorb hier spendiert. Jedenfalls gehe ich davon aus, daß er anonym bleiben will, weil das Ding keinen Absender hat, und ein Kärtchen auch nicht.«
»Und lohnt sich’s?«
»Nicht besonders, ehrlich gestanden. Ein ganzer York-Schinken. Ungefähr ein Kilo Gänseleberpastete. Ein paar Räucherlachsfilets, ein gebratenes Roastbeef, Käsestangen, eine Magnumflasche Champagner. Nichts, was so richtig Appetit macht. Ich wollt’s schon wieder zurückgehen lassen.«
»Den Korb gibt’s dann auf dem Rückflug«, schnitt Maxie ihm das Wort ab. »Sonst noch was auf der Speisekarte?«
»Chow Mein. Das beste, was man in Luton auftreiben kann. Müßte inzwischen auch schön kalt sein.«
»Her damit. Und sag unserem Sprachguru hallo. Brian heißt er. Leihgabe aus dem Chatroom.«
»Aus dem Chatroom, hm? Ja, ja, da werden Erinnerungen wach. Mr. Andersons alte Klitsche. Singt er immer noch Bariton? Nicht daß ihn in der Zwischenzeit einer kastriert hat …«
Womit Spider, wie er offensichtlich hieß, mit seinen Knopfäuglein auf mich herunterlächelte, und ich lächelte hoch zu ihm, meinem Freund Nummer zwei bei unserem großen Unternehmen.
»Und Militärausdrücke haben Sie auch drauf«, verkündete Maxie, indem er eine alte, mit khakifarbenem Stoff bezogene Trinkflasche aus Blech und ein Päckchen Bath-Oliver-Kräcker aus seinem Gasmaskenbehälter hervorholte. Wie ich später erfuhr, enthielt die Flasche Malvern Water.
»An was für Militärausdrücke dachten Sie denn, Skipper?« parierte ich.
Mein Chow Mein war zu einer kalten Pampe erstarrt, aber da ich mir keine Blöße geben wollte, würgte ich es entschlossen hinunter.
»Handfeuerwaffen, Artillerie, Feuerkraft, Kaliber, diesen ganzen Kram« – und biß in einen Kräcker.
Ich versicherte ihm, daß ich dank meiner Erfahrungen im Chatroom mit einer ganzen Palette technischer und militärischer Begriffe vertraut sei. »Aber normalerweise ist es ohnehin so, daß ein Ausdruck, für den es in der jeweiligen Landessprache keine Entsprechung gibt, einfach bei der nächstbesten Kolonialsprache abgekupfert wird«, fügte ich hinzu. Endlich war ich in meinem Element. »Was im Falle eines Ostkongolesen natürlich das Französische wäre.« Ich konnte mich nicht beherrschen. »Es sei denn, er wäre in Ruanda oder Uganda ausgebildet worden. Dann würde man auch ein paar englische Lehnwörter finden, Sniper zum Beispiel oder MG.«
Maxie legte allenfalls höfliches Interesse an den Tag. »Dann würde also ein Munyamulenge, der mit einem Bembe quatscht, von einer semi-automatique reden?«
»Falls sie sich überhaupt verständigen könnten«, entgegnete ich, darauf erpicht, ihn mit meinem Fachwissen zu beeindrucken.
»Und das heißt, alter Junge?«
»Nun, daß ein Bembe zum Beispiel Kinyarwanda spricht, aber doch nicht ganz die Brücke zum Kinyamulenge schlagen kann.«
»Und was machen sie dann?« – wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Sie müßten sich mit dem behelfen, was beide beherrschen. Jeder würde den anderen verstehen, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt.«
»Und nach diesem Punkt?«
»Müßten sie es mit ihrem Swahili oder Französisch probieren. Je nachdem, was sie gelernt haben.«
»Außer, die beiden hätten Sie dabei, hm? Sie sprechen alles.«
»In diesem Fall stimmt das«, antwortete ich bescheiden. »Aber ich würde mich natürlich nicht aufdrängen. Ich würde abwarten, was benötigt wird.«
»Die können also sprechen, was sie wollen, wir sprechen es besser. Richtig? Nicht schlecht!« Aber sein Ton ließ klar erkennen, daß er weniger zufrieden war, als seine Worte nahelegten. »Stellt sich bloß die Frage, ob wir denen das auf die Nase binden müssen. Vielleicht sollten wir es schlauer anstellen. Ihnen nicht gleich unsere schweren Geschütze zeigen.«
Schwere Geschütze? Was für schwere Geschütze? Oder ging es immer noch um meine militärischen Fachkenntnisse? Ich war verwirrt. Vorsichtig hakte ich nach.
»Na, Ihre schweren Geschütze, was denn sonst? Ihr Sprachenarsenal. Das weiß doch jedes Kind, daß ein guter Soldat den Feind über seine Stärken im unklaren läßt. Mit Ihren Sprachen ist es dasselbe. Wir buddeln sie ein und legen ein Tarnnetz darüber, bis wir sie brauchen. Gesunder Menschenverstand.«
Maxie, das wurde mir immer klarer, übte einen betörenden und gefährlichen Zauber aus. Teil dieses Zaubers war seine Fähigkeit, einem den aberwitzigsten Plan als normal zu verkaufen, selbst wenn man über den Plan als solchen noch gar nichts wußte.
»Wie wär’s denn damit?« sagte er, als schlüge er mir einen Kompromiß vor, der sich mit meinen überstrengen Wertmaßstäben vertrug. »Wir behaupten einfach, daß Sie bloß Englisch, Französisch und Swahili sprechen, mehr nicht. Das reicht dicke. Und die kleinen Sprachen behalten wir für uns. Wie würde Ihnen das gefallen? Mal eine andere Art von Herausforderung. Mal was Neues.«
Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, würde es mir ganz und gar nicht gefallen, aber das mußte ich ihn ja nicht unbedingt merken lassen.
»Und in welchem Kontext, Skipper – unter welchen Umständen würden wir das behaupten? Beziehungsweise es für uns behalten?« fügte ich mit einem – hoffentlich – weisen Lächeln hinzu. »Ich will ja nicht pedantisch sein, aber wem würden wir das erzählen?«
»Allen. Jedem. Dem ganzen Saal. Im Interesse der Operation. Um die Konferenz voranzubringen. Passen Sie mal auf.« Er machte eine Kunstpause, wie ein Experte, der versucht, einem Schwachkopf etwas zu erklären. Ich muß gestehen, diese Überheblichkeit habe ich auch schon an den Tag gelegt. »Wir haben zwei Sinclairs« – er streckte mir seine kugelsicheren Hände hin, für jedes meiner beiden Ichs eine –, »einen Sinclair über Wasser« – er hob die Linke hoch – »und einen Sinclair unter Wasser« – er ließ die Rechte in seinen Schoß sinken. »Über Wasser, das ist die Spitze des Eisbergs, da sprechen Sie nur Französisch und verschiedene Swahili-Varianten. Und natürlich Englisch mit Ihren Freunden. Die übliche Hausmannskost eines mittelprächtigen Dolmetschers eben. Können Sie mir folgen?«
»Bis hierher schon, Skipper.« Ich bemühte mich, Begeisterung aufzubringen.
»Und darunter« – ich starrte hinab in seinen rechten Handteller – »die restlichen neun Zehntel des Eisbergs, das sind Ihre ganzen anderen Sprachen. Das schaffen Sie doch, oder? Ist nicht so schwierig, Sie müssen sich bloß konzentrieren.« Er zog die Hände zurück, nahm sich noch einen Kräcker und wartete, daß bei mir der Groschen fiel. Aber ich schaltete auf stur.
»Ich glaube, ganz komme ich doch nicht mit, Skipper«, sagte ich.
»Jetzt seien Sie nicht zickig, Sinclair, natürlich kommen Sie mit! Es ist kinderleicht. Ich gehe in den Konferenzraum. Ich stelle Sie vor.« Mit vollem Mund spielte er es mir in seinem grauenhaften Französisch vor: »›Je vous présente Monsieur Sinclair, notre interprète distingué. Il parle anglais, français et swahili.‹ Und fertig ist der Lack. Wenn irgendwer in einer anderen Sprache loslegt, verstehen Sie ihn einfach nicht.« So wacker ich mich auch bemühte, gefiel ihm meine Miene doch immer noch nicht. »Himmelherrgott, Mann. Ist doch keine große Sache, sich dumm zu stellen. Die meisten Leute schaffen das mit links. Und warum? Weil sie dumm sind. Aber Sie sind es nicht. Sie sind ein As, ein Star. Dann seien Sie auch ein As, zeigen Sie, was Sie draufhaben. Ein junger, kräftiger Kerl wie Sie, das ist doch ein Klacks.«
»Und wann kann ich dann meine anderen Sprachen anwenden, Skipper? Die Unterwassersprachen, wenn ich so sagen darf?« Ich ließ nicht locker.
Die Sprachen, die mein größter Stolz sind, dachte ich. Die Sprachen, die mich aus der Masse herausheben. Die Sprachen, die nicht im verborgenen dümpeln,
sondern triumphierend durch die Wellen pflügen sollten. Die Sprachen, die, wenn es nach mir ginge, groß zur Schau gestellt gehörten.
»Wenn Sie’s gesagt kriegen. Sie stehen unter Geheimbefehl. Teil eins gibt es heute, Teil zwei morgen früh, sobald wir die endgültige Bestätigung haben, daß die Sache läuft.« Und dann sah ich voller Erleichterung, wie das seltene Lächeln in sein Gesicht trat, dieses Lächeln, für das man eine Wüste durchqueren würde. »Sie sind unsere Geheimwaffe, Sinclair. Der Star der Show, denken Sie immer dran. Wie oft im Leben bekommt man schon die Gelegenheit, der Geschichte in den Hintern zu treten?«
»Einmal, wenn man Glück hat«, antwortete ich loyal.
»Glück ist nur ein anderes Wort für Schicksal«, stellte Maxie richtig, ein entrücktes Leuchten in seinen Bogey-Augen. »Entweder man nimmt es selbst in die Hand, oder man ist am Arsch. Unsere Operation ist kein Kaffeekränzchen. Wir bringen dem Ostkongo die Demokratie – und zwar mit vorgehaltener Knarre. Wir heizen ihnen tüchtig ein, bringen die richtigen Leute ans Ruder, und schon haben wir ganz Kivu hinter uns.«
Mir schwindelte fast bei diesem ersten Einblick in seine große Vision, und seine nächsten Worte waren Balsam für meine Seele – und für Hannahs.
»Das größte Verbrechen der Strippenzieher im Kongo war bis jetzt immer die Gleichgültigkeit, richtig?«
»Richtig«, antwortete ich fest.
»Intervenieren, solange das schnelle Geld lockt, und nichts wie weg, sobald sich die nächste Krise ankündigt. Richtig?«
»Richtig.«
»Im Kongo herrscht Stillstand. Eine Regierung, die nichts taugt, ein ganzes Land, das auf freie Wahlen wartet. Ob sie stattfinden oder nicht, weiß keiner. Und wenn sie stattfinden, geht es den Leuten hinterher wahrscheinlich schlechter als vorher. Es gibt also ein Vakuum. Richtig?«
»Richtig«, kam es erneut von mir.
»Und in dieses Vakuum stoßen wir hinein. Bevor uns einer in die Quere kommt. Denn sie stehen ja alle schon in den Startlöchern, die Amis, die Chinesen, die Franzosen, die Multis. Alle wollen sie noch vor der Wahl einen Fuß in die Tür kriegen. Wir intervenieren, und wir bleiben. Und diesmal wird der Kongo auf der Siegerseite stehen.«
Ich versuchte meine Zustimmung zum Ausdruck zu bringen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Seit fünfhundert Jahren wird der Kongo jetzt schon ausgeblutet«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Von den arabischen Sklavenhändlern, von den anderen afrikanischen Staaten, von den Vereinten Nationen, von der CIA, den Christen, den Belgiern, den Franzosen, den Briten, den Ruandern, den Diamantenkonzernen, den Goldkonzernen, den Mineralienkonzernen, von windigen Geschäftemachern, von den Kleptokraten in Kinshasa, und als nächstes kommen auch noch die Erdölkonzerne dazu. Höchste Zeit für einen Wechsel, und den werden wir ihnen bescheren.«
Sein rastloser Blick war an Monsieur Jasper hängengeblieben, der am anderen Ende des Flugzeugrumpfs den Arm in die Höhe reckte und winkte, wie eine Kassiererin im Supermarkt, der das Wechselgeld ausgegangen ist.
»Also, Teil zwei gibt’s morgen«, wiederholte er, schnappte sich seinen Gasmaskenbehälter und marschierte zu ihm hinüber.
* * *
Wer in Maxies Bann steht, kann nicht mehr vernünftig denken. Alles, was er gesagt hatte, war Musik in meinen bikulturellen Ohren. Aber als ich aus meiner Betäubung wieder zu mir kam, drangen über das unregelmäßige Dröhnen der Triebwerke hinweg andere, weniger fügsame Stimmen als meine eigene zu mir durch.
Ich hatte »richtig« gesagt. Aber hatte ich auch ja gesagt?
Vermutlich, denn nein gesagt hatte ich auf keinen Fall.
Aber wozu genau hatte ich ja gesagt?
Hatte Mr. Anderson, als er mich über meine Aufgaben aufklärte, erwähnt, daß ich mich dafür in einen linguistischen Eisberg zu verwandeln hatte, zu neun Zehnteln unter Wasser? Hatte er nicht. Er hatte mir einen Fronteinsatz versprochen, mir gesagt, daß ich eine Lügenexistenz würde führen müssen, und mich gewarnt, daß ich draußen im Feld nicht die biblische Wahrheit erwarten dürfe, in deren Geiste wir erzogen worden seien. Kein Wort von Unter- und Überwassersprachen oder kontrollierter Schizophrenie.
Jetzt seien Sie nicht zickig, Sinclair. Es ist kinderleicht. Tatsächlich, Skipper? So zu tun, als ob man etwas gehört hat, ist relativ simpel, dem würde ich zustimmen. Das ist gang und gäbe. Aber so zu tun, als ob man etwas nicht gehört hat, ist meiner Erfahrung nach das Gegenteil von einfach. Ein Spitzendolmetscher reagiert automatisch. Er ist dazu ausgebildet, ins kalte Wasser zu springen, da kann er Eisberge nicht gebrauchen. Er hört, er springt, alles weitere kommt von selbst. Gut, zugegeben: früher oder später denkt er auch nach. Aber sein Talent zeigt sich beim spontanen Reagieren, nicht beim Wiederkäuen.
Während ich noch so vor mich hin sann, brüllte uns einer der unrasierten Piloten zu, wir sollten uns festhalten. Das Flugzeug ruckte wie von einer Gewehrsalve getroffen, ruckte noch einmal und kam nach einigen schwerfälligen Aufsetzern zum Stehen. Krachend ging die Kabinentür auf, und ein eisiger Luftschwall blies herein. Ich war froh um mein Tweedsakko. Unser Skipper war der erste, der ins Leere trat, dann Benny mit seinem Seesack, gefolgt von Monsieur Jasper samt Aktenkoffer. Auf Antons Wink kletterte ich ihnen nach, die Reisetasche vorneweg. Ich landete auf weichem Grund, die Luft roch nach Ebbe am Meer. Zwei Paar Scheinwerfer holperten über eine Wiese auf uns zu. Erst hielt ein Pritschenwagen neben uns an, dann ein Kleinbus. Anton scheuchte mich in den Bus, Benny schob Jasper hinter mir her. Im Schatten des Flugzeugs luden die Anoraks schwarze Kästen auf den Pritschenwagen. Unsere Fahrerin war eine reifere Ausgabe von Bridget, mit Kopftuch und pelzgefütterter Jacke.
Die mit Schlaglöchern übersäte Piste hatte weder Markierungen noch Schilder. Fuhren wir auf der rechten oder auf der linken Seite? Im schwachen Schein des Abblendlichts glotzte uns ein staatenloses Schaf vom Wegesrand an. Es ging einen Berg hinauf, und als wir auf der anderen Seite wieder hinunterfuhren, ragten aus dem sternlosen Himmel plötzlich zwei granitene Torpfosten vor uns auf. Wir rumpelten über ein Viehgitter, umrundeten ein Kiefernwäldchen und hielten in einem kopfsteingepflasterten, von hohen Mauern umschlossenen Hof an.
Giebel und Dächer verloren sich im Dunkeln. Im Gänsemarsch folgten wir unserer Fahrerin in einen schwach beleuchteten Vorraum, gut sechs Meter hoch. Auf dem Fußboden mehrere Reihen von Gummistiefeln, auf die in weißer Farbe die jeweilige Größe gemalt stand. Die Siebenen hatten einen kontinentalen Quer-, die Einsen einen Aufstrich. An den Wänden uralte Schneeschuhe, gekreuzt wie Tennisschläger. Ob sie Schotten gehört hatten? Schweden? Norwegern? Dänen? Oder war unser Gastgeber nur ein Sammler nordischen Nippes? Eine kleine Insel oben im Norden, wo wir ungestört sind. Je weniger wir wußten, desto ruhiger konnten wir hinterher schlafen. Die Fahrerin ging vor uns her. Ein Schild an ihrem Pelzkragen wies sie als Gladys aus. Hintereinander betraten wir eine große Eingangshalle mit Balkendecke. In alle Richtungen zweigten Flure ab. Auf diejenigen von uns, die nach dem Chow Mein noch Appetit hatten, warteten ein kalter Imbiß und ein Teeautomat. Eine zweite Frau, Janet, wie ihr Namensschild verriet, erklärte den einzelnen Mitgliedern des Teams unter viel Lächeln, wohin sie sich zu begeben hatten. Mir wies sie zunächst einen Platz auf einem bestickten Sofa zu.
Die Standuhr mit den üppigen Rundungen war auf britische Zeit gestellt. Vor sechs Stunden hatte ich Hannah verlassen. Vor fünf Stunden Penelope. Vor vier Stunden Mr. Anderson. Vor zwei Stunden den Flughafen Luton. Und gerade einmal eine halbe Stunde war es her, daß Maxie mir befohlen hatte, mit meinen besten Sprachen auf Tauchstation zu gehen. Anton, mein guter Hirte, rüttelte mich an der Schulter. Während ich hinter ihm eine Wendeltreppe hinauftrottete, war mir zumute, als sollte ich gleich aus der reinigenden Hand des Abts meine gerechte Strafe empfangen.
»Und? Geht’s uns gut, Chef?« fragte Anton, während er die Tür zu einem Zimmer öffnete. »Kein Heimweh nach Weib und Herd?«
»Eigentlich nicht, Anton. Ich bin nur ein bißchen … nervös. Aber trotzdem guter Hoffnung.«
Diese Steilvorlage ließ er sich natürlich nicht entgehen. »Na, das ist ja fein. Wann ist es denn soweit?«
Ich machte mir klar, daß wir seit meinem fehlgeschlagenen Anruf bei Hannah noch kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Es konnte nicht schaden, ein bißchen auf ihn einzugehen. Die Ehefrau fiel mir wieder ein, mit der er angeblich seit acht Jahren nicht mehr gesprochen hatte, und ich lachte. »Sind Sie wirklich verheiratet, Anton?«
»Hin und wieder, Chef. Ab und zu.«
»Zwischen zwei Aufträgen, sozusagen?« riet ich.
»Sozusagen, Chef. Wie man’s nimmt. Wie’s eben so kommt.«
Ich probierte es noch einmal. »Und was machen Sie in Ihrer Freizeit? Wenn Sie nicht das hier machen, meine ich?«
»Alles mögliche. Bißchen Knast, wenn ich die Geduld dazu habe. Ich bin gern in Kapstadt. Nicht im Gefängnis, am Strand. Und zwischendurch steig ich auch schon mal den Weibern nach. Das Übliche eben. So, und jetzt sprechen wir brav unser Nachtgebet, weil wir doch morgen unseren großen Tag haben, und wenn Sie Scheiße bauen, ist die Kacke für uns alle am Dampfen, und das wär unserem Skipper ganz und gar nicht recht.«
»Und Sie sind sein Erster Offizier, ja?« fragte ich bewundernd. »Da haben Sie sicher ganz schön was zu tun.«
»Sagen wir mal so: Wer soviel Quecksilber im Leib hat wie er, der braucht schon einen, der ein bißchen auf ihn aufpaßt.«
»Und ich? Brauche ich auch wen, der auf mich aufpaßt, Anton?« Ich wußte selbst nicht, wo die Frage herkam.
»Ich sag Ihnen was, Chef: Bei der Körpergröße, bei diesen unwiderstehlichen Schlafzimmerwimpern und bei all den Telefonnummern, die wir im Ärmel haben, sind wir meiner bescheidenen Meinung nach ein ganzer Haufen Leute unter einem einzigen großen Helm, weswegen wir auch so viele Sprachen draufhaben.«
Nachdem ich leise die Tür hinter ihm geschlossen hatte, setzte ich mich aufs Bett. Eine wohlige Erschöpfung kam über mich. Ich zog die fremden Kleider aus und ließ mich in Hannahs wartende Arme sinken. Aber nicht, bevor ich nicht ein paarmal ausprobiert hatte, ob das Telefon auf dem Nachttisch nicht vielleicht doch angeschlossen war.