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Ich bin kein Mensch, der an Vorzeichen glaubt, an Auguren, an Fetische, an Weiße oder Schwarze Magie, auch wenn ich davon garantiert etwas mit der Muttermilch eingesogen haben muß. Tatsache ist dennoch, daß mein Weg zu Hannah auf der ganzen Strecke ausgeschildert gewesen war, hätte ich nur Augen gehabt, es zu sehen.
Das erste nachgewiesene Zeichen erhielt ich an dem Montagabend vor jenem schicksalhaften Freitag, im Bella Vista in der Battersea Park Road, unserer Trattoria ums Eck, wo ich in höchst untrauter Einsamkeit bei aufgewärmten Cannelloni und einer Karaffe von Giancarlos gemeingefährlichem Chianti saß. Zu Erbauungszwecken las ich in meiner Taschenbuchausgabe von Antonia Fräsers Cromwell, Our Chief of Men – englische Geschichte war meine Achillesferse, aber ich arbeitete an mir, freundlich angeleitet von Mr. Anderson, der sich in der Vergangenheit unserer Insel bestens auskannte. Die Trattoria war leer bis auf zwei andere Tische: den großen am Fenster, den eine redefreudige Gruppe von Tagesausflüglern belegt hatte, und das Katzentischchen, an dem an diesem Abend ein sehr distinguierter älterer Herr saß, emeritiert möglicherweise, winzig klein von Statur. Seine Schuhe waren blitzblank poliert, das fiel mir sofort auf. Für polierte Schuhe habe ich seit meinen Herz-Jesu-Tagen einen Blick.
Mein einsames Cannelloni-Mahl war so nicht geplant gewesen. Es war unser fünfter Hochzeitstag, und ich war von der Arbeit nach Hause geeilt, um Penelope ihr Lieblingsgericht zu kochen, Coq au Vin mit einer Flasche edelsten Burgunders, gefolgt von einem reifen Brie, den ich mir in unserem Feinkostgeschäft frisch vom Rad hatte schneiden lassen. Ich hätte die Unwägbarkeiten des Journalistenalltags mittlerweile gewöhnt sein sollen, aber als sie anrief, um mir mitzuteilen – in flagranti im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich flambierte gerade die Hähnchenteile –, daß eine Krise im Privatleben eines Fußballstars es ihr unmöglich machen würde, vor Mitternacht daheim zu sein, reagierte ich in einer Weise, die mich im Rückblick schockierte.
Ich schrie sie nicht an, dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin ein unterkühlter, angepaßter mittelbrauner Brite. Ich halte mich zurück, oft in größerem Maße als diejenigen, denen ich mich angepaßt habe. Ich legte behutsam den Hörer auf. Dann kippte ich ohne jede weitere Überlegung oder Abwägung Huhn, Brie und die schon geschälten Kartoffeln in den Abfallhäcksler neben der Spüle, legte den Finger auf den Startknopf und ließ ihn dort, wie lange, weiß ich nicht, aber beträchtlich länger als technisch notwendig; das Hühnchen war jung und bot wenig Widerstand. Als ich wieder zu mir kam, stürmte ich den Prince of Wales Drive entlang Richtung Westen, den Cromwell in die Jackentasche gestopft.
Sechs Essensgäste saßen um den ovalen Tisch im Bella Vista: drei fleischige Männer in Blazern mit drei nicht minder korpulenten Gattinnen, alle sechs die guten Dinge des Lebens sichtlich sattsam gewöhnt. Sie waren aus Rickmansworth, mußte ich erfahren, und sie nannten es Ricky. Sie hatten sich im Battersea Park eine Freilichtaufführung des Mikado angesehen. Die führende Stimme, die einer der Gattinnen, rügte die Inszenierung. Sie habe nie viel von den Japanern gehalten – nicht wahr, Darling? –, und dieses Gesinge mache die Sache ja nun auch nicht besser. Ihr Monolog unterschied nicht nach Themen, sondern wälzte sich einförmig dahin. Manchmal machte sie eine Pause, die man ihr als Denkpause hätte anrechnen können, und räusperte sich dann vor dem Weitersprechen, unnötigerweise, denn es hätte sie ohnehin niemand zu unterbrechen gewagt. Vom Mikado kam sie ohne Atemholen oder Änderung im Tonfall auf ihre kürzliche Unterleibsoperation zu sprechen. Der Gynäkologe hatte die Sache grandios verpfuscht, aber gut, er war ein Freund, deshalb würde sie von einer Klage absehen. Nahtloser Übergang zu dem enttäuschenden Künstlermann ihrer Tochter, einem Taugenichts ersten Ranges. Sie hatte noch andere Ansichten, alle dezidiert, alle mir eigentümlich vertraut, und sie tat sie in ungebrochener Lautstärke kund, als der kleine Herr mit den blanken Schuhen die beiden Hälften seines Daily Telegraph zusammenklatschte, das Ergebnis der Länge nach faltete und damit auf den Tisch haute: einmal, zweimal, dreimal, und zur Sicherheit noch ein Schlag hinterher.
»Ich muß sprechen«, verkündete er dem Raum trotzig. »Das bin ich mir schuldig. Also spreche ich« – eine Grundsatzansage, die an ihn selbst gerichtet war und niemanden sonst.
Womit er auf den größten der drei fleischigen Männer Kurs nahm. Das Bella Vista hat als echt italienische Trattoria Terrazzoboden und keine Vorhänge. Die Gipsdecke ist niedrig und nackt. Wenn sie seine Absichtserklärung nicht gehört hatten, so hätten sie doch wenigstens das hallende Klacken seiner gewichsten Schuhe hören sollen, als er auf sie zuhielt, aber die dominante Dame ließ uns gerade in den Genuß ihrer Meinung über die moderne Skulptur kommen, die keine hohe war. Es bedurfte mehrerer lauter Sirs seitens des kleinen Herrn, bis seine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen wurde.
»Sir«, wiederholte er, aus Gründen der Etikette strikt an das Oberhaupt der Tafel gewandt. »Ich bin hierhergekommen, um in Ruhe zu essen und meine Zeitung zu lesen« – er hielt das zerfledderte Etwas hoch wie ein Beweisstück vor Gericht. »Statt dessen finde ich mich einer wahren Redeflut ausgesetzt, die so laut ist, so banal, so aufdringlich, daß ich mich – jawohl« – das Jawohl in Würdigung der Tatsache, daß der Tisch ihm nun Aufmerksamkeit zollte –, »und eine Stimme ist darunter, Sir, eine Stimme vor allen anderen – ich werde nicht mit dem Finger zeigen, ich bin ein höflicher Mensch – Sir, ich fordere Sie auf, zügeln Sie sie.«
Doch nachdem er solches gesprochen hatte, räumte der kleine Herr nicht etwa das Feld. O nein, er blieb wacker stehen, wo er stand, wie ein mutiger Freiheitskämpfer vor dem Erschießungskommando, die Brust herausgestreckt, die polierten Hacken zusammengeschlagen, die malträtierte Zeitung säuberlich unterm Arm, dieweil die drei fleischigen Männer ihn ungläubig anstarrten und die gekränkte Gattin wiederum ihren Mann anstarrte.
»Darling«, zischelte sie. »Tu was.«
Tu was? Und was tue ich, wenn sie es tun? Die massigen Männer aus Ricky waren alte Athleten, soviel war klar. Die Wappen auf ihren Blazern verströmten heraldischen Glanz. Gut möglich, daß sie ehemalige Mitglieder eines Polizei-Rugby-Teams waren. Wenn es ihnen beliebte, den kleinen Herrn zu Brei zu schlagen, wie konnte ein einzelner unschuldiger brauner Zuschauer einschreiten, ohne selbst noch viel gründlicher zu Brei geschlagen und obendrein als Terrorverdächtiger verhaftet zu werden?
Letztlich taten die Männer gar nichts. Statt ihn zu Brei zu schlagen, seine Überreste in die Gosse zu werfen und die meinigen hinterher, musterten sie angelegentlich ihre sehnigen Pranken und versicherten einander in vernehmlichen Seitenbemerkungen, daß der arme Kerl offenkundig nicht ganz richtig im Kopf war. Ein Wahnsinniger. Vielleicht sogar eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Oder für sich selbst. Warum ruft nicht jemand einen Krankenwagen?
Was den kleinen Herrn anging, so kehrte der an seinen Tisch zurück, legte einen Zwanzig-Pfund-Schein darauf und schritt mit einem würdevollen »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, Sir« für den Fenstertisch und nicht einmal einem Blick für mich zur Tür hinaus, ein Koloß in Taschenformat, und ich blieb zurück und zog meine Vergleiche zwischen dem Mann, der »Ja, Liebes, das verstehe ich vollkommen« sagt und sein Coq au Vin in den Müll kippt, und dem,
der sich in die Löwengrube wagt, während ich dasitze und so tue, als läse ich meinen Cromwell.
* * *
Das zweite nachgewiesene Zeichen erhielt ich einen Abend später, am Dienstag. Ich hatte einen vierstündigen Einsatz zum Schutze unserer großen Nation hinter mir und war auf dem Heimweg nach Battersea, als ich zu meiner eigenen Verblüffung drei Stationen zu früh aus dem fahrenden Bus sprang und wie ein Wilder lossprintete, nicht quer durch den Park zum Prince of Wales Drive, was die logische Richtung gewesen wäre, sondern über die Brücke zurück nach Chelsea, von wo ich soeben gekommen war.
Warum, um Himmels willen? Gut, ich bin impulsiv. Aber was trieb mich da? Es war mitten im schlimmsten Stoßverkehr. Schon in normalem Tempo neben gestauten Autos herzugehen ist mir ein Greuel, gerade heutzutage. Diese Blicke hinter den Scheiben hervor, das ist etwas, dem ich mich nicht aussetzen muß. Aber zu rennen, in meinen besten Stadtschuhen mit Ledersohlen und Lederabsätzen mit Außenkanten aus Gummi, ein Mann in meinem Alter, mit meiner Hautfarbe und Statur und einem Aktenkoffer in der Hand – zu rennen, ohne um Hilfe zu rufen, in einem Affenzahn, manisch geradeaus schauend, Passanten anrempelnd vor lauter Eile – diese Art zu rennen ist zu jeder Tageszeit eine Verrücktheit. Und in der Stoßzeit schlechterdings selbstmörderisch.
Brauchte ich Bewegung? Keineswegs. Penelope hat ihren Privattrainer, ich habe meinen Morgenlauf im Park. Die einzige Erklärung, die ich mir für mein Verhalten liefern konnte, als ich den belebten Gehsteig entlang und über die Brücke jagte, war das angststarre Kind, das ich vom Oberdeck des Busses aus gesehen hatte. Es war ein Junge, sechs oder sieben, und er klebte auf halber Höhe an der Granitmauer, die die Straße vom Fluß trennt, mit den Fersen zur Wand, Arme ausgebreitet, das Gesicht seitwärts gedreht, weil er viel zu sehr Angst hat, um nach unten oder nach oben zu schauen. Unter ihm braust der Verkehr, und über ihm ist eine schmale Brüstung, wie geschaffen für ältere Jungen, die angeben wollen, und zwei sind jetzt eben dort oben und rufen höhnisch zu ihm hinunter, tänzeln herum und pfeifen und fordern ihn auf, doch raufzuklettern, wenn er sich traut. Aber er kann nicht, weil seine Höhenangst noch viel größer ist als die Angst vor den Autos und weil er weiß, daß es auf der anderen Seite, wenn er je oben ankäme, zwanzig Meter tief hinuntergeht zum Treidelpfad und zum Fluß, und ihm ist schwindlig, und er kann nicht schwimmen, deshalb renne ich, was das Zeug hält.
Aber als ich die Stelle erreiche, schweißgebadet, keuchend, was sehe ich? Kein Kind, erstarrt oder nicht erstarrt. Und die Örtlichkeit hat eine Verwandlung durchgemacht. Keine Granitbrüstung. Keine schwindelerregende Gratwanderung mit dahinbrausenden Autos auf der einen Seite und der schnellfließenden Themse auf der anderen. Und mitten auf der Kreuzung eine mütterliche Polizistin, die den Verkehr regelt.
»Sie dürfen mich nicht ansprechen, junger Mann«, sagt sie, indem sie den Arm hebt.
»Haben Sie drei Kinder gesehen, die hier grade herumgekraxelt sind? Absolut lebensgefährlich.«
»Hier nicht, junger Mann.«
»Ich hab sie gesehen, ich schwör’s Ihnen. So ein Kleiner, der an der Mauer da feststeckte.«
»Ich werd Sie gleich festnehmen müssen, junger Mann. Los, ziehen Sie ab.«
Also zog ich ab. Ich ging zurück über die Brücke, die ich gar nicht erst hätte überqueren sollen, und den ganzen Abend über, während ich darauf wartete, daß Penelope heimkam, ließ mich dieser angststarre Junge in seiner selbstgemachten Hölle nicht los. Und am Morgen, als ich auf Zehenspitzen ins Bad schlich, um sie nicht zu wecken, verfolgte er mich immer noch, der Junge, der nicht da war. Und während ich den Tag hindurch für ein niederländisches Diamantenkonsortium dolmetschte, spukte er mir weiter im Kopf herum, in dem von mir unbemerkt auch sonst eine Menge vorging. Und er spukte nach wie vor dort drinnen, die Arme ausgestreckt, die Fingerknöchel gegen die Granitmauer gepreßt, als ich mich am Abend darauf um 19.45 Uhr auf dringendes Ersuchen des Nordlondoner Bezirkskrankenhauses in der Abteilung für Tropenkrankheiten einfand, wo ein sterbender Afrikaner unbestimmbaren Alters sich weigerte, auch nur ein Wort in irgendeiner Sprache zu sprechen, die nicht sein heimatliches Kinyarwanda war.
* * *
Blaue Nachtlichter haben mich durch endlose Korridore geleitet. Schmucke Wegweiser haben mir verraten, welchem Gang ich folgen muß. Um einzelne Betten sind Vorhänge gezogen, das sind die schwersten Fälle. Das unsrige ist solch ein Bett. Auf seiner einen Seite kauert Salvo, auf der anderen, durch nichts von mir getrennt als durch die Knie eines Sterbenden, eine Diplomkrankenschwester. Und diese Schwester, die mir zentralafrikanischer Herkunft zu sein scheint, hat Kenntnisse und Verantwortung über die der meisten Ärzte hinaus, auch wenn sie kaum danach aussieht mit ihrem geschmeidigen, stolzen Gang, dem Schildchen mit dem überraschenden Namen Hannah auf ihrer linken Brust, dem Goldkreuz in der Halsbeuge und dem hochgewachsenen schlanken Körper, der so unnahbar wirkt hinter den Knöpfen der blau-weißen Schwesterntracht und doch, wenn sie aufsteht und zwischen den Betten umhergeht, so biegsam wie der einer Tänzerin. Sauber geflochtene Zopfreihen ziehen sich von ihrer Stirn nach hinten, wo das Haar sich kräuseln darf, der Zweckmäßigkeit halber jedoch kurzgeschnitten ist.
Und eigentlich geht gar nichts vor zwischen uns, dieser Diplomschwester Hannah und mir, außer daß wir einander für immer längere Sekundenbruchteile ansehen, während sie in fürsorglich-strengem Ton ihre Fragen an unseren Patienten richtet und ich diese Fragen getreulich ins Kinyarwanda übersetze und wir beide warten – manchmal viele Minuten lang, scheint mir –, daß der arme Mann eine Antwort murmelt, in der Sprache seiner afrikanischen Kindheit, die für ihn offenbar die letzte seiner Erinnerungen sein soll.
Doch dies ist nur einer von vielen Akten der Nächstenliebe, die Diplomschwester Hannah ihm erweist, gemeinsam mit einer zweiten Schwester, Grace, die mit jamaikanischem Akzent spricht und die am Kopfende des Bettes steht, sein Erbrochenes wegwischt und seine Infusionen und Schlimmeres kontrolliert, und auch Grace ist ein guter Mensch und, aus dem Ton und den Blicken zwischen den beiden zu schließen, Hannahs Kameradin und Vertraute.
Und ich sollte dazusagen, daß ich jemand bin, der Krankenhäuser haßt, wirklich haßt, und der eine tiefsitzende Aversion gegen die Gesundheitsindustrie hat. Blut, Spritzen, Bettpfannen, Wägelchen mit Scheren darauf, Desinfektionsgerüche, kranke Menschen, tote Hunde und überfallene Dachse am Straßenrand, schon die Vorstellung davon versetzt mich in Panik, wie es bei wohl jedem Mann der Fall wäre, der in einer Reihe höchst unhygienischer afrikanischer Buschkrankenhäuser um seine Mandeln, den Blinddarm und die Vorhaut erleichtert worden ist.
Und ich bin ihr zuvor schon begegnet, dieser Diplomschwester. Nur ein einziges Mal. Dennoch ist sie mir, wie mir jetzt klar wird, über drei Wochen hinweg im Gedächtnis geblieben, und dies nicht nur als der gute Geist dieses trostlosen Ortes. Wir haben sogar miteinander gesprochen, auch wenn sie sich vermutlich nicht erinnert. Bei meinem allerersten Besuch hier sollte sie für mich das Formular unterzeichnen, mit dem ich nachweisen muß, daß ich meine Aufgaben zur Zufriedenheit meiner Auftraggeber erfüllt habe. Sie lächelte, legte den Kopf schief, als müßte sie erst überlegen, ob sie wirklich in aller Ehrlichkeit bestätigen konnte, daß sie zufrieden mit mir war, bevor sie beiläufig einen Filzstift hinterm Ohr hervorzog. Die Geste, die von ihrer Seite gewiß völlig unbewußt war, wirkte in mir nach. In meiner überhitzten Phantasie erschien sie mir als Vorstufe zum Ausziehen.
Aber an diesem Abend sind mir solch ungehörige Gedanken fern. Dieser Abend steht ganz im Zeichen der Arbeit, und wir sitzen am Bett eines Sterbenden. Und Hannah, die professionelle Pflegerin, die wahrscheinlich jeden Tag schon vor Mittag an mindestens drei Sterbebetten sitzt, hat sämtliche Gefühle, die hier nichts zu suchen haben, weit weg verbannt, also mache ich es genauso.
»Fragen Sie ihn nach seinem Namen, bitte«, befiehlt sie mir in einem Englisch, in dem der Hauch eines französischen Akzents mitschwingt.
Sein Name, wie er uns nach längerem Nachsinnen wissen läßt, ist Jean-Pierre. Und zur Sicherheit schiebt er noch nach, so grimmig, wie es seine geschwächte Verfassung zuläßt, daß er ein Tutsi und stolz darauf ist, eine Zusatzinformation, die Hannah und ich in schweigendem Einverständnis übergehen, nicht zuletzt deshalb, weil die Vermutung ohnehin nahelag: Mit seinen hohen Backenknochen und dem langen Hinterkopf ist Jean-Pierre – im Gegensatz zu vielen seiner Stammesgenossen – trotz aller Schläuche ein Bilderbuch-Tutsi.
»Jean-Pierre, und wie weiter?« fragt sie mit der gleichen Strenge wie vorhin, und ich übersetze.
Kann Jean-Pierre mich nicht hören oder zieht er es vor, keinen Nachnamen zu haben? Die Pause, in der wir auf seine Antwort warten, gibt uns Gelegenheit zu unserem ersten langen Blick, oder zumindest einem Blick, der zu lange währt für ein bloßes Sich-Vergewissern, daß der andere auch zuhört – zumal wir beide schweigen, und Jean-Pierre sowieso.
»Fragen Sie ihn bitte, wo er wohnt«, sagt sie, wobei sie ihre Kehle diskret freiräuspert von einer Beklemmung, wie auch ich sie verspüre, nur daß sie mich diesmal zu meiner Überraschung und meinem Entzücken als Landsmann anspricht, auf Swahili. Und als wäre das noch nicht Glückes genug, spricht sie mit dem köstlich vertrauten Akzent des Ostkongo!
Aber ich bin zum Arbeiten hier. Die Schwester hat unserem Patienten eine Frage gestellt, also muß ich sie übersetzen. Das tue ich. Und dann übersetze ich seine Antwort darauf, übersetze sie aus Jean-Pierres Kinyar-wanda direkt in Hannahs tiefbraune Augen, in ein Swahili, dem ich fast ums Haar die gleiche Färbung verleihe, wie ihres sie hat.
»Ich wohne auf der Hampsteader Heide«, teile ich ihr mit und wiederhole Jean-Pierres Worte so exakt, als wären es unsere eigenen, »unter einem Busch. Und dahin gehe ich zurück, wenn ich rauskomme aus diesem« – Pause – »Loch« – das Epitheton, das er diesem Loch verleiht, unterschlage ich aus Anstandsgründen lieber. »Hannah«, fahre ich fort, auf Englisch nun, vielleicht um ein klein wenig Druck wegzunehmen. »Bitte. Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
Worauf sie mir ohne das geringste Zögern ihre Stammeszugehörigkeit nennt: »Ich bin aus der Gegend von Goma in Nord-Kivu, vom Stamm der Nande«, antwortet sie. »Und dieser arme Ruander ist der Feind meines Volkes.«
Und es ist die Wahrheit, die reine, ungeschminkte Wahrheit, daß ihr rasches Einatmen dabei, ihre sich ganz leicht weitenden Pupillen, dieser dringliche Appell an mein Verständnis, vor meinen Augen schlagartig die ganze Tragödie ihres geliebten Kongo erstehen läßt: die abgezehrten Leichname ihrer Angehörigen und Freunde, die unbestellten Felder und toten Herden und niedergebrannten Städte, die einmal ihr Heimatland waren, bis die Ruander über die Grenze einfielen, den Ostkongo zum blutigen Schlachtfeld ihres Bürgerkriegs machten und unsagbare Greuel über ein Land hereinbrechen ließen, das auch so schon vor die Hunde ging.
Erst wollten die Eindringlinge nur die génocidaires zur Strecke bringen, die binnen hundert Tagen von Hand eine Million ihrer Landsleute ermordet hatten. Aber aus einer hitzigen Verfolgungsjagd wurde schon bald eine fröhliche Balgerei um die Bodenschätze Kivus, worauf das Land, das zuvor schon auf der Kippe gestanden hatte, endgültig im Chaos versank – wie ich verzweifelt Penelope zu erklären versuchte, die es als gewissenhafte britische Mainstream-Journalistin lieber hat, nur das zu wissen, was alle anderen auch wissen. Liebling, sagte ich, hör zu, ich weiß, daß du viel um die Ohren hast. Ich weiß, daß deine Zeitung ihre Leser nicht verschrecken will. Aber ich bitte dich, ich flehe dich an, schreibt darüber, ausnahmsweise, damit die Welt erfährt, was sich im Ostkongo abspielt. Über vier Millionen Tote, beschwor ich sie. Allein in den letzten fünf Jahren. Die Menschen nennen es Afrikas Ersten Weltkrieg, und ihr nennt es gar nichts. Und denk nicht, es wäre ein ordinärer Piff-Paff-Krieg. Es sind nicht Kugeln und pangas und Handgranaten, die das Töten besorgen. Es sind Cholera, Malaria, Durchfall und der gute altmodische Hungertod, und die meisten Opfer sind unter fünf. Und sie sterben immer weiter, zu Tausenden, jeden Monat. Da muß doch eine Story drinsein. Ja, es war eine drin. Auf Seite 29, neben dem Kreuzworträtsel.
Wie war ich an meine unbehaglichen Erkenntnisse gekommen? Indem ich tiefnachts wach im Bett lag und darauf wartete, daß Penelope endlich heimkam. Indem ich den BBC-World-Service und obskure afrikanische Radiosender hörte, während sie nächtliche Abgabefristen einhielt. Indem ich allein in Internet-Cafés herumsaß, während sie ihre Informanten zum Essen ausführte. Aus heimlich gekauften afrikanischen Zeitschriften. Von Kundgebungen, bei denen ich in dickem Parka und Pudelmütze ganz hinten stand, während sie bei Wochenendseminaren auffrischen ließ, was immer gerade der Auffrischung bedurfte.
Aber die verstohlen gähnende Grace, rechtschaffen müde so kurz vor Schichtende, weiß all dies nicht, und wie sollte sie? Sie hat nicht das Kreuzworträtsel gemacht. Darum kann sie auch nicht wissen, daß Hannah und ich soeben an einem symbolischen Akt der Versöhnung teilhaben. Vor uns liegt ein sterbender Ruander, der sich Jean-Pierre nennt. An seinem Bett sitzt eine junge kongolesische Frau namens Hannah,
die dazu erzogen worden ist, in Menschen wie JeanPierre die alleinig Schuldigen am Elend in ihrer Heimat zu sehen. Aber kehrt sie ihm deshalb den Rücken? Ruft sie nach einer Kollegin oder überläßt sie ihn der gähnenden Grace? Sie tut nichts dergleichen. Sie nennt ihn diesen armen Ruander und hält seine Hand.
»Fragen Sie ihn bitte, wo er vorher gewohnt hat, Salvo«, sagt sie förmlich in ihrem frankophonen Englisch.
Und wieder warten wir oder vielmehr, Hannah und ich blicken einander an, mit der benommenen, entkörperlichten Ungläubigkeit zweier Menschen, die einer himmlischen Vision teilhaftig werden, sie beide ganz allein, denn nur sie beide haben Augen zu sehen. Aber Grace ahnt etwas. Grace verfolgt den Fortgang unserer Beziehung jetzt mit nachsichtigem Interesse.
»Jean-Pierre, wo haben Sie gewohnt, bevor Sie unter Ihren Busch gezogen sind?« frage ich mit der gleichen bewußten Geschäftsmäßigkeit wie Hannah.
Gefängnis.
Und vor dem Gefängnis?
Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, ehe er mir eine Londoner Adresse und Telefonnummer nennt, aber er nennt sie, und ich übersetze sie für Hannah, und Hannah langt sich wie schon einmal hinters Ohr, bevor sie sie mit dem Filzstift in ihren Notizblock schreibt, das Blatt dann herausreißt und es an Grace weiterreicht, die sich zwischen den Betten des Saals hindurchschlängelt, um zu telefonieren – nur ungern, denn jetzt möchte sie nichts verpassen. Worauf unser Patient, hochfahrend wie aus einem bösen Traum, sich kerzengerade hinsetzt mit all seinen Schläuchen im Leib und mit der ganzen Grobheit und Drastik seines heimatlichen Kinyarwanda wissen will, was ihm verfickt noch mal fehlt und warum die Polizei ihn gegen seinen Willen hierherverfrachtet hat. Und an diesem Punkt bittet mich Hannah, auf Englisch und mit einer Stimme, die nun doch eine Spur brüchig klingt, ganz genau wiederzugeben, was sie gleich zu ihm sagen wird, wortwörtlich, ohne irgend etwas hinzuzufügen oder wegzulassen, auch wenn Sie es aus Rücksicht auf unseren Patienten gern täten, Salvo – unser Patient, diese Vorstellung beherrscht uns längst beide zur Gänze. Und mit nicht minder brüchiger Stimme versichere ich ihr, daß es mir nie einfallen würde, irgendeine Aussage von ihr zu beschönigen, so hart es mich auch ankommen mag.
»Wir haben nach dem Urkundsbeamten geschickt, und er kommt, so schnell er kann.« Hannah spricht sehr betont und läßt zwischendurch – mit deutlich mehr Verstand als das Gros meiner Klienten – Pausen, damit ich Zeit habe zum Übersetzen. »Ich muß Ihnen mitteilen, Jean-Pierre, daß bei Ihnen eine akute Entgleisung der Blutwerte vorliegt, die meiner Einschätzung nach zu weit fortgeschritten ist, als daß wir noch etwas tun könnten. Es tut mir sehr leid, aber das ist die Situation, und wir müssen sie akzeptieren.«
Und doch ist ihr Blick voll Hoffnung bei diesen Worten, voll klarem, freudigem Glauben an eine Erlösung. Wenn Hannah mit einer so schlimmen Nachricht fertig wird, sagt dieser Blick, dann kann auch JeanPierre damit fertig werden, und ich kann es erst recht. Und als ich ihre Botschaft annähernd wiedergegeben habe – wortwörtlich geht derlei nur in der Vorstellung der Laien, da kaum ein Ruander vom Bildungsstand dieses armen Mannes mit Begriffen wie »akute Entgleisung der Blutwerte« etwas anfangen kann –, läßt sie ihn durch mich wiederholen, was sie gerade gesagt hat, damit sie weiß, daß er es weiß, und er es auch weiß und ich weiß, daß sie beide es wissen, so daß keiner mogeln kann.
Und als Jean-Pierre ihre Botschaft mürrisch wiederholt hat und ich sie zurückübersetzt habe, fragt sie mich: Hat Jean-Pierre irgendwelche Wünsche, während er darauf wartet, daß seine Angehörigen kommen? Womit sie ihm, wie wir beide wissen, verdeckt zu verstehen gibt, daß er höchstwahrscheinlich sterben wird, ehe sie da sind. Was sie nicht fragt, und ich somit auch nicht, das ist, wieso er im Freien kampiert hat, statt heimzugehen zu Frau und Kindern. Aber solch persönliche Fragen verletzen ihrem – und auch meinem – Gefühl nach seine Intimsphäre. Denn warum sollte ein ruandischer Mann sich zum Sterben unter einen Busch in der Hampsteader Heide legen, wenn nicht, um für sich zu sein?
Dann plötzlich merke ich, daß sie nicht nur die Hand des Patienten hält, sondern meine gleich mit. Und Grace merkt es auch und ist beeindruckt, aber nicht auf voyeuristische Weise, denn Grace weiß genau wie ich, daß ihre Freundin Hannah keine Frau ist, die mit dem erstbesten Dolmetscher Händchen hält. Da liegen sie beide, meine rehbraune halbkongolesische Hand und Hannahs richtig schwarze mit der rosaweißen Handfläche, ineinander verschlungen auf dem Bett eines Ruanders und Feinds. Und das hat nichts mit Sex zu tun – wie sollte es, zwischen uns stirbt ein Mensch –, sondern mit Verbundenheit und gegenseitiger Tröstung, während wir uns um unseren gemeinsamen Patienten bemühen.
Weil ihr dies alles nicht weniger unter die Haut geht als mir. Der Anblick dieses armen sterbenden Mannes berührt sie, auch wenn sie den ganzen Tag, jeden Tag in der Woche, solche Männer sieht. Es berührt sie, wie wir uns unseres erklärten Feindes annehmen, ihn lieben im Geiste des Evangeliums, von dem ihr Goldkreuz spricht. Und meine Stimme berührt sie. Sooft ich vom Swahili ins Kinyarwanda übersetze und umgekehrt, senkt sie ergriffen die Lider. Ergriffen, weil wir – und mit jedem meiner Blicke sage ich es ihr neu – die Menschen sind, nach denen wir unser Leben lang gesucht haben.
* * *
Nicht daß wir uns von da an bei den Händen hielten – wie auch? –, aber wir behielten einander innerlich im Blick. Ob sie mir ihren langen Rücken kehrte, sich über den Patienten beugte, ihn anhob, seine Wange streichelte oder die Geräte überprüfte, an die Grace ihn angeschlossen hatte: sooft sie sich zwischendurch zu mir wandte, war ich für sie da und sie für mich. Und alles, was dann folgte – daß ich draußen vor den neonbeleuchteten Torpfosten auf das Ende ihrer Schicht wartete und sie mit niedergeschlagenen Augen zu mir herauskam und wir uns als gute, schüchterne Missionskinder nicht umarmten, sondern nur Hand in Hand wie zwei ernsthafte Studenten den Hügel zu ihrem Schwesternheim hinaufstiegen, durch eine enge Gasse, in der es nach asiatischem Essen roch, zu einer mit einem Vorhängeschloß gesicherten Tür, die sie mit ihrem Schlüssel aufschloß –, alles das war getragen von den Blicken, die wir am Bett unseres sterbenden ruandischen Patienten gewechselt hatten, und der Verantwortung, die wir füreinander gespürt hatten angesichts dieses Lebens, das hier vor unseren Augen zu Ende ging.
Weshalb wir, wenn wir uns nicht gerade liebten, Gespräche einer Art führen konnten, wie ich sie seit dem Tod von Pater Michael nicht mehr gekannt hatte – mein einziger Vertrauter in all den Jahren war Mr. Anderson gewesen: keine rechte Konkurrenz für eine schöne, lachende, verlangende afrikanische Frau, deren Solidarität allein den Leidenden dieser Welt gilt und die nichts von einem fordert, in keiner Sprache, das man nicht liebend gern gibt. Die Fakten unseres Lebens übermittelten wir einander auf Englisch. Für die Liebe sprachen wir französisch. Und für unsere Träume von Afrika, was taugte da besser als das kongolesisch gefärbte Swahili unserer Kindheit mit seinem spielerischen Gemisch aus Frohsinn und Hintersinn? Innerhalb von zwanzig schlaflosen Stunden war Hannah zu der Schwester, Geliebten und Vertrauten geworden, die mir in den langen Wanderjahren meiner Jugend so hartnäckig versagt geblieben war.
Haben wir über Schuld gesprochen – wir zwei braven Christenkinder, zur Gottesfurcht erzogen und nun auf einmal Ehebrecher vor dem Herrn? Keine Sekunde lang. Wir sprachen über meine Ehe, und ich erklärte sie, mit ganz neuer Gewißheit, für tot. Wir sprachen von Hannahs kleinem Sohn Noah, den sie bei ihrer Tante in Uganda gelassen hatte, und wünschten ihn beide herbei. Wir legten feierliche Schwüre ab und diskutierten über Politik und verglichen Erinnerungen und tranken Preiselbeersaft mit Sprudel und ließen uns Pizza kommen und liebten uns bis zum letzten Moment, bevor sie widerstrebend ihre Schwesterntracht anzieht, meinen Bitten um eine allerletzte Umarmung widersteht und den Hügel hinunter zum Krankenhaus eilt, zu dem Anästhesie-Kurs, den sie belegt hat, und dann zur Nachtwache bei ihren sterbenden Patienten, während ich mich hektisch nach einem Taxi umsehe, weil die U-Bahn seit den Terroranschlägen bestenfalls sporadisch verkehrt und der Bus zu lange braucht und die Zeit, um es gelinde zu sagen, drängt. Aber ihre Abschiedsworte klingen mir immer noch im Ohr. »Salvo« – auf Swahili, die Hände um meine Schläfen gelegt und in beglücktem Staunen den Kopf schüttelnd –, »als deine Mutter und dein Vater dich gezeugt haben, da muß ihre Liebe sehr groß gewesen sein.«