KAPITEL 31

Der Hurrikan schlug mit aller Macht zu. Binnen Minuten kreischte der Wind mit mehr als vierzig Knoten durch die Takelage und peitschte mit prasselndem Regen schmerzhaft auf sie ein. Die See war noch rauer, mit fünfzehn Fuß hohen Wellen, Wasserberge, die das Schiff wie verrückt auf und ab warfen. Vom Kamm einer Woge hoch in der Luft stürzten sie Sekunden später wieder magenverdrehend tief in ein Wellental, in dem sich das Wasser bedrohlich hoch ringsherum auftürmte.

Und alle an Bord wussten: Das war erst der Anfang. Der Wind und der Regen und die See würden noch viel schlimmer werden, und der Sturm würde Stunden, vielleicht Tage wüten.

Mit einer Tatkraft, die die Erschöpfung der Mannschaft Lügen strafte, machten sie sich an die Arbeit. Sie räumten die Trümmer vom Deck und refften zerrissene Segel; sie hievten im Wasser schwimmende Segel an Bord und stopften die Lecks. Sie arbeiteten schweigend auf den rutschigen, wankenden nassen Decks, und jeder von ihnen wusste, wie schnell er über Bord gefegt werden konnte, ohne dass es irgendwer mitbekäme.

Doch die erste – und härteste – Aufgabe war es, das Schiff wieder richtig zu trimmen, indem sie die Kanonen zurück auf die Steuerbordseite schafften. Das war schon bei ruhiger See und trockenen Planken eine Strapaze. Bei Sturm, während ständig Wasser über die Bordwand schwappte, das Deck sich immer wieder um fünfundvierzig Grad neigte und die Holzplanken und Taue klatschnass und glitschig waren, war es schlechterdings unmöglich und ein Albtraum. Dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie überleben wollten.

Hunter leitete die Arbeiten, immer nur eine Kanone auf einmal. Es ging darum, die richtige Neigung des Decks vorauszuahnen und die Schwerkraft auszunutzen, während die Männer sich mit den Fünftausend-Pfund-Lasten abplagten.

Sie verloren die erste Kanone. Ein Tau riss, und sie schlitterte wie ein Geschoss über das schräge Deck, durchschlug die Reling auf der anderen Seite und stürzte ins Wasser. Die Männer waren entsetzt von der Schnelligkeit, mit der das passiert war. Bei der zweiten Kanone verdoppelten sie die Taue, doch sie rissen trotzdem, und die Kanone zerquetschte einen Seemann auf ihrem Weg ins Meer.

Die nächsten fünf Stunden kämpften sie gegen Wind und Regen, um die Kanonen auf die andere Seite zu schaffen und sicher zu vertäuen. Schließlich war es geschafft, und alle Männer an Bord klammerten sich zu Tode erschöpft mit dem letzten Quäntchen Kraft im Leib wie ertrinkende Tiere an Streben und Relings, um nicht über Bord gespült zu werden.

Doch Hunter wusste, dass der Sturm erst anfing.


Ein Hurrikan, das wohl furchterregendste Naturereignis überhaupt, war für die Reisenden auf ihrem Weg in die Neue Welt eine noch nie gemachte Erfahrung. Der Name – Hurrikan – ist ein Arawak-Wort für Stürme, für die es in Europa keine Entsprechung gibt. Hunters Männer wussten, wie schrecklich diese gigantischen Wirbelwinde wüteten, und suchten angesichts der fürchterlichen Wirklichkeit, dass sie so einem Sturm jetzt ausgesetzt waren, Zuflucht bei den ältesten abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen der Seefahrt.

Enders stand am Steuer, beobachtete die Wasserberge ringsherum und murmelte jedes Gebet, das er je als Junge gelernt hatte, während er immer wieder den Haifischzahn berührte, den er um den Hals trug, und wünschte, er könnte mehr Segel setzen. Die El Trinidad mühte sich derzeit mit nur drei Segeln ab, und es brachte Unglück, mit drei zu segeln.

Unter Deck nahm der Maure seinen Dolch und schnitt sich in den Finger, malte dann mit seinem Blut ein Dreieck auf die Planken. In die Mitte des Dreiecks stellte er eine Feder und hielt sie fest, während er lautlos eine Beschwörungsformel murmelte.

Vorn im Schiff warf Lazue ein Fässchen mit Pökelfleisch über Bord und hielt drei Finger hoch. Es war der älteste Aberglaube von allen, obwohl sie nur die alte Seemannsgeschichte kannte, dass ins Meer geworfene Nahrungsmittel und drei in die Luft gereckte Finger ein Schiff in Seenot retten könnten. Die drei Finger standen für den Dreizack Neptuns, und die Nahrungsmittel waren eine Opfergabe an den Meeresgott.

Hunter selbst gab vor, für derlei Aberglaube nur Verachtung zu empfinden, ging aber in seine Kajüte, verriegelte die Tür, kniete sich hin und betete. Rings um ihn herum wurden die Möbel von einer Wand gegen die andere geworfen, während das Schiff wie verrückt auf den tosenden Wellen tanzte.

Draußen heulte der Sturm mit dämonischer Wut, und das Schiff unter ihm stieß knarrend und ächzend lange, gequälte Seufzer aus. Zuerst nahm er keinen anderen Laut wahr, doch dann hörte er den Schrei einer Frau. Und dann wieder einen.

Er eilte aus seiner Kajüte und sah, wie fünf Seeleute Lady Sarah Almont zum Niedergang zerrten. Sie schrie und wehrte sich mit Händen und Füßen.

»Halt«, rief Hunter und ging zu ihnen. Über ihnen krachten Wellen aufs Deck.

Die Männer wichen seinem Blick aus.

»Was geht hier vor?«, wollte Hunter wissen.

Keiner der Männer antwortete. Schließlich kreischte Lady Sarah: »Die wollen mich ins Meer werfen!«

Der Wortführer der Männer schien Edwards zu sein, ein rauer Seemann, der schon bei Dutzenden Kaperfahrten dabei gewesen war.

»Sie ist eine Hexe«, sagte er und sah Hunter trotzig an. »Eine Hexe, Captain. Wir überstehen den Sturm niemals, wenn sie an Bord ist.«

»Das ist Unfug«, sagte Hunter.

»Glaubt mir«, sagte Edwards. »Mit ihr an Bord sind wir verloren. Glaubt mir, sie ist eine Hexe, so wahr ich hier stehe.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab’s ihr gleich angesehen«, sagte Edwards.

»Welche Beweise hast du?«, fragte Hunter nach.

»Der Mann ist verrückt«, sagte Lady Sarah. »Vollkommen verrückt.«

»Welche Beweise?«, rief Hunter über den tosenden Wind hinweg.

Edwards zögerte. Schließlich ließ er die Frau los und wandte sich ab. »Hat keinen Sinn, drüber zu reden«, sagte er. »Aber Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet schon sehen.«

Er ging weg. Einer nach dem anderen folgten die anderen Männer ihm, und Hunter blieb allein mit Lady Sarah zurück.

»Geht in Eure Kajüte«, sagte Hunter, »verriegelt die Tür und bleibt dort. Kommt unter keinen Umständen heraus und öffnet auf gar keinen Fall die Tür.«

Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Furcht. Sie nickte und ging in ihre Kajüte. Hunter wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, und stieg dann nach kurzem Zögern an Deck, wo der Sturm ihn mit voller Wucht traf.

Unter Deck war der Sturm schon beängstigend, aber auf dem Hauptdeck übertraf er alles, worauf man gefasst sein konnte. Der Wind riss an ihm wie ein unsichtbarer Riese, wie zahllose starke Hände, die ihm an Armen und Beinen zerrten, als er sich verzweifelt festzuklammern versuchte. Der Regen peitschte mit solcher Kraft auf ihn ein, dass er unwillkürlich aufschrie. In den ersten paar Sekunden konnte er kaum etwas sehen. Dann erkannte er Enders, der felsenfest am Steuer stand.

Während Hunter sich zu ihm hinüberkämpfte, musste er sich an einem Seil festhalten, das übers Deck gespannt worden war. Schließlich erreichte er den Schutz des Heckkastells. Er schlang ein zusätzliches Seil um seinen Oberkörper, lehnte sich näher zu Enders vor und rief: »Wie steht es?«

»Nicht besser, nicht schlechter«, rief Enders zurück. »Wir halten uns, und wir halten auch noch eine Weile länger durch, aber nur noch einige Stunden. Ich kann spüren, wie sie langsam aufgibt.«

»Wie viele Stunden noch?«

Enders’ Erwiderung ertrank in dem Wellenberg, der über sie hinwegbrandete und donnernd aufs Deck schlug.

Wie auch immer die Antwort gelautet hatte, dachte Hunter: Kein Schiff konnte eine solche Tortur lange überstehen, erst recht kein so angeschlagenes Schiff wie die El Trinidad.


In ihrer Kajüte betrachtete Lady Sarah Almont die Zerstörung, die sowohl der Sturm als auch die Seemänner angerichtet hatten, die sie mitten in ihren Vorbereitungen überrumpelt hatten. Obwohl das Schiff heftig schwankte, stellte sie vorsichtig ihre roten Kerzen wieder auf den Plankenboden und zündete sie an, bis alle fünf brannten. Dann kratzte sie ein Pentagramm in das Holz und stellte sich hinein.

Sie hatte große Angst. Als die Französin, Madame de Rochambeau, ihr und anderen Ladys die neusten Moden am Hofe von Louis XIV. vorgeführt hatte, war sie amüsiert gewesen, hatte sogar ein wenig gespöttelt. Aber in Frankreich, so hieß es, töteten Frauen ihre Neugeborenen, um sich ewige Jugend zu verschaffen. Wenn das stimmte, vielleicht nur ein wenig, dann könnte ein Engländer, um ihr Leben zu retten, doch …

Was konnte es schaden? Sie schloss die Augen, hörte den Sturm ringsherum heulen. »Greedigut. Greedigut, komm zu mir–«

Das Deck schwankte wie verrückt, die Kerzen rutschten mal hierhin, mal dorthin. Sie musste immer wieder abbrechen, um sie aufzufangen. Das war alles sehr störend. Wie schwierig es doch war, eine Hexe zu sein! Madame de Rochambeau hatte nichts von Beschwörungen an Bord eines Schiffes gesagt. Vielleicht zeigten sie ja gar keine Wirkung. Vielleicht war das alles ja bloß französischer Humbug.

»Greedigut …«, stöhnte sie. Sie streichelte sich.

Und dann meinte sie zu hören, dass der Sturm nachließ.

Oder war das bloß Einbildung?

»Greedigut, komm zu mir, nimm mich, fahr in mich …«

Sie stellte sich Krallen vor, sie fühlte den Wind, der ihr Nachtgewand flattern ließ, sie spürte etwas im Raum …

Und der Wind flaute ab.


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