KAPITEL 12

Bei Fackelschein überwachte Hunter das Beladen seines Schiffes bis spät in die Nacht.

Die Kaigebühren in Port Royal waren hoch. Ein gewöhnliches Handelsschiff konnte es sich nicht leisten, länger als zwei Stunden zum Be-und Entladen anzudocken, doch Hunters kleine Schaluppe Cassandra lag schon volle zwölf Stunden am Kai vertäut, ohne dass von Hunter auch nur ein Penny verlangt wurde. Im Gegenteil, Cyrus Pitkin, dem der Anleger gehörte, zeigte sich entzückt, Hunter den Liegeplatz zu überlassen, und damit der Kapitän das großzügige Angebot auch ja nicht ablehnte, lieferte er ihm obendrein noch fünf kostenlose Fässer Wasser.

Hunter nahm höflich an. Er wusste, dass Pitkin nicht aus wahrem Edelmut handelte, sondern dass er nach der Rückkehr der Cassandra irgendeine Gegenleistung erwarten würde, und er würde sie bekommen.

In ähnlicher Manier nahm er von Mr Oates, einem Farmer auf der Insel, ein Fass Pökelfleisch entgegen. Und von Mr Renfrew, dem Waffenschmied nahm er ein Fässchen Schießpulver entgegen. All das erfolgte mit ausgesuchter Höflichkeit und einem scharfen Auge für den erhaltenen und erwarteten Gegenwert.

Wenn gerade kein höflicher Tauschhandel stattfand, befragte Hunter jedes Mitglied seiner Besatzung und ließ sie von Mr Enders auf Krankheiten hin untersuchen, um sicherzugehen, dass sie gesund waren, ehe sie an Bord durften. Hunter überprüfte auch sämtliche Vorräte, öffnete jedes einzelne Fass mit Schweinefleisch und Wasser, schnupperte an dem Inhalt, tauchte dann mit der Hand bis auf den Boden, um sich zu vergewissern, dass es bis unten gefüllt war. Er kostete jedes Fass Wasser, und er überzeugte sich persönlich, dass die Bestände an Trockenkeksen frisch und frei von Rüsselkäfern waren.

Auf einer langen Ozeanfahrt war es dem Kapitän nicht möglich, eine solche Überprüfung selbst vorzunehmen. Für eine Ozeanreise waren buchstäblich Tonnen an Nahrungsmitteln und Wasser für die Passagiere erforderlich, und das Fleisch kam zum großen Teil lebendig an Bord, wo es kreischte und muhte.

Doch Freibeuter stachen anders in See. Ihre kleinen Schiffe waren vollgestopft mit Männern und hatten nur wenig Proviant geladen. Ein Freibeuter rechnete nicht mit gutem Essen während der Fahrt; mitunter wurde sogar überhaupt kein Essen mitgenommen, und das Schiff fuhr mit der Erwartung los, bei der Plünderung eines Schiffes oder eines Ortes an Proviant zu gelangen.

Freibeuter waren auch nicht schwer bewaffnet. Die Cassandra, eine siebzig Fuß lange Schaluppe, hatte vier Falkonetten, schwenkbare Geschütze, die längsschiffs aufgestellt waren. Das waren ihre einzigen Bordwaffen, und die konnten es schwerlich mit einem fünft-oder sechstklassigen Kriegsschiff aufnehmen. Die Freibeuter setzten stattdessen auf Geschwindigkeit und Wendigkeit – und auf geringen Tiefgang –, um ihren gefährlicheren Gegnern zu entkommen. Sie konnten dichter am Wind segeln als ein größeres Kriegsschiff, und sie konnten flache Häfen und Fahrrinnen ansteuern, in die ihnen größere Schiffe nicht folgen konnten.

Im Karibischen Meer, wo sie so gut wie nie außer Sichtweite irgendeiner Insel mit ihrem schützenden Ring aus flachen Korallenriffen waren, fühlten sie sich ausreichend sicher.

Hunter überwachte das Beladen seines Schiffes bis kurz vor Tagesanbruch. Immer wenn sich eine Gruppe Neugieriger versammelte, schickte er sie weg. In Port Royal wimmelte es von Spionen; spanische Siedlungen zahlten gut für frühzeitige Hinweise auf einen geplanten Überfall. Und Hunter wollte unter gar keinen Umständen, dass irgendwer die ungewöhnliche Ausrüstung sah, die er mit an Bord nahm – das viele Seil, die Enterhaken und die seltsamen Flaschen, die der Jude in Kisten gebracht hatte.

Die Kisten des Juden wurden sogar in Öltuchsäcke gepackt und unter Deck gelagert, wo selbst die Seeleute sie nicht sehen konnten. Sie waren, wie Hunter zu Don Diego gesagt hatte, »unser kleines Geheimnis«.

Als der Morgen graute, kam Mr Enders, der noch immer voller Tatendrang war, mit federndem, beschwingtem Gang herüber und sagte: »Verzeiht, Captain, aber am Lagerhaus lungert schon fast die ganze Nacht ein einbeiniger Bettler herum.«

Hunter spähte zu dem Gebäude hinüber, das im Halbdunkel des frühmorgendlichen Dämmerlichts lag. Die Docks waren keine lohnende Gegend zum Betteln. »Kennt Ihr ihn?«

»Nein, Captain.«

Hunters Stirn legte sich in Falten. Unter anderen Umständen könnte er den Mann mit der Bitte zum Gouverneur schicken, den Bettler für ein paar Wochen ins Marshalsea-Gefängnis zu stecken. Aber die Nacht war noch nicht vorüber; der Gouverneur schlief noch und wäre nicht erfreut über die Störung. »Bassa.«

Die riesige Gestalt des Mauren tauchte neben ihm auf.

»Siehst du den Bettler mit dem Holzbein?«

Bassa nickte.

»Töte ihn.«

Bassa ging weg. Hunter wandte sich Enders zu, der seufzte. »Ich denke, es ist am besten so, Captain.« Er wiederholte das alte Sprichwort. »Besser eine Seefahrt blutig beginnen als blutig beenden.«

»Ich fürchte, wir könnten beides erleben«, sagte Hunter und machte sich wieder an die Arbeit.

Als die Cassandra eine halbe Stunde später ablegte und Lazue am Bug stand, um im dämmrigen Morgenlicht nach den Untiefen von Pelican Point Ausschau zu halten, warf Hunter einen letzten Blick auf den Hafen und auf Port Royal. Die Stadt schlief friedlich. Die Laternenanzünder löschten die Fackeln am Dock. Ein paar Leute, die sich mit guten Wünschen verabschiedet hatten, wandten sich zum Gehen.

Dann sah er den einbeinigen Bettler mit dem Gesicht nach unten tot im Wasser treiben. In der Flut schaukelte der Leichnam hin und her, und das Holzbein schlug sachte gegen einen Pfahl.

Das war, so dachte er, entweder ein gutes oder ein schlechtes Omen. Was von beidem, das blieb abzuwarten.


Загрузка...