13

Bis heute will es mir nicht recht gelingen, all die widerstreitenden Empfindungen zu beschreiben, von denen ich gebeutelt wurde, als ich aus meinem Untergrundverlies auftauchte und mich wieder zu dem kleinen Häufchen von Gläubigen gesellte, das sich zur letzten Sitzung im Spielzimmer einfand. Unten im Keller hatte ich keine Hoffnung mehr für die Menschheit gesehen, aber auf meinem Weg durch den Bogengang redete ich mir ein, im Stand der Gnade zu sein. Ich blickte hinaus auf die Welt und war überzeugt, ein Sommergewitter müßte in meiner Abwesenheit die Luft gereinigt und jedes Blatt, jeden Grashalm in neuen Glanz getaucht haben. Der Pavillon glich einem griechischen Tempel im Licht der Nachmittagssonne. Ich feierte eine wundersame Auferstehung, bildete ich mir ein: Hajs und meine eigene gleichermaßen.

Mein zweiter Trugschluß, um nichts löblicher als der erste, war, daß mein Denkvermögen durch die wiederholten Unterwassereinsätze gelitten hatte, weshalb ich nun überall Gespenster sah: die gesamte Folge von Ereignissen, angefangen mit Hajs Schrei und endend mit seinem schmalzigen Liedlein, war nichts als eine durch Reizüberflutung hervorgerufene Halluzination, unser Audio-Duell auf der Steintreppe ebenso, und gleiches galt für jegliche anderen unguten Phantasien von Zetteln, die von Hand zu Hand gegangen,

und Bestechungssummen, die ausgehandelt worden waren.

Und ich hoffte sehr, diese bequeme Theorie verifizieren zu können, als ich mich auf meinen Platz an dem grünbespannten Tisch setzte und die Blicke rasch über die Mitspieler in meinem illusorischen Drama schweifen ließ, beginnend mit Anton, der sich mit einem Stapel ockerfarbener Aktenmappen bewaffnet hatte und diese in dem ihm eigenen zackigen Stil auf alle Plätze verteilte. Weder an seiner Kleidung noch an seiner sonstigen Erscheinung wies irgend etwas auf kürzliche körperliche Ertüchtigung hin. Seine Fingerknöchel waren leicht gerötet, ansonsten keine Schrammen. Schuhspitzen blitzblank, Bügelfalten rasiermesserscharf. Benny war nirgends zu sehen: Grund genug für mich zu glauben, er habe die Mittagspause über Kindermädchen für Jasper gespielt.

Da weder von Philip noch von Haj etwas zu sehen war, faßte ich Tabizi ins Auge, der unruhig wirkte. Aber wie auch nicht, schließlich stand die Bahnhofsuhr auf zwanzig nach vier, und die Stunde der Wahrheit nahte. Neben ihm saß sein Herr und Meister, der Mwangaza. So wie die Sonne auf seinem Sklavenhalsband blitzte und sein weißes Haar zum Heiligenschein erstrahlen ließ, schien unser Lichtbringer die perfekte Verkörperung von Hannahs sämtlichen Träumen. Konnte er tatsächlich derselbe sein, der in meiner Phantasie den Volksanteil für die schweigende Duldung durch die Profitgeier in Kinshasa verkauft hatte?

Auf des Mwangazas anderer Seite schmunzelte der glatte Delphin sein frohgemutes Delphinschmunzeln.

Und was Maxie betraf, so lümmelte der sich neben Philips leerem Stuhl, die Beine weit ausgestreckt, und sein bloßer Anblick reichte schon aus, um mich zu überzeugen, daß ich derjenige mit der verzerrten Wahrnehmung war und alle rings um mich die, die sie zu sein behaupteten.

Wie zur Bestätigung erscheint durch die innere Tür mein Retter Philip. Er winkt Dieudonné und Franco zu. Als er an Tabizi vorbeigeht, murmelt er ihm etwas ins Ohr. Tabizi quittiert es mit ausdruckslosem Nicken. Dann kommt er zu dem Platz, der für Haj reserviert ist, zaubert einen zugeklebten Umschlag aus seiner Jackentasche hervor und schiebt ihn wie ein Trinkgeld in die ockerfarbene Mappe, die unseres säumigen Delegierten harrt. Erst danach nimmt er seinen Sitz am anderen Ende des Tisches ein, und mit meiner Verdrängungsphase – danke, Paula – ist es gründlich vorbei. Ich weiß, daß Philip mit London gesprochen und sich zu dem Mann durchstellen lassen hat, der ja sagt. Und so finster, wie Tabizi schaut, weiß ich auch, daß Haj die Schwäche des Syndikats richtig eingeschätzt hat: Die Vorbereitungen sind zu weit fortgeschritten, jetzt aufgeben käme zu teuer, sie haben schon so viel investiert, daß sie ebensogut noch etwas nachlegen können, und mit einem Rückzieher zu solch spätem Zeitpunkt verspielen sie eine Chance, wie sie sich ihnen so bald nicht noch einmal bietet.

Im selben harschen Licht der Realität betrachte ich mir den Mwangaza von neuem. Ist sein Heiligenschein gefönt? Haben sie ihm einen Ladestock das Rückgrat hinuntergerammt? Ist er längst tot und nur im Sattel festgebunden wie El Cid? Für Hannah war er in den Glorienschein ihres Idealismus getaucht, aber nun da ich einen klaren Blick auf ihn habe, offenbart sich in seinen zerknitterten Zügen die ganze traurige Abwärtskurve seines Lebens. Unser Lichtbringer ist ein Gescheiterter. Er war tapfer – man sehe sich seine Vita an. Er war ein Leben lang gewitzt, gewissenhaft, loyal und einfallsreich. Er hat alles richtig gemacht, aber die Krone ging jedesmal an den Mann neben oder den Mann unter ihm. Und das lag daran, daß er nicht rücksichtslos genug war, nicht korrupt genug, nicht doppelzüngig genug. Diesmal wird er es sein. Er wird das Spiel mitspielen, gegen alle seine Überzeugungen. Und die Krone ist zum Greifen nahe, doch was nützt das? Denn sollte er sie jemals tragen dürfen, so wird sie den Leuten gehören, an die er sich auf seinem Weg an die Spitze verkauft hat. Jeder seiner Träume ist mit einer zehnfachen Hypothek belastet. Allen voran der Traum, er müßte, wenn er erst an der Macht ist, seine Schulden nicht mehr begleichen.

Haj ist erst ein paar Minuten überfällig, aber auf mich wirkt es wie eine Ewigkeit. Alle um den Tisch haben ihre ockerbraune Mappe aufgeschlagen, also schlage ich meine auch auf. Das Dokument darin kommt mir bekannt vor, was nicht weiter verwunderlich ist, schließlich habe ich es in einem früheren Leben aus dem Französischen ins Swahili übersetzt. Beide Versionen sind im Angebot. Dazu ein Dutzend Seiten imposanter Zahlen und Berechnungen, alle, soweit ich sehen kann, für eine ferne Zukunft veranschlagt: Fördermengen, Transportkosten, Lagerkosten, Absatzvolumen, Gewinne, alles feinste Schätzungen, alles gröbster Betrug.

Jetzt hebt Philip das gepflegte weiße Haupt. Ich sehe es am oberen Rand meines Gesichtsfelds, während ich die Mappe durchblättere. Er lächelt jemandem hinter mir zu, ein warmes, ein kumpelhaftes, ja intimes Lächeln, also Vorsicht. Über die Steinfliesen klacken Krokosohlen heran, und mir wird flau im Magen. Ihr Tempo ist schleppender als gewohnt. Haj schlendert auf den Tisch zu, Sakko offen, senfgelbes Futter hervorblitzend, Parker-Füller wieder vollzählig, gegelte Stirnlocke mehr oder weniger da, wo sie sein soll. Im Herz-Jesu-Heim schuldete man es sich, unbekümmert aufzutreten, wenn man sich nach einer Tracht Prügel zu den Klassenkameraden gesellte. Haj läßt sich von dem gleichen Ethos leiten. Seine Hände sind in die Hosentaschen geschoben, sichtlich ihr liebster Platz, und er wiegt sich in den Hüften. Dabei weiß ich, daß jede Bewegung ihm Qualen bereiten muß. Auf halbem Weg zu seinem Stuhl bleibt er stehen, fängt meinen Blick auf und grinst mir zu. Ich habe meine Mappe vor mir, und sie ist aufgeschlagen, also könnte ich vage lächeln und zu meiner Lektüre zurückkehren. Aber das tue ich nicht. Ich schaue ihm geradewegs ins Gesicht.

Ich schaue ihm ins Gesicht, und er schaut zurück, und so verharren wir. Wie lange, das kann ich im Rückblick nicht sagen. Ich nehme nicht an, daß der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr mehr als einen oder zwei Striche vorrückte. Aber auf jeden Fall lange genug, um ihm zu zeigen, daß ich Bescheid wußte, wenn denn einer von uns jemals daran gezweifelt hatte. Und lange genug, um mir zu zeigen, daß er wußte, daß ich Bescheid wußte, und so immer hin und her. Und lange genug, um für einen eventuellen Beobachter klarzustellen, daß wir entweder zwei Homosexuelle sein mußten, die Balzsignale aussandten, oder aber zwei Männer, die ein verbotenes Wissen miteinander teilten, was genausowenig angehen konnte. Seine Glupschaugen schauten etwas trübe, aber wie auch nicht, nach dem, was er durchgemacht hatte? Bezichtigten sie mich des Verrats an ihm? Bezichtigte ich ihn des Verrats an sich selbst, und am Kongo? Heute, mit all diesen Tagen und Nächten zu meiner Verfügung, um über unseren Blickwechsel nachzusinnen, sehe ich ihn als einen Moment verdeckten gegenseitigen Erkennens. Beide waren wir Hybriden: ich durch meine Geburt, er durch seine Bildung. Beide hatten wir uns zu viele Schritte von dem Land entfernt, das uns hervorgebracht hatte, um noch irgendwo wirklich hinzugehören.

Er setzte sich unter leichtem Zusammenzucken und entdeckte den weißen Umschlag, der aus seiner Mappe hervorspitzte. Er fischte ihn mit Daumen und Zeigefinger heraus, roch daran und öffnete ihn dann vor aller Augen. Er faltete ein postkartengroßes Stück weißes Papier auf, einen Computerausdruck, so wie es aussah, und überflog den zweizeiligen Text, der vermutlich in angemessen verklausulierter Sprache den Sonderdeal bestätigte, den er für sich und seinen Vater herausgeschlagen hatte. Ich hätte erwartet, daß er Philip vielleicht ein Nicken zukommen lassen würde, aber das schenkte er sich. Er knüllte das Blatt zusammen und versenkte es – mit beachtlicher Zielsicherheit, wenn man seine Verfassung bedachte – in einer Porzellanurne, die in einer Zimmerecke stand.

»Volltreffer!« rief er auf Französisch und warf die Hände über den Kopf, was ihm nachsichtiges Gelächter seitens der Tafelrunde eintrug.

Ich übergehe das langwierige Gefeilsche, die endlosen Haarspaltereien, mittels derer Delegierte jeder Provenienz sich beweisen müssen, daß sie die Interessen ihrer Firma oder ihres Stammes zu wahren wissen und mehr auf dem Kasten haben als der Delegierte neben ihnen. Für mich war es eine Spanne, in der ich auf Autopilot schalten und zusehen konnte, wie ich meinen Kopf und meine Emotionen wieder unter Kontrolle brachte, während ich gleichzeitig mit allen verfügbaren Mitteln – hauptsächlich durch völlige Gleichgültigkeit gegenüber jeglichen Äußerungen von Haj – den Eindruck zu zerstreuen versuchte, zwischen ihm und mir gäbe es irgendeine Form von (um ein Lieblings-Schlagwort eines meiner Sicherheitsausbilder zu benutzen) »lateraler Beeinflussung«. Insgeheim schlug ich mich mit der Angst herum, Haj könnte unsichtbare Verletzungen davongetragen haben, innere Blutungen etwa, aber ich sah mich beruhigt, als die heikle Frage nach der offiziellen Besoldung des Mwangaza aufs Tapet kam.

»Aber, Mzee«, protestiert Haj und wirft auf die alte Weise den Arm hoch. »Mit Verlaub, Mzee. Einen Augenblick« – auf Französisch, das ich, weil der Sprecher Haj ist, tonlos der Perrierflasche übermittle – »diese Zahlen sind schlicht und einfach lachhaft. Ich meine,

Scheiße auch« – ein nachdrücklicher Appell an seine beiden Gefährten –, »könnt ihr euch vorstellen, daß unser Erlöser auf derart kleinem Fuß lebt? Ich meine, was wollen Sie essen, Mzee? Wer soll Ihre Miete bezahlen, Ihre Benzinkosten, Ihre Reisen, Ihre Unterhaltung? All diese notwendigen Aufwendungen sollten aus der Staatskasse bestritten werden, nicht von Ihrem Schweizer Konto.«

Falls Haj einen wunden Punkt berührt hatte, war Gleichmut um so gebotener. Tabizis Miene erstarrte, aber er hatte ohnehin schon recht versteinert dreingeschaut. Philips Lächeln verlor keinen Deut seiner Liebenswürdigkeit, und der Delphin, der anstelle seines Herrn und Meisters antwortete, tat dies ohne eine Sekunde des Zögerns.

»Solange unser geliebter Mwangaza der vom Volk erkorene Anführer ist, wird er leben, wie er immer gelebt hat, das heißt von seinem einfachen Lehrergehalt und den bescheidenen Einnahmen durch seine Bücher. Er dankt Ihnen für Ihre sehr gute Frage.«

Felix Tabizi tappt um den Tisch wie ein Menschenfresser, der sich als Chorknabe verkleidet hat. Aber es sind keine Notenblätter, die er verteilt, es ist etwas, das er notre petite aide-mémoire nennt – eine einseitige Umwandlungstabelle, die dem geneigten Leser aufschlüsselt, was sich in der realen Welt hinter solch unbeschwerten Ausdrücken wie Schaufel, Spaten, Spitzhacke, schwere und leichte Schubkarren und dergleichen mehr verbirgt. Und da die Information auf Swahili ebenso wie auf Französisch mitgeliefert wird, darf ich so stumm bleiben wie alle anderen im Raum, während philosophische Vergleiche zwischen Wörtern und Bedeutung gezogen werden.

Und bis zum heutigen Tag wüßte ich nicht zu sagen, was was war. Die besten leichten Schubkarren kamen aus Bulgarien, aber was zum Teufel stellten sie vor? Kanonen für die Bugnasen der weißen Hubschrauber? Fragen Sie mich, was eine Sichel war, oder ein Traktor , oder ein Mähdrescher, und ich wäre nicht minder aufgeschmissen. Kam mir der Gedanke, daß dies der Zeitpunkt sein könnte, aufzuspringen und dazwischenzufahren – so wie der tapfere kleine Herr in der Trattoria? Meine ockerbraune Mappe zusammenzurollen, damit auf den Tisch zu hauen: Ich muß sprechen, ich bin es mir schuldig, also spreche ich? Wenn ja, dann erörterte ich noch im stillen das Für und Wider, als die innere Tür sich öffnete, um unseren hochverdienten Notar Monsieur Jasper Albin einzulassen, eskortiert von Benny, seinem treusorgenden Hüter.

Jasper hat an Statur gewonnen. Am Morgen, als er stolz darauf schien, daß er nichts zu bieten hatte als seine Käuflichkeit, mangelte ihm deutlich daran – entsprechend groß ja auch meine Verwunderung, daß eine so kühne, finanziell so aufwendige Unternehmung ihre rechtliche Absicherung in solche Hände gelegt haben sollte. Nun jedoch sahen wir einen in seine Rolle hineingewachsenen Jasper, selbst wenn das Folgende reines Schmierentheater war – oder vielmehr Schmierenpantomime, da mein Gedächtnis die Tonspur des großen Dramas gnädigerweise weitgehend gelöscht hat.

Die Nachmittagssonne strömt unverändert zu den Terrassentüren herein. Kleine Stäubchen oder Tröpfchen von Abendtau schweben in ihren Strahlen, als Jasper aus seinem dickbäuchigen Aktenkoffer zwei identische Lederordner zutage fördert, die einem Schatzkanzler zur Ehre gereichen würden. In den Einband geprägt ist ein einziges Wort: Contrat. Nur mit den Fingerspitzen öffnet er erst den einen Ordner, dann den anderen, ehe er sich zurücklehnt, auf daß wir alle es sehen können: das Original, das alleingültige, mit Kordel gebundene, nicht einklagbare Dokument, die eine Fassung in Jaspers Französisch, die andere in meinem Swahili.

Als nächstes entnimmt er seinem Zauberkasten eine antiquierte Handpresse aus getüpfeltem grauen Metall, in der ich in meinem entkörperlichten Zustand flugs Tante Imeldas Zitronenpresse erkenne. Gefolgt wird sie von einem einzelnen A4-Blatt Wachspapier, auf dem acht rote Sterne zum Abziehen kleben, Sowjet-Stil, mit zusätzlichen Zacken. Auf einen Wink von Philip hin erhebe ich mich und stelle mich neben Jasper, während dieser sich an die Delegierten wendet. Seine Ansprache ist nicht eben zündend. Ihm wurde zu verstehen gegeben, informiert er uns, daß die Vertragspartner Einigkeit erzielt haben. Da er bei unseren Beratungen nicht zugegen war und da komplexe landwirtschaftliche Fragen nicht in seinen juristischen Zuständigkeitsbereich fallen, lehnt er jegliche Verantwortung für die agrartechnischen Einzelheiten des Vertrags ab, über welche im Streitfall vor Gericht entschieden werden muß. Während ich übersetze, meide ich Hajs Blick konsequent.

Philip fordert alle Vertragspartner auf, nach vorn zu kommen. Wie Kommunionskinder stellen sie sich einer hinter dem anderen auf, angeführt von Franco. Der Mwangaza, zu bedeutend, um Schlange zu stehen, hält sich etwas abseits, flankiert von seinen Gehilfen. Haj, den ich weiterhin geflissentlich übersehe, bildet die Nachhut. Franco beugt sich über meine SwahiliFassung, will schon unterzeichnen, da fährt er zornig zurück. Hat er eine Beleidigung entdeckt, ein schlechtes Omen? Und wenn nicht, warum werden ihm dann plötzlich die Augen naß? Das schlimme Bein hinter sich herziehend, dreht er sich um, so daß er Auge in Auge mit Dieudonné dasteht, seinem oftmaligen Feind und jetzt, für die Dauer welcher Zeit auch immer, seinem Waffenbruder. Seine gewaltigen Pranken ballen sich auf Schulterhöhe zu Fäusten. Will er seinen neuen Freund zum Einstand in Stücke reißen?

»Tu veux?« blafft er auf französisch – willst du das hier?

»Je veux bien, Franco«, erwidert Dieudonné leise – worauf die beiden Männer sich in die Arme fallen, so ungestüm, daß ich um Dieudonnés Rippen fürchte. Es folgen Rempler und Püffe. Franco, Tränen in den Augen, unterschreibt. Dieudonné schubst ihn weg und will ebenfalls unterzeichnen, aber Franco packt ihn am Arm: erst noch eine Umarmung! Schließlich kommt auch Dieudonné zu seiner Unterschrift. Haj verschmäht den bereitliegenden Füllfederhalter und zückt schwungvoll einen seiner eigenen. Ohne auch nur einen Blick auf den Text krakelt er eine wüste Unterschrift aufs Papier, zweimal – einmal für die SwahiliFassung, einmal für die französische. Philip applaudiert als erster, dann fällt das Lager des Mwangaza ein. Ich klatsche mit, was das Zeug hält.

Unsere Damen erscheinen mit Champagner. Wir stoßen an, Philip spricht einige wohlgesetzte Worte im Namen des Syndikats, der Mwangaza antwortet würdevoll, ich übersetze mit Verve. Man dankt mir, wenn auch nicht überschwenglich. Ein Jeep fährt im Hof vor. Der Mwangaza enteilt mit seinen Gehilfen. Franco und Dieudonné stehen in der Tür, halten sich nach Afrikanerart bei den Händen und rangeln, während Philip sie in Richtung Jeep zu scheuchen versucht. Haj derweil streckt mir die Hand hin. Ich nehme sie vorsichtig, weil ich ihm nicht weh tun will und auch, weil ich nicht weiß, wie die Geste gemeint ist.

»Haben Sie eine Visitenkarte?« fragt er. »Kann sein, daß ich ein Büro in London aufmache. Da könnte ich Sie vielleicht mal brauchen.«

Ich greife in die Taschen meines schweißdurchtränkten Tweedsakkos und fische ein Kärtchen heraus: Brian Sinclair, beeidigter Dolmetscher, wohnhaft in einem Postfach in Brixton. Er betrachtet es, betrachtet mich. Dann lacht er, aber nur leise, nicht das Hyänenkeckern, das wir von ihm gewohnt sind. Zu spät wird mir klar, daß er schon wieder auf Shi mit mir gesprochen hat, wie vorhin auf der Treppe zum Pavillon mit Dieudonné.

»Und wenn Sie mal nach Bukavu kommen möchten, schicken Sie mir eine Mail«, fügt er lässig hinzu, diesmal auf Französisch, und zieht aus den senfgelben Tiefen seines Jacketts ein Kartenetui aus Platin.

Seine Karte ist vor meinem geistigen Auge abgedruckt, während ich dies schreibe. Sie mißt gut acht mal fünf Zentimeter, mit Goldschnitt. Auf einer Borte innerhalb des Goldrands tummelt sich die Tierwelt Kivus von heute und einst: Gorilla, Löwe, Gepard und Elefant, ein ganzes Bataillon von Schlangen in fröhlichem Reigen, aber keine Zebras. Als Hintergrund scharlachrote Berge vor einem zartrosa Himmel, und auf der Rückseite die Silhouette eines beinewerfenden Revuegirls mit Champagnerglas in der Hand. Hajs Name und seine mannigfachen Qualifikationen sind mit dem Gepränge eines königlichen Erlasses aufgeführt, erst auf Französisch, dann Englisch, dann Swahili. Darunter kommen seine Geschäftsanschrift und die Privatadresse in Paris und Bukavu, gefolgt von einer Vielzahl von Telefonnummern. Und als ich die Karte noch einmal umdrehe, entdecke ich neben dem Revuegirl eine hastig mit Tinte gekritzelte E-Mail-Adresse.

* * *

Draußen im Bogengang sah ich mit Genugtuung, daß Spider und seine Gehilfen schon über das Gelände verteilt waren und mit der Eile, die so typisch ist für das Ende von Konferenzen, ihre ganzen schönen Vorrichtungen demontierten. Spider, in Steppweste und Schlägerkappe, stand breitbeinig auf Hajs Steintreppe und rollte pfeifend seine Kabel auf. Im Pavillon kletterten zwei Anoraks auf Trittleitern herum. Ein dritter kauerte auf allen vieren vor der steinernen Bank. Im Heizungskeller lehnte der U-Bahn-Plan mit dem Gesicht zur Wand, alle seine Drähte aufgerollt und verschnürt. Die Kassettenrecorder waren zurück in ihre schwarze Kiste gewandert.

Ein brauner Restesack, schon halb voll, stand mit offenem Schlund auf Spiders Schreibtisch, an dem die leeren Schubladen in bester Chatroom-Tradition herausgezogen waren. Jeder, der durch Mr. Andersons Hände gegangen ist, bleibt auf ewig seinen Vorschriften zur Eigensicherung verhaftet, von den Verhaltenstips für den Umgang mit dem Lebensabschnittsgefährten bis hin zu der goldenen Regel, niemals Apfelbutzen mit in den Restesack zu werfen, um nicht die vollständige Einäscherung von Geheimabfällen zu gefährden. Spider bildete da keine Ausnahme. Seine digitalen Tonbänder waren säuberlich etikettiert und numeriert, jedes in seinem eigenen kleinen Fach. Daneben lag das Heft mit seinen penibel geführten Tabellen. Unbenutzte Bänder, noch in ihren Gehäusen, stapelten sich ordentlich auf einem Bord gleich darüber.

Für meine Auswahl konsultierte ich die Tabellen. Die Spalte ganz vorne, handgeschrieben, listete die Bänder auf, die mir bekannt waren: Gästesuite, Königliche Gemächer etc. Ich nahm fünf heraus. Aber was enthielt die ebenfalls handgeschriebene Spalte ganz hinten? Wer oder was war S? Warum stand an der Stelle, wo der Standort der Mikrophone eingetragen gehört hätte, einfach nur S? S wie Spider? S wie Syndikat? S wie Sinclair? Oder – auch kein schlechter Gedanke! – S wie Satellit? War es denkbar, daß Philip oder Maxie oder Sam oder Lord Brinkley oder einer seiner namenlosen Partner – oder sie alle zusammen – zu Selbstschutzzwecken, fürs Protokoll, für das Archiv,

ihre eigenen Telefonate abgehört hatten? Durchaus denkbar, entschied ich. Drei der Bänder waren mit einem Kugelschreiber-S markiert. Ich griff mir drei leere, markierte ihre Rücken mit dem gleichen S und nahm die Originale an mich.

Als nächstes galt es, die Bänder an meinem Körper zu verstecken. Zum zweitenmal seit meinem erzwungenen Kostümwechsel war ich dankbar für das Tweedsakko. Mit seinen übergroßen Innentaschen schien es wie gemacht für den Zweck. Der Bund meiner grauen Flanellhose war nicht weniger gastlich, aber meine Stenoblöcke hatten steife Deckel, und sie waren spiralgebunden. Ich überlegte noch, wie ich am besten mit ihnen verfahren sollte, als ich Philips Stimme hörte, die samtige Version, die Bühnenstimme.

»Brian, unser Held. Hier stecken Sie also. Ich wollte Ihnen die ganze Zeit schon gratulieren. Jetzt kann ich es endlich.«

Er lehnte in der Tür, einen roségewandeten Arm gegen den Rahmen gestützt, die weichsohligen Schuhe behaglich gekreuzt. Mir lag schon ein artiger Dank auf der Zunge, als mir gerade noch rechtzeitig einfiel, daß nach einer Spitzenvorstellung, wie ich sie hingelegt hatte, ein ausgepumpter, leicht ungnädiger Star eher überzeugen würde.

»Freut mich, daß Sie zufrieden waren«, sagte ich.

»Und jetzt wird aufgeräumt?«

»Genau.«

Zum Beweis warf ich einen meiner Blöcke in den Restesack. Als ich mich wieder umwandte, prallte ich fast gegen Philip. Hatte er die Ausbeulungen um meine Bauchgegend bemerkt? Er hob die Hände, und ich dachte schon, er würde danach greifen, aber er langte an mir vorbei, um meinen Block wieder aus dem Restesack zu holen.

»Also, ich muß schon sagen« – er befeuchtete die Fingerspitze und blätterte andächtig durch mein Bleistiftgekritzel. »Kommt mir ja alles ziemlich spanisch vor – aber die Spanier würden auch nur Bahnhof verstehen, oder?«

»Mr. Anderson nennt es meine babylonische Keilschrift«, informierte ich ihn.

»Und diese kleinen Schnörkel am Rand, was sind die?«

»Anmerkungen für meine Wenigkeit.«

»Und was merkt Ihre Wenigkeit sich so an?«

»Stilistische Sachen. Versteckte Andeutungen. Feinheiten, auf die ich beim Übersetzen achten muß.«

»Wie zum Beispiel?«

»Aussagen als Fragen. Scherze, die nicht als Scherze gemeint sind. Sarkasmus. Sarkasmus funktioniert fast nie – beim Dolmetschen, meine ich. Er kommt nicht rüber.«

»Wirklich absolut faszinierend. Und das behalten Sie alles im Kopf?«

»Eben nicht. Deshalb schreibe ich es ja auf.«

Wie der Zollbeamte in Heathrow, dachte ich, der dich bei der Paßkontrolle aus der Schlange holt, weil du ein Zebra bist. Und der nicht etwa fragt, wo du dein Kokain versteckt hast oder ob du aus einem Al-Qaida-Trainingslager kommst. Sondern der sich erkundigt, wo du denn Urlaub gemacht hast und ob das Hotel angenehm war, während er deine Körpersprache beobachtet, auf ein verräterisches Schwanken in deiner Stimme lauert und verbucht, wie oft du blinzelst.

»Also, ich bin auf jeden Fall schwer beeindruckt. Sie haben großartige Arbeit geleistet. Oben, unten, überall«, sagte er, indem er den Stenoblock zurück in den Sack fallen ließ. »Und Sie sind verheiratet. Mit einer bekannten Journalistin.«

»Richtig.«

»Die eine Schönheit ist, wie ich höre.«

»Das sagen jedenfalls viele.«

»Sie müssen ein hübsches Paar abgeben.«

»Danke.«

»Aber denken Sie dran, zu viel Bettgeflüster kann Menschenleben kosten.«

Und weg war er. Um ganz sicherzugehen, schlich ich mich die Kellertreppe hoch und sah ihn gerade noch um die Hausecke verschwinden. Auf dem Hügel waren Spider und seine Truppe nach wie vor schwer am Schuften. Ich kehrte in den Heizungskeller zurück, zog den Block wieder aus dem Restesack und nahm auch die anderen drei an mich. Dann holte ich mir von einem Stapel vier neue, verknickte ihre Deckel ein bißchen, numerierte sie auf die gleiche Art wie meine gebrauchten und warf sie als Attrappen in den Sack. Meine Taschen und mein Hosenbund waren dem Platzen nahe. Mit zwei Kladden im Kreuz und einer in jeder Tasche stakste ich die Kellerstufen hinauf, den Bogengang entlang und durchs Haus in die relative Sicherheit meines Zimmers.

* * *

Es geht heimwärts, endlich! Wir sind gut tausend Meter überm Meeresspiegel. In jedem Käfig wird gefeiert, und zu Recht! Wir sind wieder wir, dieselbe Truppe, die vor vierundzwanzig Stunden im selben namenlosen Flugzeug in Luton losgeflogen ist: Jetzt kehren wir heim, Daumen hochgereckt, Vertrag in der Tasche, mit allen Chancen und dem Pokal praktisch schon in der Hand! Philip weilt nicht unter uns. Wo er hin ist, weiß ich nicht, und es schert mich auch nicht. Vielleicht zum Teufel, wo er hingehört. Die Vorhut bildet Spider mit einer improvisierten Kochmütze auf dem Kopf, der den Gang unseres Flugzeugs entlangtänzelt und an alle Plastikteller, Becher, Messer und Gabeln austeilt. Hinter ihm trottet Anton, ein Handtuch als Schürze um den Bauch gebunden, in den Händen den von unserem namenlosen Gönner spendierten Freßkorb aus dem Hause Fortnum & Mason in der Piccadilly. Und ihm dicht auf den Fersen latscht der sanfte Riese Benny mit einer Magnumflasche beinahe kalten Champagners. Nicht einmal unser Staranwalt Jasper im hintersten Käfig, in dem er sich auch auf dem Hinflug schon verschanzt hatte, kann sich der Feierstimmung entziehen. Zwar schlägt er zunächst mit großer Geste alles aus, aber nach einem Anraunzer von Benny und einem raschen Blick auf das Etikett der Flasche langt er wacker zu, so wie ich auch, denn ein Spitzendolmetscher, der das Letzte aus sich herausgeholt hat, darf niemals ein Spielverderber sein. Meine Plastikreisetasche schmiegt sich in das Netz über mir.

»Was für einen Eindruck hatten Sie von ihnen, alter Junge?« Maxie geht in bewährter Lawrence-von-Arabien-Manier neben mir in die Hocke, Becher in der Hand. Und es tut richtig gut, unseren Skipper zur Abwechslung mal mit einem ernstzunehmenden Drink zu sehen statt immer nur mit Malvern Water. Es tut gut, ihn so aufgedreht zu sehen, so stolzgeschwellt.

»Von den Delegierten, Skipper?« erkundige ich mich vorsichtig. »Was für einen Eindruck ich von den Delegierten habe?«

»Meinen Sie, sie bleiben bei der Stange? Haj schien mir ein bißchen wacklig. Die beiden anderen wirken ziemlich stabil auf mich. Aber wie sieht’s in zwei Wochen aus?«

Ich schiebe die Frage von Hajs Wackligkeit beiseite und greife auf den Aphorismenschatz meines Vaters zurück. »Skipper, ich will ganz offen sein. Bei den Kongolesen muß man vor allem wissen, wie viel man nicht weiß. Vorhin konnte ich das nicht so deutlich sagen, aber jetzt darf ich’s ja.«

»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Skipper, es ist meine feste Überzeugung, daß sie in zwei Wochen hinter Ihnen stehen werden wie versprochen«, erwidere ich, denn mein Bedürfnis, ihm zu Diensten zu sein, ist stärker als all meine Sophisterei.

»Jungs!« trompetet Maxie den Gang hinab. »Eine Runde Applaus für Sinclair. Wir haben ihn geschlaucht bis zum Gehtnichtmehr, aber er hat nicht schlappgemacht.«

Beifall brandet auf, Gläser werden erhoben. Eine Welle von Emotionen spült über mich hinweg, eine Mischung aus Schuldbewußtsein, Stolz, Solidarität und Dankbarkeit. Als mein Blick wieder klar wird, hält mir Maxie ein weißes Kuvert hin, ganz ähnlich dem, das aus Hajs Mappe hervorspitzte.

»Fünftausend US-Riesen, alter Junge. Das hatte Anderson Ihnen doch gesagt, oder?«

Ich gestand, daß es sich so verhielt.

»Ich hab sie auf sieben hochgehandelt. Längst nicht genug, wenn Sie mich fragen, aber mehr konnte ich nicht rausschlagen.«

Ich fange an, mich zu bedanken, aber mit gesenktem Kopf, deshalb weiß ich nicht recht, ob er mich hört. Die kugelsichere Hand kracht mir noch ein letztes Mal auf die Schulter, und als ich hochschaue, ist Maxie schon am anderen Ende der Maschine, und Benny brüllt: Alle Mann die Arschbacken zusammengekniffen, wir landen. Gehorsam lange ich nach meiner Reisetasche und schicke mich an, die Arschbacken zusammenzukneifen, aber es ist zu spät, wir setzen auf.

* * *

Ich habe sie nicht davongehen sehen. Vielleicht sah ich ihnen absichtlich nicht nach. Was gab es denn noch zu sagen? In meiner Vorstellung haben sie ihre Seesäcke über die Schulter geworfen und marschieren Colonel Bogey pfeifend zur Hintertür des grünen Schuppens hinaus, eine kleine Anhöhe hinauf zu einem namenlosen Bus.

* * *

Eine Sicherheitsbeamtin führt mich Flughafenkorridore entlang. Die Reisetasche schlägt mir gegen die Hüfte. Ich stehe vor einem dicken Mann, der an einem Schreibtisch sitzt. Die Tasche steht neben mir auf dem Boden. Auf dem Tisch: eine Sporttasche aus rotem Nylon.

»Überprüfen Sie bitte den Inhalt und identifizieren Sie Ihr Eigentum«, sagt der Dicke, ohne mich anzusehen.

Ich ziehe den Reißverschluß auf und identifiziere mein Eigentum: eine Smokingjacke, weinrot, mit dazu passender Hose, ein Frackhemd, weiß, eine Seidenschärpe, das Ganze als feste Wurst um meine Lacklederschuhe gerollt. Ein wattierter Umschlag mit Paß, Brieftasche, Terminkalender, diversen persönlichen Effekten. Meine schwarzen Seidensocken sind in meinen linken Lacklederschuh gepfropft. Ich ziehe sie heraus und bringe mein Handy zum Vorschein.

Ich sitze im Fond eines schwarzen oder mitternachtsblauen Volvo Kombi, der mich ins Zuchthaus expediert. Meine Fahrerin ist die Sicherheitsbeamtin von vorhin. Sie trägt eine Schirmmütze, und der Rückspiegel bietet mir Sicht auf ihre Stupsnase. Meine Reisetasche habe ich mir zwischen die Knie geklemmt. Die Sporttasche steht neben mir auf dem Sitz. Mein Handy ruht an meinem Herzen.

Dunkelheit senkt sich herab. Wir fahren durch Trabantenstädte von Hangars, Werkstätten, Ziegelbarakken. Ein Eisentor, flutlichterleuchtet und mit Natodrahtgirlanden geschmückt, wächst vor uns aus dem Boden. Dickgepolsterte Polizisten mit Jockey-Mützen lungern davor herum. Meine Chauffeuse lenkt direkt auf die geschlossenen Torflügel zu und gibt Gas. Die Flügel teilen sich. Wir überqueren einen See aus Asphalt und halten neben einer mit roten und gelben Blumen bepflanzten Verkehrsinsel.

Die Türen des Volvo entriegeln sich. Ich bin allen Ernstes entkommen. Auf der Uhr an der Ankunftshalle ist es zwanzig nach neun an einem heißen Samstagabend. Ich bin wieder in dem England, das ich nie verlassen habe, und ich muß schleunigst ein paar Dollar wechseln.

»Ein fabelhaftes Wochenende noch«, wünsche ich meiner Chauffeuse in dringlichem Ton, was übersetzt soviel hieße wie: Tausend Dank, daß Sie mir geholfen haben, meine Bänder und Stenoblöcke aus Luton herauszuschmuggeln.

Der Expreßbus zur Victoria Station ist leer und stockdunkel. Fahrer rauchen und schwatzen daneben. Der entsprungene Häftling setzt sich ganz hinten in die Ecke, klemmt die Reisetasche zwischen die Beine und verfrachtet die rote Sporttasche ins Gepäcknetz. Er schaltet sein Handy ein. Es leuchtet auf, beginnt zu vibrieren. Er wählt 121 und drückt die grüne Taste. Eine strenge Frauenstimme warnt ihn, daß er FÜNF neue Nachrichten hat.

Penelope, Freitag, 19.15: Sag mal, bist du noch zu retten, Salvo? Wo zum Teufel steckst du? Wir haben dich überall gesucht. Erst kommst du zu spät, zwei Minuten später sehen dich mehrere Zeugen, wie du zu einem Nebenausgang rausschleichst. Was soll das? Fergus hat die Klos und die Bars unten abgesucht und zig Leute die Straßen rauf- und runtergehetzt, daß sie dich ausrufen. (Gedämpftes »Ja, ich weiß, Darling«) Wir sitzen jetzt in der Limousine, Salvo, und wir sind unterwegs zum Abendessen bei Sir Matthew. Fergus sagt dir noch mal die Adresse, falls du sie verloren hast. Echt, ich faß es nicht!

Thorne the Horn, Freitag, 19.20: (Schottisch mit einer Prise London darin) Salvo, guter Mann, hören Sie, wir machen uns fast in die Hosen vor Sorge. Wenn Sie nicht innerhalb der nächsten Stunde ein Lebenszeichen von sich geben, schicke ich meine Leute los, daß sie die Flüsse nach Ihnen absuchen. Haben Sie einen Stift da? Und einen Zettel? Wie? (Unverständlich, dann lautes, unflätiges Lachen) Penelope sagt, Sie schreiben sich Sachen auf den Arm. Wo sind Sie noch überall beschriftet, Mann? (Es folgt eine Adresse in Belgravia. Ende der Nachricht)

Penelope, Freitag, 20.30: Ich stehe bei Sir Matthew in der Eingangshalle, Salvo. Es ist eine sehr schöne Eingangshalle. Ich hab deine Nachricht gekriegt, wirklich rührend. Es interessiert mich einen Scheißdreck, wer dein ältester und bester Unternehmerkunde ist, du hast kein Recht, mich dermaßen zu demütigen – (gedämpftes »Nur noch eine Minute, Fergus«) Das ist dir vielleicht neu, Salvo, aber Sir Matthew ist zufällig extrem abergläubisch. Dank dir sitzen wir zu dreizehnt am Tisch, an einem Freitag. Weshalb Fergus jetzt wie ein Blöder rumtelefonieren darf, um – ah, er hat wen gefunden – wen hast du denn gefunden, Fergus-Darling? (Eine Hand legt sich auf den Hörer) – er hat Jellicoe gefunden. Jelly springt für dich in die Bresche. Er besitzt zwar keinen Smoking, aber Fergus hat ihm befohlen, sofort nüchtern zu werden und zu kommen, wie er ist. Wages also ja nicht, hier noch aufzukreuzen, Salvo. Mach einfach weiter mit dem, was du grade machst, scheißegal, was es ist. An Sir Matthews Tisch passen keine fünfzehn, und für einen Abend hast du mich weiß Gott genug blamiert!

Penelope, Samstag, 09.50: Ich bin’s, Schatz. Tut mir leid, daß ich gestern so zickig war. Ich hab mir einfach so schreckliche Sorgen um dich gemacht. Ich meine, ich bin natürlich immer noch bitterböse auf dich, aber wenn du mir alles erzählst, werd ich’s wahrscheinlich verstehen. Das Essen war übrigens ziemlich nett, trotz aller Protzigkeit. Jelly war jenseits von Gut und Böse, aber Fergus hat aufgepaßt, daß er sich nicht zu sehr danebenbenimmt. Und du wirst lachen, wenn ich dir das dicke Ende erzähle: Ich konnte nicht in unsere Wohnung rein. Ich hatte im Büro die Handtasche gewechselt und meine Schlüssel in der anderen gelassen, weil ich ja dachte, mein treusorgender Ehemann würde zur Stelle sein, um mich heimzubringen und mich auch sonst zu verarzten. Paula war auf der Piste, was hieß, daß ich an ihren Schlüssel auch nicht rankam und mir nichts anderes übrigblieb als eine Nacht in Brown’s Hotel (ich hoffe doch stark, auf Kosten der Zeitung!), und heute – was mir eigentlich grade noch gefehlt hat, aber ich dachte, ich mach’s mal lieber, nachdem du mich so schmählich im Stich gelassen hast – habe ich mich breitschlagen lassen, als brave kleine Pfadfinderin mitzufahren in irgend so ein nobles Landhaus in Sussex, wo Fergus einer Horde von feudalen Anzeigenkunden einen Vortrag hält. Hinterher gibt es offenbar eine kleine Feier mit ein paar hohen Tieren aus der Branche, da dachte ich, das tut mir vielleicht mal ganz gut. Diesen Leuten in einem nicht so förmlichen Rahmen zu begegnen, meine ich. Sir Matt kommt auch, für den Anstandswauwau ist also gesorgt. Jetzt bin ich aber erst mal auf dem Weg ins Büro. Um meine Sachen zu holen. Und um mich mal wieder in rasender Eile umzuziehen. Dann also bis bald. Heute vielleicht nicht mehr, aber allerspätestens morgen. Wobei ich natürlich nach wie vor stinkwütend auf dich bin. Das heißt, du wirst dir die großartigsten Wiedergutmachungen einfallen lassen müssen. Und bitte mach dir keine Gedanken wegen gestern abend: Ich versteh’s ja. Auch wenn ich’s nicht so zeige. Ciao. Ach, und du kannst mich dort nicht erreichen – Handy-Verbot, so wie’s aussieht. Wenn’s also irgendwie brennt, ruf Paula an. Also dann, tschüs.

Hannah, Samstag, 10.14: SALVO? Salvo? (Die Stimme schon auffallend leise) Warum hast du dich nicht … (Noch leiser, statt Englisch jetzt verzweifeltes Swahili) … Du hast es versprochen, Salvo … o mein Gott … mein Gott! (Stimme nicht mehr hörbar)

Säße ich jetzt im Chatroom oder wieder im Heizungskeller, würde ich entweder ein defektes Mikrophon vermuten oder aber eine Zielperson, die ihre Stimme ganz bewußt gesenkt hat. Die Verbindung ist noch da. Hintergrundgeräusche sind zu hören, verzerrt, Schritte, durcheinanderredende Stimmen auf dem Gang vor ihrem Zimmer, aber im Vordergrund nichts. Ich schließe daher, daß Hannah mit hängenden Armen dasteht und schluchzt – und noch dreiundfünfzig Sekunden weiterschluchzt, bevor sie an das Telefon in ihrer Hand denkt und ausschaltet. Ich wähle ihre Nummer und gerate an die Mailbox. Ich rufe im Krankenhaus an. Eine unbekannte Stimme teilt mir mit, daß das Personal während der Nachtschicht keine privaten Anrufe entgegennehmen darf. Der Bus füllt sich. Zwei Wanderinnen beäugen erst mich, dann die rote Sporttasche im Gepäcknetz über mir. Sie setzen sich ganz nach vorn, wo es sicherer ist.

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