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Rücksicht auf meine schlummernden Nachbarn ich die Treppe auf Zehenspitzen hoch, die rote Nylontasche wie ein Baby auf dem Arm, um damit nur ja nicht gegen das Geländer zu stoßen. Im Hochsommer sind die Samstage im Prince of Wales Drive unberechenbar. Einmal wird die halbe Nacht gefeiert, bis Penelope, wenn sie denn daheim ist, am Telefon die Polizei beschimpft und mit einem Artikel über mangelnde Polizeipräsenz droht. Ein andermal – sei es wegen der Schulferien, wegen der Bombenpanik oder weil heutzutage jeder ein Wochenendhaus hat – hört man, wenn man auf die Norfolk Mansions zugeht, nur die eigenen Schritte und das Indianergeheul der Eulen im Battersea Park. Doch jetzt hatte ich ohnehin nur einen Laut im Ohr, und das war Hannahs erstickte Stimme am Telefon.
Wie üblich widersetzte sich mir das Schloß der Wohnungstür, was ich an diesem Abend als symbolisch empfand. Wie üblich mußte ich den Schlüssel ein paar Millimeter herausziehen, hin und her ruckeln, es ein zweites Mal versuchen. Als ich in der Diele stand, kam ich mir vor wie mein eigener Geist. Seit meinem Tod hatte sich nichts verändert. Das Licht brannte, wie nicht anders zu erwarten. Ich hatte es nicht ausgemacht, als ich kurz hereingestürmt war, um mir den Smoking anzuziehen, und Penelope war in der Zwischenzeit nicht wieder zu Hause gewesen. Nachdem ich mir die verhaßten Schuhe von den Füßen geschleudert hatte, zog es mich zu dem minderwertigen Stich von Tintagel Castle, der seit fünf Jahren unbeachtet in der düstersten Ecke der Diele hing. Penelopes Schwester hatte ihn uns zur Hochzeit geschenkt. Die Schwestern konnten einander nicht ausstehen. Keine hatte irgendeine Beziehung zu Tintagel. Sie waren nie dagewesen, wollten nie hinfahren. Manche Geschenke sagen alles.
Im ehelichen Schlafzimmer riß ich mir die Sträflingskleidung herunter und beförderte sie mit einer Mischung aus Ekel und Erleichterung in den Wäschekorb. Den zusammengerollten Smoking stopfte ich gleich hinterher. Vielleicht konnte Thorne the Horn dafür Verwendung finden, falls er sich zu einer Diät aufschwang. Als ich mein Rasierzeug aus dem Badezimmer holte, stellte ich mit einer gewissen Befriedigung fest, daß der blaue Kulturbeutel mit dem Teddybären, Penelopes Pressemappe, wie sie kokett dazu sagt, nicht in seinem Fach stand: Was eine Frau nicht alles braucht für einen Tag in Suffolk mit einer Horde feudaler Anzeigenkunden!
Wieder im Schlafzimmer, kippte ich meine Beute, die Bänder und Stenoblöcke, erst einmal aufs Bett und grübelte dann, Ordnungsfanatiker, der ich bin, konzentriert darüber nach, wie wohl Mr. Andersons Plastikreisetasche am besten zu entsorgen sei, bis mir der Mülleimer in der Küche einfiel. Ich war drauf und dran, auch Brian Sinclairs Visitenkarten darin zu versenken, hob sie im letzten Moment aber doch lieber auf – für schlechte Zeiten, wie Tante Imelda gesagt hätte. Dann zog ich die Sachen eines freien Mannes an: Jeans, Turnschuhe, eine Lederjacke aus der Zeit vor Penelope, die ich mir zu meinem ersten bestandenen Examen geschenkt hatte, und als krönenden Abschluß meine dunkelblaue Pudelmütze, die sie mir als »zu afromäßig« verboten hatte.
Ich schildere diese Handlungen linear und im Detail, weil sie für mich etwas Zeremonielles hatten. Jede Bewegung, die ich machte, war ein weiterer Schritt hin zu Hannah – falls sie mich denn noch wollte, was durchaus zweifelhaft war. Jedes Kleidungsstück, das ich aus der Kommode nahm, war Teil der Garderobe, die mich in mein neues Leben begleiten würde. Aus der Diele holte ich meinen Rollenkoffer mit dem integrierten Zahlenschloß und dem verstellbaren Handgriff, einst liebevoll gehütetes Beiwerk einer sinnleeren Existenz. Als erstes kamen die Bänder und die Blöcke hinein, die ich in ein altes Hemd wickelte und in einem Innenfach verstaute. Indem ich methodisch von Raum zu Raum ging und jede nostalgische Regung im Keim erstickte, suchte ich mir zusammen, was ich brauchte: meinen Laptop samt Zubehör, wenn auch aus Platzgründen ohne den Drucker, meine beiden Kassettenrecorder, einer normalgroß und einer im Westentaschenformat, beide in stabilen Gehäusen, zwei Kopfhörer und mein kleines Transistorradio. Abschließend packte ich noch das vom Leben gezeichnete Meßbuch meines Vaters dazu, Pater Michaels Durchhaltebriefe vom Sterbebett, ein goldenes Medaillon mit einem Sträußchen von Tante Imeldas widerspenstigem weißen Haar, einen Aktenordner mit persönlicher Korrespondenz, darunter Lord Brinkleys Brief an mich und seine Weihnachtskarten, und die Umhängetasche aus robustem Stoff, mit der ich die Zutaten für das Coq au Vin nach Hause getragen hatte.
Aus dem Schreibtisch am Fenster nahm ich einen versiegelten Briefumschlag, auf dem Bruno stand und der den Ehevertrag enthielt, den Penelopes weitblickender Vater für genau diesen Fall der Fälle aufgesetzt hatte. Mir war schon immer klar gewesen, daß er unsere Ehe von einer realistischeren Warte aus betrachtete als ich. So feierlich, als legte ich an einem Kriegerdenkmal einen Kranz nieder, plazierte ich das mit unser beider Unterschrift versehene Dokument auf Penelopes Kopfkissen, zog mir dann den Trauring vom Finger und legte ihn mitten darauf. Nimm diesen Ring als Zeichen unserer Trennung. Wenn ich überhaupt etwas empfand, dann weder Verbitterung noch Zorn, sondern die Gewißheit, etwas zum Abschluß gebracht zu haben. Ein Erwachen, das sich lange vor dem Gefühlsausbruch des kleinen Herrn in der Trattoria angebahnt hatte, fand nun sein einzig mögliches Ende. Ich hatte Penelope als den Menschen geheiratet, der sie nicht sein wollte: die furchtlose Kämpferin der großen britischen Presse, die treue und loyale Geliebte, die nur Augen für mich hatte, meine Lifestyle-Beraterin und Mutter meiner zukünftigen Kinder, die in meinen trüben Stunden auch als mein weißer Mutterersatz herhalten würde. Penelope dagegen hatte den Exoten in mir geheiratet, nur um den Konformisten entdecken zu müssen, was vermutlich ein herber Schlag für sie gewesen war. In dieser Hinsicht konnte sie auf mein ehrliches Mitgefühl zählen. Einen Abschiedsbrief schrieb ich nicht.
Ich ließ den Rollenkoffer zuschnappen und nahm, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, Kurs auf die Wohnungstür und die Freiheit, als sich der Schlüssel ohne die üblichen Sperenzchen im Schloß drehte und jemand leichtfüßig hereinkam. Meine erste Reaktion war Angst. Nicht vor Penelope, das war ein für allemal vorbei. Nein, Angst davor, das in Worte fassen zu müssen, woraus bereits Taten hervorgegangen waren. Angst, aufgehalten zu werden, den Schwung zu verlieren, kostbare Zeit mit Streitereien zu vertun. Angst, Penelopes Affäre mit Thorne könnte gescheitert sein, und nun käme sie trostsuchend nach Hause gelaufen, nur um sich gleich die nächste demütigende Zurückweisung einzuhandeln, noch dazu aus einer Ecke, aus der sie mit keinerlei ernstzunehmendem Widerstand rechnete: von mir. Insofern war ich erleichtert, daß es nicht Penelope war, die sich, eine Hand in die Hüfte gestemmt, vor mir aufbaute, sondern unsere Nachbarin und psychologische Beraterin Paula, die einen Trenchcoat trug und, soweit ich erkennen konnte, sonst nichts.
»Hannibal hat dich gehört, Salvo«, sagte sie.
Paula hat einen monotonen, amerikanisch-englischen Akzent in der Stimme, eine Art Dauerquengeln. Hannibal ist ihr adoptierter Windhund.
»Hannibal hört alle hübschen Knaben, die auf leisen Sohlen durch die Gegend schleichen«, fuhr sie düster fort. »Wo willst du hin? Du siehst zum Fürchten aus.«
»Arbeiten«, sagte ich. »Später Anruf. Dringender Auftrag. Entschuldige, Paula, aber ich muß los.«
»In diesen Klamotten? Soll das ein Witz sein? Komm, du mußt was trinken. Hast du ’ne Flasche da?«
»Jedenfalls nicht am Leib.« Kleiner Scherz am Rande.
»Ich hätte eine, ausnahmsweise. Ich hätte auch ein Bett, falls du eins brauchst. Das hättest du gar nicht gedacht, daß ich ficke, stimmt’s? Du dachtest, ich wärme nur meinen Hintern an eurem Feuer. Penelope lebt hier nicht mehr, Salvo. Der Mensch, der hier lebt, ist eine Schein-Penelope.«
»Paula, bitte. Ich muß gehen.«
»Die echte Penelope ist eine unsichere, überkompensierende Zicke, die lieber vorprescht, als sich Zweifel zu erlauben. Außerdem ist sie eine Psychopathin, die an Wahnvorstellungen leidet, und meine liebste Freundin. Warum kommst du nicht in meine Inner-Body-Experience-Gruppe? Wir reden viel über Frauen wie Penelope. Vielleicht schaffst du es sogar auf eine höhere Gedankenebene. Was für ein Auftrag ist das?«
»Im Krankenhaus.«
»Mit dem Koffer? Wo liegt das Krankenhaus – in Hongkong?«
»Paula, bitte. Ich hab’s eilig.«
»Ficken wir erst, und dann fährst du ins Krankenhaus, okay?«
»Nein. Tut mir leid.«
»Erst Krankenhaus, dann ficken?« Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. »Penelope sagt, du bist spitze im Bett.«
»Danke, aber eher nicht.«
Sie trat zur Seite, und ich schlüpfte aufatmend an ihr vorbei zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. An einem anderen Tag wäre ich wohl baß erstaunt gewesen, wie mühelos unsere hauseigene Lebensberaterin und Schnorrerin zahlloser Flaschen Rioja die Grenze vom Guru zur Nymphomanin überschritten hatte, aber heute nicht.
* * *
Schlag sieben nach Tante Imeldas Uhr bezog ich Posten auf einer Parkbank gegenüber dem Haupteingang des Krankenhauses, auch wenn diskrete Erkundigungen am Empfang ergeben hatten, daß die Nachtschicht nicht vor acht Uhr dreißig endete. Eine brutalistische moderne Skulptur, die genau in meinem Blickfeld lag, ermöglichte es mir zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Rechts und links des verglasten Eingangs stand je ein uniformierter Repräsentant einer der immer zahlreicher werdenden britischen Privatmilizen. Zulus und Ovambos, höre ich Maxie stolz sagen. Die besten Kämpfer der Welt. Unter einem Carport im Tiefgeschoß fuhren in steter Folge weiße Krankenwagen vor und entluden ihre Verwundeten. Neben mir auf der Bank lag die Stofftasche, in die ich die Bänder und Blöcke umgepackt hatte. So unsicher, wie mir meine ganze derzeitige Existenz erschien, hatte ich mir den Schulterriemen fest um die Hand geschlungen.
Ich war überwach und übermüdet zugleich. In der Hochsaison für Selbstmordattentate tiefnachts ein Bett zu finden ist kein Kinderspiel für Zebras, die große Koffer hinter sich herziehen. Um so glücklicher schätzte ich mich, als mir ein hilfsbereiter Polizist, nachdem er mich aus dem langsam fahrenden Streifenwagen heraus unter die Lupe genommen hatte, den Weg zu einer Pension in einer Seitenstraße der Kilburn High Road wies, einem flutlichtbeleuchteten Gebäude im Pseudo-Tudorstil, dessen Tür, so der cricketversessene Besitzer Mr. Hakim, jedem offenstand, der sich an die Spielregeln hielt, unabhängig von Uhrzeit oder Hautfarbe. Gegen Barzahlung im voraus – Maxies Dollar, in Pfund umgewechselt – wurde ich stolzer Mieter der Managersuite, eines geräumigen Doppelzimmers im rückwärtigen Teil des Hauses mit Kochnische und einem Erkerfenster, das auf einen handtuchgroßen Gemüsegarten hinausging.
Inzwischen war es nach drei Uhr morgens, aber welcher Mann, der ausgezogen ist, die Frau seines Lebens zurückzugewinnen, denkt schon an Schlaf? Kaum hatte Mr. Hakims üppige Gemahlin die Tür hinter sich geschlossen, als ich auch schon mit aufgesetztem Kopfhörer, den Kassettenrecorder in der Hand, im Zimmer auf- und abtigerte. Das S stand tatsächlich für Satellit. Und Philip hatte reichlich Gebrauch davon gemacht. Er redete mit der Stimme, die ermächtigt war, ja zu sagen. Und die Stimme, die da ja sagte, gehörte zu meiner Bestürzung keinem anderen als meinem langjährigen Helden, der Nemesis von Penelopes großer Tageszeitung, Lord Brinkley of the Sands, auch wenn mich sein rechtschaffen empörter Ton noch hoffen ließ. Anfangs schien er regelrecht fassungslos:
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Philip. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich jetzt denken, das ist einer von Tabbys Tricks.«
Und als Philip ihm mitteilt, daß der Deal andernfalls platzt:
»So etwas Unmoralisches habe ich im Leben noch nicht gehört. Gilt denn ein Handschlag unter Männern gar nichts mehr? Und er will sich nicht einmal auf eine Anzahlung einlassen, sagen Sie? Er will alles im voraus? Kommt nicht in Frage. Reden Sie ihm das aus.«
Und als Philip beteuert, daß sie das schon mit allen erdenklichen Mitteln probiert haben, klingt Brinkley wie die gekränkte Unschuld in Person:
»Der Junge ist verrückt geworden. Ich werde mit seinem Vater reden. Also gut, geben Sie ihm, was er verlangt. Aber verrechenbar mit künftigen Einnahmen – und wir werden vom ersten Tag an alles daransetzen, es uns wieder zurückzuholen! Sagen Sie ihm das bitte, Philip. Ich bin offengestanden enttäuscht von Ihnen. Und von ihm auch. Wenn ich Sie nicht kennen würde, käme ich noch auf die Idee, mich zu fragen, wer hier mit wem Spielchen treibt.«
* * *
Um siebzehn Minuten nach acht kam ein junger Mann im weißen Kittel die Krankenhaustreppe heruntergeflattert, gefolgt von zwei Nonnen im grauen Ordenskleid. Um zwanzig nach erschien ein ganzes Knäuel von Pflegekräften, Männern und Frauen, die meisten von ihnen Schwarze. Aber irgendwie hatte ich es im Gefühl, daß sich Hannah, wiewohl sonst ein geselliger Mensch, heute abseits halten würde. Um acht Uhr dreißig quoll der nächste Trupp heraus. Sie waren ein lustiger Haufen, und Hannah hätte gut dazugepaßt. Aber nicht heute. Um acht Uhr vierzig kam sie, allein, in der verkrümmten Haltung all derer, die im Gehen ihre Mailbox abhören. Sie trug ihre Schwesterntracht, aber ohne die Haube. Bisher kannte ich sie nur in der Tracht oder nackt. Ihre Stirn war gefurcht, auf die gleiche konzentrierte Weise wie beim Pulsmessen – oder bei der Liebe. Auf der untersten Stufe blieb sie stocksteif stehen, ohne sich um die Herauf- und Herabkommenden zu kümmern, die sich an ihr vorbeischieben mußten – erstaunlich bei einer so rücksichtsvollen Frau, aber mich erstaunte es nicht.
Sie blieb stehen und starrte vorwurfsvoll auf ihr Handy. Ich dachte schon, gleich würde sie es schütteln oder angeekelt wegwerfen. Schließlich aber drückte sie es, ihm den langen Hals entgegenneigend, wieder ans Ohr, und ich wußte, nun hörte sie die letzte der acht Nachrichten ab, die ich ihr im Lauf der Nacht auf Band gesprochen hatte. Sie hob den Kopf und ließ die Hand mit dem Telefon sinken, wahrscheinlich auch jetzt wieder, ohne es auszuschalten. Als ich bei ihr war, fing sie an zu lachen, doch als ich sie an mich zog, weinte sie. Und im Taxi weinte sie weiter, und dann lachte sie wieder, genau wie ich, lachend und weinend bis zu Mr. Hakims Pension, wo uns, kaum daß wir angekommen waren, die Scheu wahrer Liebender überkam, so daß wir einander loslassen und getrennt den gekiesten Vorplatz überqueren mußten. Beide wußten wir, daß Erklärungen anstanden und wir den Weg zueinander mit Bedacht gehen mußten. Deshalb hielt ich ihr förmlich die Zimmertür auf und machte einen Schritt zur Seite, damit sie aus freien Stücken eintreten konnte, nicht auf mein Geheiß. Was sie nach sekundenlangem Zögern auch tat. Ich folgte ihr hinein und sperrte hinter uns ab, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, weshalb auch ich mich bezwang und sie nicht in den Arm nahm.
Ich möchte allerdings hinzufügen, daß ihre Augen die meinen nicht eine Sekunde losließen. Ihr Blick war weder vorwurfsvoll noch feindselig, sondern vielmehr so gründlich und forschend, daß ich mich fragte, wie viel von meiner Aufgewühltheit sie mir wohl ansah; schließlich hatte sie tagein, tagaus mit Männern in Nöten zu tun und verstand es, in ihren Gesichtern zu lesen. Und nachdem ihre Inspektion abgeschlossen war, nahm sie mich bei der Hand und führte mich durch das Zimmer, wie um die Verbindung zwischen mir und meinen Sachen herzustellen: Tante Imeldas Medaillon, meines Vaters Meßbuch und was ich sonst noch mitgebracht hatte, ehe sie sich – weil einer Diplomschwester nichts an ihrem Patienten so leicht entgeht – den hellen Streifen an meinem linken Ringfinger besah. Und dann hatte sie, wie durch Osmose, so kam es mir vor, plötzlich einen meiner vier Stenoblöcke in der Hand – ausgerechnet den dritten, in dem Maxies Kriegsplan detailliert ausgeführt war – und verlangte, fast wie Philip sechzehn Stunden zuvor, nach Erklärungen, die ich ihr aber jetzt noch nicht geben mochte, da die Strategie, die ich mir für ihre Einweihung zurechtgelegt hatte,
ein ausgeklügeltes Timing vorsah, getreu den hohen Prinzipien des Geheimdienstgewerbes.
»Was heißt das hier?« Mit sicherem Instinkt zeigte sie auf eine meiner komplizierteren Hieroglyphen.
»Kivu.«
»Du hast über Kivu geredet?«
»Das ganze Wochenende. Beziehungsweise meine Auftraggeber haben über Kivu geredet.«
»In einem positiven Sinn?«
»Eher in einem … kreativen.«
Der Keim war gelegt, wenn auch nicht sehr fachmännisch. Sie schwieg, dann lächelte sie traurig. »Wer könnte heutzutage etwas Kreatives über Kivu sagen? Keiner vielleicht. Aber Baptiste sagt, die Wunden beginnen allmählich zu verheilen. Wenn es so weitergeht, wird es im Kongo vielleicht eines Tages Kinder geben, die keinen Krieg kennen. In Kinshasa sprechen sie jetzt sogar ernsthaft von Wahlen, sagt er.«
»Baptiste?«
Sie schien mich nicht gleich zu hören, so vertieft war sie in meine Keilschrift. »Baptiste ist der inoffizielle Vertreter des Mwangaza in London«, sagte sie dann und gab mir den Block zurück.
Während ich noch darüber nachsann, was von der Existenz eines Baptiste in ihrem Leben zu halten war, stieß sie plötzlich einen kleinen Bestürzungsruf aus, den ersten und einzigen, den ich aus ihrem Mund gehört habe. Sie hielt Maxies Umschlag mit den sechstausend Dollar in die Höhe, die ich noch nicht in Pfund umgetauscht hatte, und ihre anklagende Miene sprach Bände.
»Hannah, das ist nicht gestohlen. Das ist verdient. Von mir. Redlich.«
»Redlich?«
»Na ja, auf jeden Fall legal. Das Geld stammt vom …« – fast hätte ich »vom britischen Staat« gesagt, aber Mr. Anderson zuliebe korrigierte ich mich – »von den Auftraggebern, für die ich dieses Wochenende gearbeitet habe.« Ihr notdürftig besänftigtes Mißtrauen flackerte erneut auf, als sie auf dem Kaminsims die Visitenkarten von Brian Sinclair entdeckte. »Brian ist ein Freund von mir«, beteuerte ich halbherzig. »Du kennst ihn übrigens auch. Ich erzähle dir später von ihm.«
Ich konnte ihr ansehen, daß sie mir kein Wort glaubte, und setzte schon halb dazu an, ihr die ganze Geschichte zu beichten – Mr. Anderson, die Insel, Philip, Maxie, Anton, Benny, Spider und zehnmal Haj –, aber mit einemmal wirkte sie wie weggetreten, so als hätte sie schon jetzt mehr gehört, als sie in einer Sitzung verkraften konnte. Statt mich mit Fragen zu bestürmen, streckte sich die müde Nachtschwester vollbekleidet auf dem Bett aus und schlief ein, was um so erstaunlicher war, als sie dabei nicht aufhörte zu lächeln. Wie gern wäre ich ihrem Beispiel einfach gefolgt. Ich schloß ebenfalls die Augen – aber wie um alles in der Welt sollte ich ihr erklären, daß ich unfreiwillig zum Komplizen bei einem bewaffneten Coup gegen ihr Land geworden war? Baptiste, wiederholte ich bei mir. Damit, daß sich ihre Begeisterung für den Mwangaza auch auf die Mitglieder seiner Organisation erstrecken könnte, hatte ich nicht gerechnet. Aber dann muß mir bei aller Überreiztheit doch die Natur zu Hilfe gekommen sein, denn als ich die Augen wieder aufschlug, trug ich immer noch Jeans und T-Shirt, und Hannah lag nackt in meinen Armen.
* * *
Ich bin kein Freund des Expliziten, genausowenig wie es Pater Michael war. Akte der Liebe waren für ihn etwas ebenso Persönliches wie Gebete, und man sprach über das eine so wenig wie über das andere. Ich will darum nicht länger bei der Ekstase unserer körperlichen Vereinigung verweilen, die wir im hellen Licht der Morgensonne zelebrierten, das durch das Erkerfenster auf Mrs. Hakims bunte Tagesdecke fiel. Hannah ist ein Mensch, der zuhören kann. So etwas war ich nicht gewohnt. In meiner ängstlichen Anspannung hatte ich eine sarkastische oder sogar ungläubige Reaktion von ihr befürchtet. Aber das war Penelopes Art, nicht Hannahs. Zwar liefen ihr, etwa als ich ihr ihre Illusionen über den Mwangaza nehmen mußte, ein paar Tränen über die Wangen und tropften auf den himmelblauen Kopfkissenbezug, doch ihre Anteilnahme und ihr Verständnis für mein Dilemma ließen sie nicht eine Sekunde im Stich. Vor zwei Tagen hatte ich über das Feingefühl gestaunt, mit dem sie einem Mann beigebracht hatte, daß er sterben würde, und ich tat mein Bestes, es mir zum Vorbild zu nehmen, aber mir mangelte sowohl an Geschick als auch an der nötigen Selbstbeherrschung. Schon nach den ersten Worten überwältigte mich der Drang, ihr alles auf einmal zu erzählen. Das Geständnis, daß ich, wenn auch nur aushilfsweise, ein indoktrinierter Mitarbeiter des allmächtigen britischen Geheimdienstes war, verschlug ihr den Atem.
»Und du bist diesen Leuten treu ergeben, Salvo?«
Ich sprach englisch, sie ebenfalls.
»Darum habe ich mich immer bemüht, Hannah. Und das werde ich auch in Zukunft so halten«, antwortete ich, und sogar dafür zeigte sie Verständnis.
An mich geschmiegt wie ein schläfriges Kind, lauschte sie gebannt meiner wundersamen Reise von der Mansardenwohnung in der South Audley Street zu dem goldglitzernden Palast am Berkeley Square, dem Flug im Hubschrauber und der geheimnisvollen Reise auf die namenlose Insel im Norden. Während ich ihr unsere Kriegsherren vorstellte, zogen in ebenso vielen Minuten drei Jahreszeiten über ihr Gesicht hinweg. Verhaltener Groll gegen den Schurken Franco mit seinem lahmen Bein und seiner Kampflust; wissende Trauer um den aidskranken Dieudonné. Erst als ich ihr meine vorläufige Skizze des Sorbonne-Absolventen und Nachtclubkönigs Haj präsentierte, meldete sich streng das Mädchen aus der Pfingstlermission zu Wort.
»Nachtclubbesitzer sind Gauner, Salvo. Warum sollte Haj anders sein? Er verkauft Bier und Mineralien, also verkauft er sicher auch Drogen und Frauen. So ist das heutzutage Brauch bei der jungen Elite von Kivu. Man trägt dunkle Brillen und fährt schicke Geländewagen und sieht sich mit seinen Freunden Pornofilme an. Sein Vater Luc hat in Goma einen ziemlich üblen Ruf, das darfst du mir glauben. Ein Machtmensch, der die Politik zu seiner persönlichen Bereicherung betreibt und nicht um der Menschen willen.« Aber dann zog sie die Stirn kraus und schwächte ihr Urteil widerstrebend ein wenig ab. »Wobei man auch sagen muß: Als anständiger Mensch kommst du im Kongo heute nicht zu Geld. Man muß ihn immerhin für seinen Geschäftssinn bewundern.«
Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, unterbrach sie sich und setzte wieder ihren musternden Blick auf. Und wenn Hannah das tut, wird das Thema Eigensicherung zweitrangig.
»Du hast eine besondere Stimme für diesen Haj. Hast du auch besondere Gefühle für ihn?«
»Ich hatte für alle besondere Gefühle«, antwortete ich ausweichend. »Für jeden auf seine Weise.«
»Warum ist Haj dann anders? Weil er verwestlicht ist?«
»Ich habe ihn enttäuscht.«
»Wie denn, Salvo? Das glaube ich dir nicht. Vielleicht hast du dich selbst enttäuscht. Das ist nicht dasselbe.«
»Sie haben ihn gefoltert.«
»Haj?«
»Mit einem Elektroschocker. Er hat geschrien. Dann hat er ihnen alles gesagt, was sie wissen wollten. Und dann hat er sich verkauft.«
Sie schloß einmal kurz die Augen. »Und du hast zugehört?«
»Ich sollte nicht. Ich hab’s einfach gemacht.«
»Und du hast es aufgenommen?«
»Nicht ich, die anderen.«
»Während er gefoltert wurde?«
»Es war ein Archivband. Fürs Archiv, nicht für den Einsatz.«
»Und wir haben es hier?« Sie sprang vom Bett und war mit drei Schritten beim Erkertisch. »Das hier?«
»Nein.«
»Das?« Als sie mein Gesicht sah, legte sie das Band wieder auf den Tisch, kam zurück und setzte sich zu mir aufs Bett. »Wir müssen etwas essen. Wenn wir gegessen haben, spielen wir das Band ab. Einverstanden?«
Einverstanden, sagte ich.
Aber bevor wir etwas essen gehen konnten, mußte sie sich noch etwas zum Anziehen aus dem Schwesternheim holen, und ich blieb eine Stunde mit meinen Gedanken allein. Sie kommt nicht mehr zurück. Sie hält mich für verrückt, und recht hat sie. Sie ist zu Baptiste gelaufen. Diese hurtigen Schritte auf der Treppe gehören nicht Hannah, sondern Mrs. Hakim. Aber Mrs. Hakim wiegt gute anderthalb Zentner, wogegen Hannah eine Sylphe ist.
* * *
Sie erzählt von ihrem Sohn, Noah. Mit der einen Hand ißt sie Pizza, mit der anderen hält sie die meine, während sie mir auf Swahili von ihm berichtet. Als sie ihn bei unserem ersten Mal erwähnt hat, war sie noch befangen dabei. Heute muß sie mir alles sagen, wie sie zu ihm gekommen ist, was er ihr bedeutet. Noah ist ein Kind der Liebe, wie es heißt, nur – Salvo, das mußt du mir glauben – da war keine Liebe im Spiel, kein bißchen.
»Nachdem mein Vater mich von Kivu nach Uganda geschickt hatte, damit ich Krankenschwester werde, bin ich auf einen Medizinstudenten hereingefallen. Als ich von ihm schwanger wurde, hat er mir gesagt, daß er verheiratet ist. Einem anderen Mädchen, mit dem er ins Bett ging, hatte er erzählt, er wäre schwul.«
Sie war sechzehn, und statt einen schönen runden Babybauch zu bekommen, nahm sie sechs Kilo ab, bevor sie den Mut fand, einen HIV-Test zu machen. Er fiel negativ aus. Heutzutage schiebt sie nichts mehr auf die lange Bank, Unangenehmes wird sofort erledigt. Sie bekam das Kind, und ihre Tante half ihr, es zu versorgen, während sie ihre Ausbildung abschloß. Alle Medizinstudenten und Jungärzte wollten mit ihr ins Bett, aber sie schlief mit keinem Mann mehr, bis ich kam.
Sie fängt an zu lachen. »Und was habe ich mir eingehandelt? Gleich den nächsten verheirateten Mann!«
Nicht mehr, sage ich.
Sie lacht und schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck roten Hauswein, der, darin sind wir uns einig, mit das Mieseste ist, was wir je getrunken haben, schlimmer noch als das Gesöff, das sie uns einmal im Jahr auf dem Klinikfest vorsetzen, sagt sie, und das will was heißen, Salvo. Aber nicht so gemeingefährlich wie der Chianti bei Giancarlo, kontere ich und schiebe meine Geschichte von dem tapferen kleinen Herrn im Bella Vista in der Battersea Park Road ein.
Zwei Jahre nach Noahs Geburt war Hannah mit der Ausbildung fertig. Sie stieg zur Stationsschwester auf, brachte sich Englisch bei und ging dreimal die Woche in die Kirche. Machst du das heute auch noch, Hannah? Schon, aber nicht mehr so oft. Die jungen Ärzte sagen, Gott und die Wissenschaft vertragen sich nicht, und wenn sie ehrlich ist, sieht sie auf den Stationen auch nicht viele Spuren seines Wirkens. Doch das hält sie nicht davon ab, für Noah, ihre Familie und Kivu zu beten und in der Sonntagsschule ihrer Nordlondoner Kirche auszuhelfen, wo sie mit dem Rest an Glauben, der ihr geblieben ist, den Gottesdienst besucht.
Hannah ist stolz, eine Nande zu sein, und zu Recht, denn die Nande sind berühmt für ihren Unternehmungsgeist. Mit dreiundzwanzig kam sie über eine Agentur nach England, erzählt sie mir beim Kaffee und einem letzten Glas von dem gräßlichen Rotwein. Das hat sie mir zwar bereits erzählt, aber bei dem Spiel, das wir spielen, muß man nach jeder Abschweifung wieder von vorn anfangen. Die Engländer waren nicht übel, aber von der Agentur wurde sie wie ein Stück Scheiße behandelt – das erste Mal, daß ich ein Schimpfwort aus ihrem Mund höre. Noah bei ihrer Tante in Uganda lassen zu müssen zerriß ihr das Herz, aber dank einer Wahrsagerin aus Entebbe hatte sie ihre Bestimmung erkannt, die darin lag, ihr Wissen über die westliche Medizin zu vertiefen und Noah Geld zu schicken. Wenn sie genug gelernt und genug gespart hat, will sie mit ihm zusammen nach Kivu zurückkehren.
In der ersten Zeit träumte sie jede Nacht von Noah. Die Telefongespräche mit ihm nahmen sie so mit, daß sie sich schließlich auf wöchentlich einen Anruf zum Billigtarif beschränkte. Die Agentur hatte ihr verschwiegen, daß sie einen Eingliederungskurs machen mußte, der ihre gesamten Ersparnisse verschlang, und daß sie auf der Karriereleiter wieder ganz unten anfangen mußte. Die Nigerianerinnen, bei denen sie einquartiert wurde, zahlten die Miete nicht, bis der Vermieter schließlich die ganze Bagage vor die Tür setzte, auch Hannah. Um im Krankenhaus voranzukommen, mußte sie doppelt so gut sein wie ihre weißen Kolleginnen und doppelt so viel leisten. Aber mit Gottes Hilfe – beziehungsweise, so sah ich es eher, dank ihrer heroischen Anstrengungen – hat sie sich durchgebissen. Zweimal in der Woche besucht sie eine Weiterbildungsmaßnahme für einfache chirurgische Eingriffe in armen Ländern – heute abend wird sie den Kurs verpassen, aber sie holt das Versäumte schon wieder nach. Diese Qualifikation will sie auf jeden Fall noch schaffen, bevor sie zu Noah zurückkehrt.
Doch das Wichtigste hat sie sich bis zum Schluß aufgespart: Sie hat der Oberschwester eine Extrawoche unbezahlten Urlaub abgehandelt. Dann könnte sie auch mit ihren Sonntagsschulkindern für zwei Tage ans Meer fahren, sagt sie.
»Und hast du dir nur für die Sonntagsschulkinder freigenommen?« frage ich begierig.
Sie schnaubt nur. Eine ganze Woche Urlaub nehmen, auf den vagen Verdacht hin, daß irgend so ein windiger Dolmetscher sein Versprechen hält? Lachhaft.
Der Kaffee ist getrunken, die Rechnung mit Maxies umgetauschten Dollar bezahlt. Ein paar Minuten noch, dann geht es zurück in Mr. Hakims Pension. Hannah betrachtet gedankenvoll meinen Handteller und fährt die Linien mit dem Fingernagel ab.
»Werde ich ewig leben?« frage ich.
Sie schüttelt unwillig den Kopf und liest weiter in meiner Hand. Es waren fünf, sagt sie leise auf Swahili. Nicht wirklich ihre Nichten. Cousinen. Aber wenn sie an sie denkt, sind sie Nichten für sie. Töchter der Tante, die sie in Uganda aufgenommen hat und die heute Noah versorgt. Die einzigen Kinder ihrer Tante. Sie hatte keine Söhne. Im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren. Sie sagt ihre Namen auf, alle biblisch. Sie hält den Blick gesenkt, spricht in meine Hand, die Stimme ausdruckslos, ein einziger flacher Ton. Sie waren auf dem Heimweg. Mein Onkel und die Mädchen, alle in ihren schönsten Sonntagskleidern. Sie kamen frisch aus der Kirche, in Gedanken noch ganz bei den Gebeten. Meiner Tante ging es nicht gut, sie war im Bett geblieben. Ein paar junge Männer kamen ihnen entgegen. Mitglieder der Interahamwe von der anderen Seite der Grenze, aus Ruanda, die sich ein bißchen amüsieren wollten. Völlig zugedröhnt. Sie beschimpften meinen Onkel als Tutsi-Spion, schnitten den Mädchen die Sehnen durch, vergewaltigten sie, warfen sie in den Fluß und ließen sie ertrinken. Und dabei riefen sie Butter! Butter! Das sollte heißen, daß sie alle Tutsis zu Butter stampfen wollten.
»Was haben sie mit deinem Onkel gemacht?« frage ich. Sie hat den Kopf abgewendet.
Ihn an einen Baum gefesselt. Ihn gezwungen, es mit anzusehen. Ihn am Leben gelassen, damit er es im Dorf erzählt.
Im Gegenzug erzähle ich ihr von meinem Vater und seinen Auspeitschungen. Das habe ich außer Pater Michael noch nie einem Menschen erzählt. Wir gehen nach Hause und hören uns an, wie Haj gefoltert wird.
* * *
Kerzengerade sitzt sie da, an der anderen Wand, so weit von mir entfernt wie nur möglich. Sie hat ihr Krankenschwesterngesicht aufgesetzt. Ihre Miene ist verschlossen. Ob Haj schreit, ob Tabizi wütet oder ihn verspottet, ob Benny und Anton ihn mit dem Gerät malträtieren, das Spider ihnen netterweise zusammengebastelt hat, Hannah bleibt neutral wie ein Richter, der nichts an sich heranläßt, schon gar nicht mich. Als Haj um Gnade fleht, sind ihre Züge stoisch. Als er Tabizi und den Mwangaza ob ihres schmutzigen Handels mit Kinshasa verhöhnt, zeigt sie kaum eine Regung. Als Anton und Benny ihn unter die Dusche stellen, entfährt ihr ein gedämpfter Ausruf der Empörung, doch ihr Gesicht spiegelt nichts davon wider. Erst als Philip auftritt und mit der sanften Stimme der Vernunft auf ihn einredet, begreife ich, daß sie jede Sekunde mit Haj durchlebt und durchlitten hat, gerade so, als hätte sie an seinem Krankenbett gesessen. Und als Haj drei Millionen Dollar verlangt, damit er sein Heimatland verrät und verkauft, erwarte ich wenigstens ein Zeichen der Entrüstung, aber sie senkt nur den Blick und schüttelt mitfühlend den Kopf.
»Der arme, kleine Angeber«, murmelt sie. »Sie haben seine Seele gebrochen!«
An dieser Stelle will ich das Band stoppen, um ihr die letzte Verhöhnung zu ersparen, doch sie hält meine Hand fest.
»Von jetzt an singt er nur noch. Um es für sich leichter zu machen. Nur leider ohne Erfolg«, erkläre ich sanft.
Als sie trotzdem darauf besteht, lasse ich das Band bis zum Ende laufen, von Hajs Rundgang durch den Salon des Mwangaza bis zum trotzigen Klappern seiner Krokosohlen in dem Bogengang zur Gästesuite.
»Noch mal«, befiehlt sie.
Also spiele ich es noch einmal ab, und danach sitzt sie lange reglos da.
»Er zieht einen Fuß nach, hast du das gehört? Vielleicht hat er einen Herzschaden erlitten.«
Nein, Hannah, daß er einen Fuß nachzieht, habe ich nicht bemerkt. Ich schalte das Gerät aus, doch sie rührt sich noch immer nicht.
»Kennst du das Lied?« fragt sie.
»Es ist wie all die anderen Lieder, die wir gesungen haben.«
»Warum hat Haj es gesungen?«
»Vielleicht, um sich Mut zu machen.«
»Oder um dir Mut zu machen.«
»Auch möglich«, gebe ich zu.
* * *
Hannah ist praktisch veranlagt. Wenn sie ein Problem lösen muß, packt sie es an der Wurzel und macht sich methodisch ans Werk. Ich habe meinen Pater Michael,
sie hat ihre Schwester Imogène. Imogène hat ihr an der Missionsschule alles beigebracht, was sie wußte. Als Hannah schwanger in Uganda saß, hat Imogène ihr tröstende Briefe geschrieben. Hannah beherzigt Imogènes Gesetz, das da lautet, daß ein Problem niemals allein dasteht. Um es zu lösen, müssen wir es zuerst in seine Bestandteile zerlegen und diese dann einzeln angehen. Erst wenn das geschehen ist – keine Sekunde vorher –, wird Gott uns den richtigen Weg weisen. Dies ist Hannahs Modus operandi, sowohl bei der Arbeit als auch sonst im Leben, und so gibt es kein Entrinnen für mich: Zwar in liebevollem Ton und von aufmunternden Zärtlichkeiten unterbrochen, unterzieht sie mich doch einem unverblümten Verhör, auf Französisch, jetzt unserer Sprache der Klarheit.
»Wie und wann hast du die Bänder und die Stenoblöcke gestohlen, Salvo?«
Ich schildere ihr meinen letzten Gang in den Heizungskeller, Philips überraschendes Auftauchen, mein knappes Entkommen.
»Auf dem Rückflug nach Luton, hat dich da irgendwer mißtrauisch angesehen oder dich gefragt, was du in der Reisetasche hast?«
Niemand.
»Bist du dir sicher?«
Ziemlich sicher.
»Wer weiß mittlerweile, daß du die Bänder gestohlen hast?«
Ich zögere. Wenn Philip nach dem Abflug des Teams noch einmal in den Heizungskeller zurückgekehrt ist, um einen zweiten Blick in den Restesack zu werfen,
dann wissen sie es jetzt. Wenn Spider nach der Ankunft in England seine Bänder überprüft hat, bevor er sie weitergegeben hat ans Archiv, dann wissen sie es. Und wenn der Empfänger sie selbst überprüft hat, dann wissen sie es auch. Ich bin mir nicht sicher, woher an dieser Stelle plötzlich mein herablassender Ton kam, aber vermutlich war es einfach Selbstschutz.
»Wie dem auch sei«, beharre ich, ganz im Stil der phrasendrechselnden Rechtsanwälte, die ich gelegentlich dolmetschen muß, »ob sie es wissen oder nicht, technisch gesehen liegt unstreitig ein schwerer Fall von Geheimnisverrat vor. Oder vielleicht gerade nicht? Ist das Material nicht vielleicht sogar zu geheim dafür? Wenn ich offiziell nicht existiere, wie können es dann die Geheimnisse? Wie kann ein nichtexistenter Dolmetscher der Entwendung nichtexistenter Geheimnisse bezichtigt werden, wenn er im Auftrag eines namenlosen Syndikats tätig wird, das es nach eigenem Bekunden ebenfalls nicht gibt?«
Ich hätte es mir denken können. Hannah läßt sich durch meine Gerichtssaalrhetorik weniger beeindrucken als ich selbst.
»Salvo. Du hast einflußreichen Auftraggebern etwas gestohlen, woran ihnen sehr viel liegt. Die einzig relevante Frage ist jetzt, ob sie es herausfinden und was sie mit dir machen, wenn sie dich schnappen. Du hast gesagt, sie wollen Bukavu in zwei Wochen angreifen. Woher weißt du das?«
»Das hat mir Maxie erzählt, auf dem Rückflug. Sie wollen den Flughafen einnehmen. Samstag ist Fußballtag. Die weißen Söldner landen mit einer Schweizer Chartermaschine, die schwarzen Söldner geben sich als Gastmannschaft aus.«
»Uns bleiben also keine zwei Wochen mehr, sondern nur noch dreizehn Tage.«
»Ja.«
»Und es ist möglich, daß sie inzwischen hinter dir her sind.«
»Vermutlich schon.«
»Dann müssen wir zu Baptiste gehen.«
Sie schlingt die Arme um mich, und eine Zeitlang vergessen wir alles um uns herum.
* * *
Wir liegen auf dem Rücken und starren an die Decke, und sie erzählt mir von Baptiste. Er ist ein kongolesischer Nationalist, der sich leidenschaftlich für ein vereinigtes Kivu einsetzt und eben erst aus Washington zurückgekommen ist, wo er an einem Arbeitskreis über afrikanisches Bewußtsein teilgenommen hat. Die Ruander haben schon mehrere Male Killer auf ihn angesetzt, aber er ist so schlau, daß er ihnen noch immer durch die Finger geschlüpft ist. Baptiste kennt alle kongolesischen Gruppierungen, auch die, die nichts taugen. In Europa, in Amerika und in Kinshasa.
»Kinshasa, wo die Profitgeier sitzen«, werfe ich ein.
»Ja, Salvo. Wo die Profitgeier sitzen. Aber auch viele gute und ernsthafte Leute wie Baptiste, denen der Ostkongo am Herzen liegt und die bereit sind, Risiken einzugehen, um uns vor unseren Feinden und Ausbeutern zu beschützen.«
Ich möchte ihr bedingungslos zustimmen. Ich möchte genauso kongolesisch sein wie sie. Aber die Ratte der Eifersucht nagt in meinen Eingeweiden, wie Pater Michael zu sagen pflegte.
»Obwohl wir wissen, daß sich der Mwangaza auf einen schmutzigen Deal mit Kinshasa eingelassen hat«, sage ich, »und wenn nicht er, dann Tabizi oder sonst einer von seinen Leuten – obwohl wir das wissen, obwohl wir Beweise dafür haben, glaubst du trotzdem, daß wir es wagen dürfen, uns an den Repräsentanten des Mwangaza in London zu wenden und ihm brühwarm alles zu erzählen? So sehr vertraust du ihm also.«
Sie stützt sich auf einen Ellenbogen und blickt auf mich hinunter.
»Ja, Salvo. So sehr vertraue ich ihm. Wenn Baptiste hört, was wir gehört haben, und zu dem Schluß kommt, daß der Mwangaza korrupt ist, was ich übrigens noch nicht für erwiesen halte, dann wird er, weil er ein ehrbarer Mann ist und wie wir alle von Frieden für Kivu träumt, wissen, wen er warnen muß und wie er die Katastrophe noch verhindern kann.«
Sie legt sich in die Kissen zurück, und wir nehmen die Betrachtung von Mrs. Hakims Zimmerdecke wieder auf. Ich stelle ihr die unvermeidliche Frage: Wie hat sie ihn kennengelernt?
»Seine Gruppe hat die Busreise nach Birmingham organisiert. Er ist ein Shi, genau wie der Mwangaza, deshalb ist es ganz natürlich, daß er den kommenden Mann in ihm sieht. Aber deshalb ist er noch lange nicht blind für die Schwächen des Mwangaza.«
Natürlich nicht, versichere ich ihr.
»Und kurz bevor der Bus losfuhr, in letzter Minute, ist er ganz überraschend zugestiegen und hat eine sehr bewegende Ansprache über die Chancen für Frieden und Eintracht in Kivu gehalten.«
»Für dich persönlich?«
»Ja, Salvo. Für mich persönlich. Von den sechsunddreißig Menschen im Bus hat er nur zu mir gesprochen. Und ich war splitterfasernackt.«
* * *
Ihr erster Einwand gegen den Streiter meiner Wahl, Lord Brinkley, war so absolut, daß er mir ein wenig nach Schwester Imogènes Fundamentalismus roch.
»Aber Salvo. Wie kann das sein, daß von den bösen Menschen, die uns in den Krieg stürzen und unsere Bodenschätze rauben wollen, manche mehr Schuld haben sollen und manche weniger? Ist nicht einer so schlimm wie der andere? Stecken sie nicht alle unter einer Decke?«
»Du kannst Brinkley nicht mit den anderen in einen Topf werfen«, erklärte ich geduldig. »Er ist eine Galionsfigur, genau wie der Mwangaza. Er ist ein Mann, dessen Stellung die anderen ausnutzen, um hinter seinem Rücken ihre Räubereien zu begehen.«
»Er ist auch der Mann, der ja sagen konnte.«
»Ganz recht. Und er ist der Mann, dem man die Betroffenheit und die moralische Entrüstung anhören konnte, wenn du dich erinnerst. Und der Philip praktisch vorgeworfen hat, ein doppeltes Spiel zu treiben.« Und als Krönung: »Wenn er ja sagen konnte, dann kann er auch zum Telefonhörer greifen und nein sagen.«
Zur Untermauerung meines Standpunkts führte ich meine mannigfachen Erfahrungen aus der Welt der Wirtschaft an. Hatte ich nicht oft genug festgestellt, daß die Männer, die das Ruder in der Hand hielten, kaum mitbekamen, was in ihrem Namen geschah, so sehr waren sie damit beschäftigt, Kapital aufzutreiben und den Markt zu beobachten? Es dauerte ein wenig, aber schließlich sah Hannah doch ein, daß es Lebensbereiche gab, in denen ich mich einfach besser auskannte als sie. Ich legte nach, indem ich sie an mein Gespräch mit Brinkley in dem Haus am Berkeley Square erinnerte: »Und was war, als ich Mr. Anderson erwähnt habe? Er hatte noch nie von ihm gehört!« trumpfte ich auf, und dann wartete ich auf ihre Antwort, kein weiteres Plädoyer für Baptiste, wie ich inständig hoffte. Und zuletzt zeigte ich ihr auch noch den Brief, in dem er mir für meine Unterstützung dankte: Lieber Bruno, unterschrieben: Herzlich, Jack. Doch ganz gab sie sich noch immer nicht geschlagen:
»Wenn das Syndikat so anonym ist, wieso hat es dann Brinkley als Galionsfigur?« Und als ich darauf keine plausible Antwort parat hatte: »Wenn du unbedingt zu einem von deinen Leuten gehen mußt, geh wenigstens zu Mr. Anderson, dem du vertraust. Erzähl ihm alles und liefere dich ihm auf Gnade oder Ungnade aus.«
Diesmal manövrierte ich sie mit meinen Kenntnissen der Geheimdienstwelt aus. »Ich war noch nicht zur Tür hinaus, da kannte Anderson mich schon nicht mehr. Es gab die Operation nicht. Es gab mich nicht. Meinst du, er läßt mich einfach wieder auferstehen, wenn ich bei ihm anmarschiere und ihm erzähle, daß die ganze Sache ein Riesenschwindel ist?«
Wir setzten uns vor meinen Laptop und machten uns an die Arbeit. Über Lord Brinkleys Adresse schwieg seine Website sich aus. Wenn man ihm schreiben wollte, sollte man ihm den Brief ins Oberhaus schicken. Jetzt konnte ich meine gesammelten Brinkley-Artikel zum Einsatz bringen. Jack war mit einer Lady Kitty verheiratet, einer reichen Erbin aus adligem Haus, die sich für Großbritanniens Bedürftige einsetzte, was Hannah sogleich für sie einnahm. Und Lady Kitty hatte ebenfalls eine Website. Darauf standen die Wohltätigkeitsorganisationen, deren Schirmherrin sie war, sowie eine Adresse, an die man seine Spendenschecks schicken konnte. Außerdem erfuhren wir, daß Lady Kitty jeden Donnerstagvormittag ausgewählte Wohltäter zum Kaffee empfing. Und wo empfing Ihro Gnaden? In ihrer Residenz in Knightsbridge, im Herzen von Londons goldenem Dreieck.
* * *
Es ist eine Stunde später. Ich liege hellwach im Bett. Hannah, die es gelernt hat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu schlafen, rührt sich nicht. Leise ziehe ich Hemd und Hose an, nehme mir das Handy und gehe nach unten in den Aufenthaltsraum, wo Mrs. Hakim das Frühstücksgeschirr abräumt. Nach ein paar unvermeidlichen Floskeln flüchte ich in den kleinen Garten, der von hohen, braunen Häuserwänden umschlossen ist. Penelopes tägliches »Bewegungsmuster«, wie es der Ausbilder bei meinen Eintagesschulungen genannt hätte, stand mir deutlich vor Augen. Nach dem heißen Wochenende mit Thorne legt sie zur schnellen Generalüberholung einen Boxenstop in den Norfolk Mansions ein, bevor sie in die Welt hinausgeht, um sich den Herausforderungen der neuen Woche zu stellen. Dann wird telefoniert, und zwar aus dem Taxi, das ihr die Redaktion bezahlt. Wie alle guten Journalisten weiß auch sie, daß der erste Satz sitzen muß.
Du kannst mich auch mal, Darling, weißt du das? Hättest du noch eine Woche gewartet, hätte ich dir die Mühe erspart! Ich frag dich jetzt nicht, wo du das Wochenende verbracht hast, nachdem du mich vor Sir Matthew zur Lachnummer gemacht hast. Ich hoffe bloß, die Kleine ist es wert, Salvo. Oder müßte das der Kleine heißen? Fergus sagt, er traut sich nicht mal alleine mit dir aufs Männerklo …
Ich kehrte wieder in unser Zimmer zurück. Hannah lag da wie zuvor, das Laken in der Sommerhitze wie auf einem Aktgemälde über eine Brust und zwischen die Schenkel gerafft.
»Wo warst du?«
»Im Garten. Mich scheiden lassen.«