KAPITEL 15

Nach den vielen Tagen eng zusammengepfercht an Bord der Cassandra kam ihnen das Kriegsschiff riesig vor. Das Hauptdeck war so weitläufig, als streckte sich eine Ebene vor ihnen aus. Hunters Besatzung, die die Schaluppe bis zum Bersten gefüllt hatte, war von den Soldaten um den Hauptmast zusammengeschart worden und wirkte hier kümmerlich und bedeutungslos. Hunter sah in die Gesichter seiner Männer. Sie wandten die Augen ab, erwiderten den Blick nicht, und ihre Mienen waren wütend, verzagt, enttäuscht.

Hoch über ihnen machten die gewaltigen Segel einen solchen Lärm, dass der dunkle spanische Offizier, der sich vor ihm aufbaute, schreien musste, um sich Gehör zu verschaffen.

»Ihr seid Kapitän?«, brüllte er.

Hunter nickte.

»Wie ist Name?«

»Hunter«, rief er zurück.

»Englisch?«

»Ja.«

»Ihr geht zu Kapitän hier«, sagte der Mann, und zwei bewaffnete Soldaten scheuchten Hunter nach unten. Anscheinend brachten sie ihn zum Kapitän des Kriegsschiffes. Hunter schaute über die Schulter und erhaschte einen letzten Blick auf seine verzweifelte Mannschaft rings um den Mast. Schon wurden ihnen die Hände auf den Rücken gefesselt. Die Besatzung des Kriegsschiffes verlor keine Zeit.

Er stolperte die schmale Stiege hinunter aufs Kanonendeck. Er konnte einen kurzen Blick auf die lange Reihe Kanonen und die bereitstehenden Kanoniere werfen, ehe er grob zum Heck gestoßen wurde. Als er an den offenen Geschützscharten vorbeikam, sah er unten seine kleine Schaluppe liegen, die längsseits des Kriegsschiffes vertäut war. Spanische Soldaten liefen darauf herum, und die spanischen Seeleute der Prisenbesatzung begutachteten Tauwerk und Leinen, machten sich bereit, das Schiff zu steuern.

Er konnte nicht stehen bleiben, weil eine Muskete in seinem Rücken ihn weitertrieb. Sie kamen zu einer Tür, die von zwei schwer bewaffneten, gefährlich dreinblickenden Männern bewacht wurde. Hunter fiel auf, dass diese Männer keine Uniform trugen und seltsam überheblich wirkten. Sie blickten ihn mit mitleidiger Verachtung an. Einer von ihnen klopfte an die Tür und sagte ein paar schnelle Worte auf Spanisch. Als Antwort erfolgte ein Knurren, woraufhin sie die Tür öffneten und Hunter hineinstießen. Eine der Wachen kam mit hinein und schloss die Tür.

Die Kajüte des Kapitäns war auffallend geräumig und üppig ausgestattet. Alles zeugte von Großzügigkeit und Luxus. Auf einem Esstisch mit einem erlesenen Leinentuch waren goldene Teller für das Abendessen bei Kerzenschein gedeckt. Ein bequemes Bett hatte eine goldeingefasste Brokatüberdecke. Ein farbenprächtiges Ölgemälde, das Christus am Kreuz darstellte, hing in einer Ecke, über einer Kanone mit einer geöffneten Scharte. In einer anderen Ecke warf eine Laterne ein warmes goldenes Licht in den Raum.

Im rückwärtigen Teil der Kajüte stand ein weiterer Tisch, auf dem Karten ausgebreitet waren. Dahinter saß der Kapitän höchstselbst in einem roten Samtplüschsessel.

Er hatte Hunter den Rücken zugedreht, während er sich aus einer geschliffenen Kristallkaraffe Wein einschenkte. Hunter konnte nur erkennen, dass der Mann sehr massig war; sein Rücken war so breit wie der eines Bullen.

»Nun denn«, sagte der Kapitän in sehr gutem Englisch, »kann ich Euch zu einem Glas von diesem vorzüglichen Rotwein überreden?«

Ehe Hunter antworten konnte, drehte der Kapitän sich um. Hunter starrte in finster blickende Augen in einem breiten Gesicht mit einer kräftigen Nase und einem rabenschwarzen Bart. Unwillkürlich entfuhr ihm ein Wort:

»Cazalla!«

Der Spanier lachte herzhaft. »Habt Ihr König Charles erwartet?«

Hunter war sprachlos. Er war sich vage bewusst, dass er die Lippen bewegte, aber kein Laut kam heraus. Gleichzeitig schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf. Wieso war Cazalla hier und nicht in Matanceros? Hieß das, die Galeonen waren fort? Oder hatte er die Festung dem Kommando eines fähigen Leutnants unterstellt?

Oder vielleicht war er von höherer Stelle abbeordert worden – dieses Kriegsschiff war womöglich auf dem Weg nach Havanna.

Noch während ihm diese Fragen durch den Kopf wirbelten, packte ihn die kalte Angst. Nur mit größter Anstrengung konnte er das Zittern unterdrücken, das seinen Körper zu erfassen drohte, während er Cazalla gegenüberstand und anstarrte.

»Engländer«, sagte Cazalla, »Euer Unbehagen ist schmeichelhaft. Es ist mir peinlich, aber leider ist mir Euer Name nicht bekannt. Nehmt Platz, entspannt Euch.«

Hunter rührte sich nicht. Der Soldat stieß ihn grob in einen Sessel gegenüber Cazalla.

»Viel besser«, sagte Cazalla. »Nehmt Ihr nun Euren Wein?« Er reichte Hunter das Glas.

Mit äußerster Willenskraft gelang es Hunter, seine Hand ruhig zu halten, als er das angebotene Glas entgegennahm. Aber er trank nicht, sondern stellte es sogleich auf den Tisch. Cazalla lächelte.

»Auf Eure Gesundheit, Engländer«, sagte er und trank. »Ich muss auf Eure Gesundheit trinken, solange das noch möglich ist. Trinkt Ihr nicht mit? Nein? Kommt schon, Engländer. Nicht einmal Seine Exzellenz der Kommandant der Havanna-Garnison hat einen so edlen Tropfen wie diesen. Der Wein ist aus Frankreich und heißt Haut-Brion. Trinkt.« Er wartete. »Trinkt.«

Hunter nahm das Glas und trank einen kleinen Schluck. Er fühlte sich hypnotisiert, fast wie in Trance. Doch der Geschmack des Weins brach den Bann des Augenblicks. Die alltägliche Geste, das Glas an die Lippen zu heben und zu schlucken, riss ihn in die Gegenwart zurück. Seine Schreckensstarre löste sich, und plötzlich nahm er zahllose kleine Details wahr. Er hörte das Atmen des Soldaten in seinem Rücken, wahrscheinlich zwei Schritte entfernt, dachte er. Er sah, wie ungleichmäßig Cazallas Bart war, und vermutete, dass der Mann seit einigen Tagen unterwegs war. Er roch den Knoblauch in Cazallas Atem, als der sich vorbeugte und sagte: »Und nun, Engländer, nennt mir Euren Namen.«

»Charles Hunter«, sagte er mit einer Stimme, die kräftiger und zuversichtlicher klang, als er zu hoffen gewagt hatte.

»Ja? Dann habe ich von Euch gehört. Seid Ihr derselbe Hunter, der vor einem Jahr die Conception gekapert hat?«

»Der bin ich«, sagte Hunter.

»Derselbe Hunter, der den Überfall auf Monte Cristo auf Hispaniola angeführt und den Plantagenbesitzer Ramona gefangen genommen hat, um für seine Freilassung ein Lösegeld zu verlangen?«

»Jawohl.«

»Er ist ein Schwein, dieser Ramona, findet Ihr nicht?« Cazalla lachte. »Und Ihr seid auch derselbe Hunter, der das Sklavenschiff von de Ruyters, als es in Guadeloupe vor Anker lag, geentert hat, um mit der gesamten Ladung das Weite zu suchen?«

»Jawohl.«

»Dann bin ich überaus erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Engländer. Kennt Ihr Euren Wert? Nein? Nun, er ist mit jedem weiteren Jahr gestiegen und vielleicht ist er erneut erhöht worden. Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, bietet König Philipp jedem, dem es gelingt, Eurer habhaft zu werden, zweihundert Golddublonen für Euch und noch mal achthundert für Eure Besatzung. Vielleicht ist die Summe inzwischen auch höher. Die Erlasse ändern sich, so viele Einzelheiten. Früher haben wir Piraten nach Sevilla geschickt, wo die Inquisition sie ermuntern konnte, ihre Sünden und Ketzereien in einem Atemzug zu bereuen. Aber das ist so lästig. Heute schicken wir nur die Köpfe und halten unseren Laderaum für einträglichere Waren frei.«

Hunter sagte nichts.

»Vielleicht denkt Ihr jetzt«, fuhr Cazalla fort, »zweihundert Dublonen sind eine zu bescheidene Summe. Wie Ihr Euch gewiss vorstellen könnt, bin ich just in diesem Augenblick ganz Eurer Meinung. Aber immerhin genießt Ihr die Ehre zu wissen, dass Ihr der am höchsten geschätzte Pirat in diesen Gewässern seid. Erfreut Euch das?«

»Ich fasse es so auf«, sagte Hunter, »wie es gemeint war.«

Cazalla schmunzelte. »Wie ich sehe, seid Ihr ein geborener Gentleman«, sagte er. »Und ich darf Euch versichern, dass Ihr mit der gebührenden Würde eines Gentleman gehängt werdet. Darauf gebe ich Euch mein Wort.«

Hunter verneigte sich leicht in seinem Sessel. Er sah, wie Cazalla über den Schreibtisch hinweg nach einer kleinen Glasschüssel mit Deckel griff. In der Schüssel lagen breite grüne Blätter. Cazalla nahm eines der Blätter heraus und kaute nachdenklich darauf.

»Ihr scheint verwirrt, Engländer. Ist Euch diese Gepflogenheit fremd? Die Indianer in Neuspanien nannten dieses Blatt Koka. Es wächst dort im Hochland. Es verleiht dem, der es kaut, Tatkraft und Stärke. Bei Frauen schürt es das Feuer«, fügte er leise lachend hinzu. »Möchtet Ihr es einmal probieren? Nein? Es widerstrebt Euch, meine Gastlichkeit anzunehmen, Engländer.«

Er kaute einen Augenblick schweigend, während er Hunter anblickte. Schließlich sagte er: »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?«

»Nein.«

»Euer Gesicht kommt mir seltsam bekannt vor. Vielleicht früher, als Ihr jünger wart?«

Hunter spürte sein Herz pochen. »Ich glaube nicht.«

»Ihr habt gewiss recht«, sagte Cazalla. Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Gemälde an der Wand. »Für mich sehen alle Engländer gleich aus. Ich kann sie einfach nicht unterscheiden.« Er sah wieder Hunter an. »Und dennoch habt Ihr mich erkannt. Wie ist das möglich?«

»Euer Gesicht und Eure Gestalt sind in den englischen Kolonien wohlbekannt.«

Cazalla kaute ein Stück Limone mit seinen Blättern. Er lächelte, lachte dann leise. »Ohne Zweifel«, sagte er. »Ohne Zweifel.«

Plötzlich fuhr er in seinem Sessel herum und schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch. »Genug: Wir haben über Wichtigeres zu sprechen. Wie lautet der Name Eures Schiffes?«

»Cassandra«, erwiderte Hunter.

»Und wer ist der Eigner?«

»Ich selbst bin Eigner und Kapitän.«

»Und wo seid Ihr in See gestochen?«

»Port Royal.«

»Und was ist der Grund Eurer Reise?«

Hunter zögerte. Wenn ihm ein glaubhafter Grund eingefallen wäre, hätte er ihn unverzüglich genannt. Aber es war nicht leicht zu erklären, was sein Schiff in diese Gewässer geführt hatte. Schließlich sagte er: »Uns wurde mitgeteilt, ein Sklavenschiff aus Guinea wäre in diesen Breiten zu finden.«

Cazalla machte ein schnalzendes Geräusch und schüttelte den Kopf. »Engländer, Engländer.«

Hunter tat so gut er konnte, als würde es ihn große Überwindung kosten, und sagte dann: »Wir waren auf dem Weg nach Augustine.« Das war die größte Siedlung in der spanischen Kolonie Florida. Sie hatte keine besonderen Reichtümer zu bieten, aber es war immerhin denkbar, dass englische Freibeuter es angreifen wollten.

»Ihr habt einen merkwürdigen Kurs gewählt. Und einen langsamen.« Cazalla trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wieso seid Ihr nicht nach Westen um Kuba herum gesegelt, in die Bahamas-Passage?«

Hunter zuckte die Achseln. »Wir hatten Grund zu befürchten, dass wir in der Passage auf spanische Kriegsschiffe treffen würden.«

»Und hier nicht?«

»Die Gefahr war hier geringer.«

Cazalla dachte eine Weile darüber nach. Er kaute geräuschvoll und nippte an seinem Wein. »In Augustine gibt es bloß Sümpfe und Schlangen«, sagte er. »Und Ihr hattet keinen Grund, die Windward-Passage zu riskieren. Und hier in der Nähe …« Er zuckte die Achseln. »Keine Siedlung, die nicht stark verteidigt wird, zu stark für Euer kleines Schiff und Eure mickrige Besatzung.« Er runzelte die Stirn. »Engländer, warum seid Ihr hier?«

»Ich habe die Wahrheit gesagt«, erwiderte Hunter. »Wir waren auf dem Weg nach Augustine.«

»Diese Wahrheit überzeugt mich nicht«, sagte Cazalla.

Im selben Moment klopfte es an der Tür, und ein Seemann reckte den Kopf in die Kajüte. Er sagte rasch etwas auf Spanisch. Hunter sprach kein Spanisch, aber er hatte Französischkenntnisse, mit deren Hilfe er erschließen konnte, was der Seemann zu Cazalla sagte: Die Prisenbesatzung hatte die Schaluppe klar zum Segeln gemacht. Cazalla nickte und stand auf.

»Wir segeln jetzt weiter«, sagte er. »Ihr kommt mit mir an Deck. Vielleicht sind andere in Eurer Besatzung ja redseliger als Ihr.«


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