KAPITEL 21

Sanson gab Hunter einen weiteren Schluck aus dem Wasserfässchen, und dann sagte Don Diego: »Es gibt da noch was, das Ihr Euch ansehen solltet, Captain.«

Die kleine Gruppe stieg den Hang bis an den Rand der Klippe hoch, die sie in der Nacht zuvor erklommen hatten. Sie gingen langsam, mit Rücksicht auf Hunter, der bei jedem Schritt Schmerzen hatte. Und als er zu dem klaren, wolkenlos blauen Himmel hochblickte, spürte er eine andere Art von Schmerz. Er wusste, dass es ein schwerwiegender und beinahe tödlicher Fehler gewesen war, auf den Aufstieg während des Sturms zu bestehen. Sie hätten bis zum nächsten Morgen warten sollen. Er war töricht und übereifrig gewesen, und er schalt sich für seine Fehlentscheidung.

Als sie fast am Klippenrand waren, duckte Don Diego sich und spähte hinab. Die anderen taten es ihm gleich, Hunter mithilfe von Sanson. Hunter verstand nicht, warum sie so auf der Hut waren – bis er über den Rand spähte, auf das Blätterdach des Dschungels und die dahinterliegende Bucht.

In der Bucht lag Cazallas Kriegsschiff.

»Verdammt«, flüsterte er leise.

Sanson kauerte sich neben ihn und nickte. »Wir haben noch mal Glück gehabt, mein Freund. Das Schiff ist im Morgengrauen in die Bucht eingelaufen. Seitdem liegt es da.« Hunter sah jetzt, wie ein großes Beiboot Soldaten ans Ufer setzte. Am Strand wimmelte es von spanischen Rotröcken, die das Ufer absuchten. Cazalla, im gelben Uniformrock, war deutlich zu erkennen, wie er wild gestikulierend Befehle erteilte.

»Die suchen nach uns«, sagte Sanson. »Die haben unseren Plan durchschaut.«

»Aber das Unwetter …«, sagte Hunter.

»Ja, das Unwetter wird alle unsere Spuren verwischt haben.«

Hunter dachte an das gerissene Seil mit der Segeltuchschlinge. Es lag jetzt am Fuß an der Felswand. Aber die Soldaten würden es vermutlich nicht finden. Bis zur Klippe war es ein anstrengender Tagesmarsch durch dichtes Unterholz. Sie würden die Strapaze nicht auf sich nehmen, solange sie keine Spur fanden, dass überhaupt jemand an Land gegangen war.

Vor Hunters Augen legte ein zweites Beiboot voller Soldaten vom Kriegsschiff ab.

»Er lässt schon den ganzen Morgen Männer an Land bringen«, sagte Don Diego. »Inzwischen müssen bestimmt hundert auf dem Strand sein.«

»Dann hat er vor, Männer dort zu postieren«, sagte Hunter.

Don Diego nickte.

»Umso besser für uns«, sagte Hunter. Jeder Soldat, den Cazalla auf der Westseite der Insel ließ, würde nicht in Matanceros gegen sie kämpfen können. »Hoffen wir, dass er tausend da lässt.«

Zurück am Eingang der Höhle, bereitete Don Diego für Hunter eine Wassersuppe zu, während Sanson das kleine Feuer löschte und Lazue durchs Fernrohr Ausschau hielt. Hunter setzte sich neben sie, und sie schilderte ihm, was sie sah. Hunter selbst konnte nur die groben Umrisse der Gebäude unten am Wasser erkennen. Er verließ sich ganz auf Lazues scharfe Augen.

»Als Erstes«, sagte er, »erzähl mir was über die Kanonen. Die Kanonen in der Festung.«

Lazues Lippen bewegten sich lautlos, während sie durchs Fernrohr spähte. »Zwölf«, sagte sie schließlich. »Zwei Batterien von je drei sind nach Osten gerichtet, zum offenen Meer hin. Dann ist da noch eine Batterie von insgesamt sechs, die den Hafeneingang abdeckt.«

»Und sind es Kolubrinen?«

»Sie haben lange Rohre. Ja, ich glaube, es sind Kolubrinen.«

»Kannst du was über ihr Alter sagen?«

Sie schwieg einen Augenblick. »Wir sind zu weit weg«, erwiderte sie. »Vielleicht kann ich später mehr erkennen, wenn wir näher dran sind.«

»Und die Lafetten?«

»Fahrbar. Ich schätze aus Holz, mit vier Rädern.«

Hunter nickte. Vermutlich handelte es sich um gewöhnliche Schiffslafetten, die für den Einsatz an Land gebracht worden waren.

Don Diego kam mit der Wassersuppe. »Ich bin froh, dass sie aus Holz sind«, sagte er. »Ich hatte befürchtet, sie könnten aus Stein sein. Das würde die Sache erschweren.«

Hunter sagte: »Sprengen wir die Lafetten in die Luft?«

»Natürlich«, sagte Don Diego.

Die Kolubrinen wogen jede über zwei Tonnen. Falls ihre Lafetten zerstört wurden, waren sie nutzlos, denn dann ließen sie sich weder auf ein Ziel richten noch abfeuern. Und selbst wenn die Matanceros-Festung Ersatzlafetten hatte, wäre ein Heer von Männern Stunden damit beschäftigt, jede Kanone auf eine neue Lafette zu hieven.

»Aber vorher«, sagte Don Diego mit einem Lächeln, »sprengen wir die Verschlüsse.«

Auf die Idee war Hunter noch gar nicht gekommen, doch er erkannte sogleich ihren Nutzen. Die Kolubrinen waren wie alle Kanonen Vorderlader. Die Kanoniere rammten zuerst einen Beutel mit Schießpulver in den Geschützlauf und anschließend eine Eisenkugel. Anschließend wurde der Pulverbeutel durch das Zündloch im Verschluss mit einem spitzen Federkiel angestochen und eine brennende Lunte hineingesteckt. Die Lunte brannte ab und entzündete das Pulver, wodurch die Kugel abgefeuert wurde.

Diese Methode war so lange zuverlässig, wie das Zündloch klein blieb. Doch nach wiederholten Abschüssen ätzten die brennende Lunte und das explodierende Pulver das Zündloch aus und weiteten es so weit, dass es wie ein Auslassventil für die sich ausdehnenden Gase wirkte. Wenn das geschah, verringerte sich die Reichweite der Kanone zusehends: Irgendwann wurde die Kugel dann gar nicht mehr abgefeuert. Und die Kanone wurde zu einer großen Gefahr für die Männer, die sie bedienten.

Angesichts dieser unvermeidlichen Abnutzung statteten Kanonenbauer den Verschluss mit einem austauschbaren Metallspund aus, der spitz zulief und in der Mitte ein Zündloch hatte. Der Spund wurde vom Innern der Kanone hineingesteckt, sodass die sich ausdehnenden Gase des Pulvers ihn mit jedem Abschuss noch fester rammten. Immer wenn das Zündloch zu groß geworden war, ersetzte man den Metallspund einfach durch einen neuen.

Manchmal jedoch wurde der ganze Spund in einem Stück herausgeschleudert und am Verschluss der Kanone klaffte ein großes Loch. Wenn ein Verschluss derart gesprengt worden war, konnte die Kanone erst wieder eingesetzt werden, nachdem man einen passenden neuen Spund gefertigt und eingesetzt hatte. Das dauerte stets viele Stunden.

»Glaubt mir«, sagte Don Diego, »wenn wir mit den Kanonen da unten fertig sind, sind die höchstens noch als Ballast im Frachtraum eines Handelsschiffs zu gebrauchen.«

Hunter wandte sich wieder an Lazue. »Was kannst du in der Festung selbst erkennen?«

»Zelte. Viele Zelte.«

»Die werden für die Garnison sein«, sagte Hunter. Fast das ganze Jahr über war das Wetter in der Neuen Welt so mild, dass für die Soldaten keine solideren Quartiere erforderlich waren, und das galt erst recht für eine so regenarme Insel wie Leres. Allerdings konnte Hunter sich jetzt den Ärger der Soldaten vorstellen, die nach dem Unwetter der vergangenen Nacht im Schlamm geschlafen hatten.

»Was ist mit der Pulverkammer?«

»Auf der Nordseite, innerhalb der Mauern, steht ein Holzgebäude. Das könnte sie sein.«

»Gut«, sagte Hunter. Er wollte nicht erst lange nach der Pulverkammer suchen müssen, wenn sie in die Festung eingedrungen waren. »Gibt es Verteidigungsanlagen außerhalb der Mauern?«

Lazue suchte das Gelände ab. »Ich sehe keine.«

»Gut. Und was ist mit dem Schiff?«

»Eine Notbesatzung«, sagte sie. »Ich sehe fünf oder sechs Männer auf den Beibooten, die am Ufer vertäut liegen, bei der Barackensiedlung.«

Hunter hatte die Baracken bemerkt. Das war eine Überraschung – eine Reihe von plumpen Holzgebäuden am Ufer, in einiger Entfernung von der Festung. Offenbar waren sie als Quartiere für die Besatzung der Galeonen errichtet worden, was der Beleg dafür war, dass die Besatzung vorhatte, länger in Matanceros zu bleiben, vielleicht bis die Schatzflotte im nächsten Jahr eintraf.

»Soldaten in der Siedlung?«

»Ich sehe ein paar Rotröcke.«

»Wachen an den Beibooten?«

»Nein.«

»Sie machen es uns einfach«, sagte Hunter.

»Bisher«, sagte Sanson.

Die fünf sammelten ihre Ausrüstung zusammen und beseitigten sämtliche Spuren, die ihren Aufenthalt in der Höhle hätten verraten können. Dann machten sie sich auf den langen Marsch den Hügel hinab nach Matanceros.

Auf dem Weg nach unten stellte sich ihnen ein ganz anderes Problem als auf dem Weg nach oben zwei Tage zuvor. Hoch auf dem Osthang des Mount Leres war die Vegetation spärlicher und bot nur wenig Schutz. Sie waren gezwungen, sich von einem dichten Dornengestrüpp zum nächsten zu schleichen, und kamen entsprechend langsam voran.

Am Mittag erlebten sie eine Überraschung. Cazallas schwarzes Kriegsschiff tauchte vor der Hafenmündung auf und ging, nachdem es die Segel gerefft hatte, unweit der Festung vor Anker. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen, und Lazue erkannte durch das Fernrohr Cazalla im Heck.

»Das macht alles zunichte«, sagte Hunter, als er die Position des Kriegsschiffs sah. Es lag längsseits am Ufer, sodass eine volle Breitseite seiner Kanonen die Fahrrinne erfassen würde.

»Was machen wir, wenn das Schiff bleibt, wo es ist?«, fragte Sanson.

Hunter stellte sich genau die gleiche Frage, und es fiel ihm nur eine Antwort ein. »Wir stecken es in Brand«, sagte er. »Wenn es vor Anker bleibt, müssen wir es in Brand stecken.«

»Ein Beiboot anzünden und es auf das Schiff zutreiben lassen?«

Hunter nickte.

»Das hat kaum Aussicht auf Erfolg«, meinte Sanson.

Dann sagte Lazue, die noch immer durchs Fernrohr spähte: »Da ist eine Frau.«

»Was?«, sagte Hunter.

»In dem Beiboot. Cazalla hat eine Frau bei sich.«

»Lass mal sehen.« Hunter nahm ungeduldig das Fernrohr an sich. Doch als er hindurchschaute, sah er nur eine weiße, verschwommene Gestalt im Heck neben Cazalla sitzen, der aufrecht stand und zur Festung blickte. Genaueres konnte Hunter nicht erkennen. Er gab Lazue das Fernrohr zurück. »Beschreib sie.«

»Weißes Kleid und Sonnenschirm – oder sie hat einen großen Hut oder irgendeine andere Kopfbedeckung auf. Dunkles Gesicht.«

»Seine Konkubine?«

Lazue schüttelte den Kopf. Das Beiboot wurde jetzt unweit der Festung vertäut. »Sie steigt aus. Sie fuchtelt mit den Armen, als würde sie sich wehren –«

»Vielleicht ist sie unsicher auf den Beinen.«

»Nein«, sagte Lazue mit Nachdruck. »Sie wehrt sich. Die Männer halten sie fest. Führen sie mit Gewalt in die Festung.«

»Sie ist dunkelhäutig, sagst du?«, fragte Hunter wieder. Das war verwirrend. Nicht auszuschließen, dass Cazalla eine Frau gefangen genommen hatte, aber eine Frau, von der er sich ein Lösegeld verspricht, wäre natürlich hellhäutig.

»Dunkelhäutig, ja«, sagte Lazue. »Aber mehr kann ich wirklich nicht erkennen.«

»Wir werden abwarten«, sagte Hunter.

Drei Stunden später, als der Nachmittag am heißesten war, rasteten sie zwischen ein paar stacheligen Accara-Büschen, um eine Ration Wasser zu trinken. Lazue sah, dass von der Festung ein Beiboot ablegte, diesmal mit einem Mann an Bord, den sie als »gestreng, sehr schlank, sehr ordentlich und steif« beschrieb.

»Bosquet«, sagte Hunter. Bosquet war Cazallas Stellvertreter, ein abtrünniger Franzose, der als kühler und unerbittlicher Anführer bekannt war. »Ist Cazalla bei ihm?«

»Nein«, sagte Lazue.

Das Beiboot machte längsseits des Kriegsschiffs fest, und Bosquet kletterte an Bord. Augenblicke später hievte die Schiffsbesatzung das Beiboot hoch. Das konnte nur eines bedeuten.

»Die legen ab«, sagte Sanson. »Das Glück bleibt Euch hold, mein Freund.«

»Nicht so schnell«, sagte Hunter. »Warten wir ab, ob sie Kurs auf Ranomos nehmen«, wo sich die Cassandra samt Besatzung versteckt hielt. Einen Angriff musste die Cassandra nicht fürchten, weil das Gewässer dort, wo sie vor Anker lag, für das Kriegsschiff zu seicht war, aber Bosquet könnte die Schaluppe in der Bucht blockieren – und ohne die Cassandra war ein Angriff auf Matanceros unsinnig. Sie brauchten die Männer der Cassandra, um die Schatzgaleone zu segeln.

Das Kriegsschiff verließ den Hafen und ging auf südlichen Kurs, aber das war nötig, um in tiefes Wasser zu gelangen. Außerhalb der Fahrrinne segelte es weiter gen Süden.

»Verdammt«, sagte Sanson.

»Nein, sie nimmt bloß Fahrt auf«, sagte Hunter. »Wartet.«

Noch während er sprach, drehte das Kriegsschiff in den Wind und nahm einen Steuerbordkurs nach Norden. Hunter schüttelte erleichtert den Kopf.

»Ich kann schon das Gold zwischen den Fingern spüren«, sagte Sanson.

Eine Stunde später war von dem schwarzen Schiff nichts mehr zu sehen.

Als die Dunkelheit hereinbrach, waren sie vom spanischen Lager höchstens noch eine Viertelmeile entfernt. Die Vegetation bot hier bessere Deckung, und sie suchten sich eine Gruppe eng stehender Palmen, in deren Schutz sie die Nacht verbringen wollten. Sie machten kein Feuer und aßen nur ein paar rohe Pflanzen, ehe sie sich auf die klamme Erde legten. Sie waren alle müde, aber auch angespannt, weil sie den Spaniern so nah waren, dass sie schwach das Geplauder spanischer Stimmen vernahmen und ihnen die in der Luft treibenden Gerüche von spanischen Kochfeuern in die Nase stiegen. Während sie unter den Sternen lagen, erinnerten diese Klänge und Düfte sie an die Schlacht, die nun unmittelbar bevorstand.


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