KAPITEL 30

Im Morgengrauen war er an Deck, schritt auf und ab und überwachte die Vorbereitungen seiner Besatzung auf die Schlacht. Leinen und Streben wurden verdoppelt, damit das Schiff, wenn einige von Kugeln zerfetzt wurden, manövrierfähig blieb. Schlafmatten und Decken wurden mit Wasser getränkt und zum Schutz gegen umherfliegende Splitter an Relings und Schotten festgebunden. Das gesamte Deck wurde wiederholt mit Wasser begossen, um das trockene Holz zu durchfeuchten, damit es nicht so schnell Feuer fing.

Inmitten des ganzen Getriebes kam Enders herüber. »Meldung vom Ausguck, Captain. Das Kriegsschiff ist verschwunden.«

Hunter war verblüfft. »Verschwunden?«

»Aye, Captain. Irgendwann in der Nacht.«

»Überhaupt nicht mehr in Sicht?«

»Aye, Captain.«

»Er kann nicht aufgegeben haben«, sagte Hunter. Er dachte über die Möglichkeiten nach. Vielleicht war Bosquet nördlich oder südlich von der Insel in Lauerstellung gegangen. Vielleicht verfolgte er irgendeinen anderen Plan oder vielleicht hatte der Beschuss mit dem Falkonett ja doch mehr Schaden angerichtet, als die Freibeuter vermuteten. »Also schön, weitermachen«, sagte Hunter.

Das Verschwinden des Kriegsschiffes hatte für ihn zunächst einmal erfreuliche Auswirkungen. So würde er mit seinem schwerfällig gewordenen Schiff die Monkey Bay zumindest ungestört verlassen können.

Die Durchfahrt durch die enge Passage hatte ihm Sorgen bereitet.

Er sah, dass Sanson auf der ein Stück entfernt liegenden Cassandra die Vorbereitungen zur Abfahrt leitete. Die Schaluppe lag heute tiefer im Wasser. Im Laufe der Nacht hatte Hunter die Hälfte des Schatzes aus seinem Frachtraum in den Bauch der Cassandra schaffen lassen. Es war durchaus damit zu rechnen, dass wenigstens eines der beiden Schiffe versenkt wurde, und er wollte zumindest einen Teil des Schatzes retten.

Sanson winkte ihm zu. Hunter winkte zurück und dachte, dass er Sanson an diesem Morgen nicht beneidete. Ihren Plänen nach würde das kleinere Schiff im Falle eines Angriffs Kurs auf den nächsten sicheren Hafen nehmen, während Hunter den Kampf mit dem spanischen Kriegsschiff aufnahm. Das war nicht ohne Risiko für Sanson, der Mühe haben könnte, unbehelligt zu entkommen. Falls die Spanier nämlich beschlossen, zuerst Sanson aufs Korn zu nehmen, würde Hunters Schiff nicht angreifen können. Die Kanonen der El Trinidad waren nur für zwei Verteidigungssalven vorbereitet.

Aber falls Sanson diese Möglichkeit befürchtete, so ließ er es sich nicht anmerken; sein Winken wirkte durchaus fröhlich. Einige Minuten später lichteten die beiden Schiffe den Anker und steuerten unter leichten Segeln auf das offene Meer zu.

Die See war rau. Nachdem sie die Korallenriffe und das flache Wasser hinter sich hatten, blies ein Vierzig-Knoten-Wind die Dünung zwölf Fuß hoch. Die Cassandra tanzte und hüpfte auf dem Wasser, während Hunters Schiff träge wankte wie ein krankes Tier.

Enders jammerte kläglich und bat Hunter dann, für einen Augenblick das Ruder zu übernehmen. Hunter sah zu, wie der Meereskünstler zu einer Stelle am Bug ging, wo keine Segel über ihm waren.

Enders stellte sich mit dem Rücken zum Wind und breitete die Arme aus. So blieb er einen Augenblick stehen, drehte sich dann ein wenig, die Arme noch immer ausgebreitet.

Hunter erkannte den alten Seemannstrick, um das Auge eines Hurrikans zu orten. Wenn man sich mit ausgebreiteten Armen und mit dem Rücken zum Wind stellte, lag das Auge des Sturms stets zwei Kompassstriche vor der Richtung, in die die linke Hand zeigte.

Enders kam grummelnd und fluchend zurück zum Ruder. »Er ist süd-südwest«, sagte er, »und ich will verflucht sein, wenn wir ihn nicht noch vor Einbruch der Dunkelheit zu spüren bekommen.«

Und tatsächlich, der Himmel bezog sich bereits dunkelgrau, und der Wind schien mit jeder Minute stärker zu werden. Die El Trinidad krängte bedenklich, als sie Cat Island hinter sich ließ und die Rauheit der offenen See voll zu spüren bekam.

»Verdammt«, sagte Enders. »Ich trau diesen vielen Kanonen nicht, Captain. Können wir nicht wenigstens zwei oder drei wieder nach steuerbord schaffen?«

»Nein«, sagte Hunter.

»Dann wird sie flinker«, sagte Enders. »Das würde Euch gefallen, Captain.«

»Bosquet auch«, sagte Hunter.

»Zeigt mir Bosquet«, sagte Enders, »und ich sag kein Wort mehr über Eure Kanonen.«

»Da ist er«, sagte Hunter und deutete nach achtern. Enders blickte in die Richtung und sah, wie das spanische Kriegsschiff am Nordufer von Cat Island auftauchte und ihnen dicht auf den Fersen war.

»Der küsst uns ja schon fast den Hintern«, sagte Enders. »Schockschwerenot, er ist gut auf Kurs.«

Das Kriegsschiff hielt auf den verwundbarsten Teil der Galeone zu, das Achterdeck. Achtern war jedes Schiff schwach – weshalb Schätze stets im Bug verstaut wurden und die geräumigsten Kajüten immer achtern lagen. Der Kapitän eines Schiffes mochte zwar eine große Kajüte haben, aber man ging auch davon aus, dass er während einer Schlacht nicht darin sein würde.

Hunter hatte achtern keine einzige Kanone; sie zeigten alle nach backbord. Und die Schlagseite des Schiffes machte es Enders unmöglich, die traditionelle Verteidigungstaktik bei einem Angriff von hinten anzuwenden, nämlich einen Zickzackkurs zu fahren, um ein schlechtes Ziel abzugeben. Enders hatte schon Mühe genug, das Schiff halbwegs gerade zu halten, damit kein Wasser über Bord schwappte, was ihn todunglücklich machte.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Hunter, »und Land auf steuerbord halten.«

Er ging nach vorne zur Seitenreling, wo Don Diego durch ein seltsames Instrument spähte, das er gebaut hatte. Es war eine Holzvorrichtung, knapp drei Fuß lang und am Hauptmast befestigt. An beiden Enden befand sich ein kleiner viereckiger Holzrahmen mit einem x-förmigen Fadenkreuz darin.

»Es ist ganz einfach«, sagte der Jude. »Das Ziel wird von hier anvisiert«, sagte er und stellte sich an ein Ende. »Wenn die beiden Fadenkreuze sich decken, ist die Position richtig. Genau der Teil des Ziels, der sich im Schnittpunkt der Fäden befindet, wird getroffen.«

»Was ist mit der Reichweite?«

»Dafür braucht Ihr Lazue.«

Hunter nickte. Mit ihren scharfen Augen konnte Lazue Entfernungen erstaunlich präzise einschätzen.

»Die Reichweite ist nicht das Problem«, sagte der Jude. »Das Problem ist die zeitliche Berücksichtigung der Dünung. Hier, seht selbst.«

Hunter trat hinter die Vorrichtung.

Er schloss ein Auge und spähte so lange, bis die zwei X sich deckten. Und dann sah er, wie stark das Schiff schaukelte.

Zeigte das Fadenkreuz eben noch zum leeren Himmel, war es im nächsten Augenblick auf das wogende Meer gerichtet.

Er stellte sich vor, wie er eine Salve abfeuern ließ. Zwischen seinem Feuerbefehl und dem Augenblick, an dem die Kanonen gezündet wurden, gäbe es eine Verzögerung, das wusste er. Er musste das mit einberechnen. Und die Kugeln selbst flogen langsam: Eine weitere halbe Sekunde würde vergehen, ehe sie das Ziel trafen. Alles zusammen über eine Sekunde zwischen Feuerbefehl und Einschlag.

In dieser Sekunde würde das Schiff wie verrückt auf dem Ozean tanzen. Kalte Angst erfasste ihn. Sein verzweifelter Plan war bei schwerem Seegang unmöglich durchzuführen. Sie würden es niemals schaffen, zwei zielsichere Salven abzufeuern.

»Wo es vor allen Dingen auf die zeitliche Abstimmung ankommt«, sagte der Jude, »könnte das Duell ein nützliches Beispiel sein.«

»Gut«, sagte Hunter. Der Gedanke war hilfreich. »Verständigt die Geschützbesatzungen. Die Signale lauten: klar zum Feuern, drei, zwei, eins, Feuer. Verstanden?«

»Ich werde es ihnen sagen«, nickte der Jude. »Aber beim Schlachtenlärm …«

Hunter nickte. Der Jude war heute sehr scharfsinnig und dachte um einiges klarer als Hunter selbst. Sobald die ersten Schüsse fielen, würden gerufene Kommandos übertönt oder missverstanden werden. »Ich gebe die Kommandos. Ihr steht neben mir und gebt Handzeichen.«

Der Jude nickte und ging, um die Männer zu unterrichten. Hunter rief Lazue und erklärte ihr, wie wichtig die präzise Einschätzung der Entfernung war. Die Kanonen waren auf fünfhundert Yards ausgerichtet. Lazue würde äußerst genaue Angaben machen müssen. Sie sagte, sie traue sich das zu.

Er ging zurück zu Enders, der unablässig vor sich hin schimpfte. »Dauert nicht mehr lang, und der Sauhund rammt uns den Arsch«, sagte er. »Ich kann ihn schon an der Rosette spüren.«

Im selben Augenblick eröffnete das spanische Kriegsschiff mit seinen Bugkanonen das Feuer. Kleine Kugeln sausten pfeifend durch die Luft.

»Ein echter Heißsporn«, sagte Enders und schüttelte die Faust in der Luft.

Eine zweite Salve ließ Holz am Heckkastell zersplittern, richtete aber keinen ernsthaften Schaden an.

»Ruhig bleiben«, sagte Hunter. »Lasst ihn aufholen.«

»Ihn aufholen lassen! Mir bleibt ja wohl kaum was anderes übrig.«

»Kühlen Kopf bewahren«, sagte Hunter.

»Um meinen Kopf mach ich mir keine Sorgen«, sagte Enders, »aber um meinen teuren Hintern.«

Eine dritte Salve zischte mittschiffs durch die Luft und landete harmlos im Wasser. Darauf hatte Hunter gewartet.

»Rauchtöpfe!«, rief er, und die Besatzung lief los, um die an Deck bereitstehenden Fässer mit Pech und Schwefel anzuzünden. Rauchschwaden stiegen auf und trieben nach achtern. Hunter wollte damit einen größeren Schaden vortäuschen. Er konnte sich gut vorstellen, welches Bild die El Trinidad den Spaniern bot: ein krängendes Schiff in Bedrängnis, das jetzt in dunklen Rauch gehüllt war.

»Er dreht nach Osten«, sagte Enders. »Jetzt bereitet er den Todesstoß vor.«

»Gut«, sagte Hunter.

»Gut«, wiederholte Enders kopfschüttelnd. »Beim Henker, unser Captain sagt gut.«

Hunter beobachtete, wie das spanische Kriegsschiff auf die Backbordseite der Galeone zog. Bosquet hatte den Angriff nach klassischer Manier begonnen und setzte ihn in gleicher Weise fort. Er ging auf Abstand zu seinem Ziel, um knapp außer Reichweite der Kanonen auf einen parallelen Kurs zu kommen.

Sobald er seine Breitseite zur Galeone hin ausgerichtet hatte, würde er den Abstand allmählich verringern. Und wenn er dann in Reichweite war – ab ungefähr zweitausend Yards –, würde Bosquet das Feuer eröffnen und immer weiter schießen, während er näher und näher kam. Diese Phase würde für Hunter und seine Besatzung am schwierigsten werden. Sie mussten diese Breitseiten über sich ergehen lassen, bis das spanische Schiff in ihrer Reichweite war.

Hunter sah, dass das feindliche Schiff jetzt genau parallel auf der Backbordseite der El Trinidad fuhr, gut eine Meile entfernt.

»Ruhig Blut«, sagte Hunter und legte Enders eine Hand auf die Schulter.

»Ihr macht mich fertig«, knurrte Enders, »noch ehe der Heißsporn von Spanier dazu kommt.«

Hunter ging nach vorn zu Lazue.

»Entfernung knapp unter zweitausend Yards«, sagte Lazue, die mit zusammengekniffenen Augen auf das feindliche Schiff spähte.

»Wie schnell kommen sie näher?«

»Schnell. Sie sind ungeduldig.«

»Umso besser für uns«, sagte Hunter.

»Entfernung noch achtzehnhundert Yards«, sagte Lazue.

»Macht euch auf eine Salve gefasst«, sagte Hunter.

Sekunden später explodierte die erste Breitseite von dem Kriegsschiff, und die Kugeln landeten platschend im Wasser vor der Backbordseite.

Der Jude zählte. »Eins Madonna, zwei Madonna, drei Madonna, vier Madonna …«

»Unter siebzehnhundert«, sagte Lazue.

Der Jude hatte bis fünfundsiebzig gezählt, als die zweite Breitseite abgefeuert wurde. Eisenkugeln zischten rings um sie herum durch die Luft, doch keine traf das Schiff.

Sogleich fing der Jude wieder an zu zählen. »Eins Madonna, zwei Madonna …«

»Nicht so flott, wie sie sein könnten«, sagte Hunter. »Das hätten sie in sechzig Sekunden schaffen können.«

»Fünfzehnhundert Yards«, murmelte Lazue.

Eine weitere Minute verstrich, dann kam die dritte Breitseite. Und die traf mit Wucht ins Ziel. Um Hunter herum brach plötzlich heilloses Chaos aus – Männer brüllten, Splitter sausten durch die Luft, Spieren und Takelage krachten aufs Deck.

»Schäden!«, rief er. »Schäden melden!« Er spähte durch den Qualm zum feindlichen Schiff hinüber, das unaufhaltsam näher kam. Er bemerkte nicht einmal den Seemann, der sich vor Schmerzen schreiend zu seinen Füßen wand, die Hände aufs Gesicht gedrückt, während Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll.

Der Jude blickte nach unten und sah einen riesigen Splitter, der sich dem Seemann durch die Wange in den Gaumen gebohrt hatte. Im nächsten Augenblick beugte Lazue sich ruhig über den Mann und schoss ihm mit ihrer Pistole in den Kopf. Eine blassrosa glitschige Masse spritzte über die Holzplanken. Seltsam gleichgültig erkannte der Jude, dass es das Gehirn des Mannes war. Er sah Hunter an, der gebannt auf den Feind starrte.

»Schäden melden!«, rief Hunter wieder, als die nächste Salve einschlug.

»Bugspriet weg!«

»Focksegel weg!«

»Kanone zwei beschädigt!«

»Kanone sechs beschädigt!«

»Besantoppsegel zerfetzt!«

»Weg da unten!«, schrie eine Stimme, als auch schon die oberen Spieren des Besanmastes krachend in einem Regen aus Holz und Tauen herabfielen.

Hunter warf sich hin, als alles rings um ihn herum aufs Deck schlug. Ein Segel bedeckte ihn, und als er sich aufrappelte, stach ein Messer durch den Stoff, dicht neben seinem Gesicht. Er wich zurück und sah Tageslicht; Lazue schnitt ihn frei.

»Du hättest fast meine Nase erwischt«, sagte er.

»Die würdest du nicht vermissen«, sagte Lazue.

Eine weitere Salve vom spanischen Kriegsschiff pfiff über ihre Köpfe hinweg.

»Sie sind zu hoch«, schrie Enders außer sich vor Freude. »Kreuzdonnerwetter, sie sind zu hoch!«

Hunter blickte nach vorne, und im selben Augenblick krachte eine Kugel in die Geschützbesatzung Nummer fünf. Die Bronzekanone wurde in die Luft katapultiert, dicke Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Ein Mann wurde von einem rasiermesserscharfen Stück in den Hals getroffen. Er fasste sich an die Kehle, fiel aufs Deck und krümmte sich vor Schmerz.

Gleich daneben wurde ein anderer voll von einer Kugel erwischt. Sie halbierte seinen Körper, riss die Beine unter ihm weg. Der Rumpf rollte schreiend einige Augenblicke lang über die Planken, bis der Blutverlust den Tod brachte.

»Schäden melden!«, rief Hunter. Einem Mann, der neben ihm stand, zertrümmerte ein Flaschenzug den Schädel, und er starb in einer roten, klebrigen Blutlache.

Die Spiere des Focktoppsegels stürzte herab und zerschmetterte zwei Männern die Beine; sie heulten und brüllten zum Erbarmen.

Schon kam die nächste Breitseite von den Spaniern.

Inmitten dieses Chaos aus Verletzten, Toten und Zerstörung zu stehen und einen kühlen Kopf zu bewahren, war fast unmöglich, und doch tat Hunter sein Bestes, während eine Salve nach der anderen in sein Schiff krachte. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit die Spanier das Feuer eröffnet hatten. Das Deck war übersät mit Tauwerk und Spieren und gesplittertem Holz. Die Schreie der Verwundeten verschmolzen mit dem Heulen der Kanonenkugeln in der Luft. Für Hunter war das ganze Tohuwabohu um ihn herum längst zu einer ständigen Geräuschkulisse geworden, die er gar nicht mehr richtig wahrnahm. Obwohl er wusste, dass seine Galeone langsam und unerbittlich zerstört wurde, hielt er die Augen starr auf das feindliche Schiff gerichtet, das näher und näher kam.

Er hatte schwere Verluste erlitten. Sieben Männer waren tot und zwölf verletzt; zwei Geschützstände waren zerstört. Er hatte den Bugspriet mit allem Segel verloren; er hatte das Besantoppsegel und die Großsegeltakelung auf der Leeseite verloren; er hatte zwei Treffer unter die Wasserlinie bekommen, und die El Trinidad nahm rasch Wasser auf. Schon jetzt spürte er, wie sie tiefer im Wasser lag und nicht mehr so schnell war, sondern irgendwie schleppend und tranig vorankam.

Er konnte nicht versuchen, die Lecks abdichten zu lassen. Seine Leute hatten schon alle Hände voll damit zu tun, das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es unmöglich zu steuern war oder glattweg sank.

Er blinzelte durch den Qualm auf das spanische Schiff. Es war nur noch schwer zu sehen. Trotz des starken Windes waren die beiden Schiffe von beißendem Rauch umhüllt.

Das Kriegsschiff schloss rasch auf.

»Siebenhundert Yards«, sagte Lazue tonlos. Sie war verletzt. Ein scharfkantiges Holzstück hatte ihr schon bei der fünften Salve den Unterarm aufgerissen. Sie hatte sich rasch eine Aderpresse unterhalb der Schulter angelegt und widmete sich weiter ihrer Aufgabe, ohne auf das Blut zu achten, das zu ihren Füßen aufs Deck tropfte.

Eine weitere Salve kam kreischend angeflogen und brachte die Galeone mit mehreren Treffern ins Schaukeln.

»Sechshundert Yards.«

»Klar zum Feuern!«, rief Hunter und beugte sich vor, um das Ziel ins Fadenkreuz zu nehmen. Er visierte die Mitte des spanischen Kriegsschiffs an, das jedoch unvermutet ein wenig vorrückte. Jetzt hatte er das Heckkastell im Visier.

Auch gut, dachte er, während er das Schwanken der El Trinidad durch das Fadenkreuz abschätzte. Langsam bekam er ein Gefühl für den Rhythmus, auf und ab, auf und ab, sah mal den grauen Himmel, dann nur Wasser, dann wieder das Kriegsschiff. Dann grauen Himmel, als die El Trinidad weiter nach oben schaukelte.

Er zählte vor sich hin, wieder und wieder, bewegte dabei lautlos die Lippen.

»Fünfhundert Yards«, sagte Lazue.

Hunter wartete noch einen Augenblick länger. Dann zählte er.

»Eins«, rief er, als das Fadenkreuz gen Himmel zeigte. Dann sank die Galeone nach unten, und die Umrisse des Kriegsschiffs glitten rasch vorbei.

»Zwei«, rief er, als das Fadenkreuz in die schäumende See zeigte.

Es folgte ein kurzes Zögern in der Bewegung. Er wartete.

»Drei!« Er rief, als die Aufwärtsbewegung begann.

»Feuer!«

Die Galeone erbebte und bockte ruckartig nach oben, als alle dreißig Kanonen gleichzeitig feuerten. Hunter wurde so heftig nach hinten gegen den Hauptmast gerissen, dass ihm die Luft wegblieb. Er merkte es kaum – er wartete auf die Abwärtsbewegung, um zu sehen, was mit dem Feind passiert war.

»Du hast getroffen«, sagte Lazue.

Und tatsächlich. Die Wucht des Einschlags hatte das spanische Schiff zur Seite geschleudert, sodass das Heck nach außen schwenkte. Die Umrisse des Heckkastells waren jetzt eine gezackte Linie, und der gesamte Besanmast stürzte in einer seltsam langsamen Bewegung mit Segeln und allem ins Wasser.

Doch im selben Augenblick sah Hunter, dass er zu weit vorne getroffen hatte, um das Ruder zu beschädigen, aber nicht weit genug vorne, um den Steuermann zu erwischen. Das Kriegsschiff war noch immer manövrierfähig.

»Nachladen und ausfahren!«, rief er.

Auf dem spanischen Schiff herrschte ein gehöriges Durcheinander. Er wusste, dass er Zeit gewonnen hatte. Ob er allerdings die zehn Minuten gewonnen hatte, die er für die Vorbereitung der zweiten Salve brauchte, das blieb abzuwarten.

Am Heck des Kriegsschiffs waren Seeleute hektisch damit beschäftigt, die Taue des gestürzten Besanmastes zu kappen, um ihn vom Schiff wegzubekommen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden die im Wasser treibenden Trümmer mit dem Ruderblatt zusammenstoßen. Doch dazu kam es nicht.

Hunter hörte das Rumpeln unter seinen Füßen, als die Kanonen ein Deck tiefer eine nach der andern neu geladen und zurück in die Schießscharten geschoben wurden.

Das spanische Kriegsschiff war jetzt näher, keine vierhundert Yards auf backbord, doch für den Abschuss einer weiteren Breitseite fuhr es noch in einem zu schlechten Winkel.

Eine Minute verging, dann noch eine.

Die Spanier hatten ihr Schiff wieder fest im Griff, als der Besanmast mitsamt Segeln und Takelung im Kielwasser davontrieb.

Der Bug drehte in den Wind, und das Schiff begann auf Hunters schwache Steuerbordseite zu wechseln.

»Verdammt«, sagte Enders. »Ich hab gewusst, er ist ein gerissener Hund!«

Das spanische Schiff ging für eine Steuerbordbreitseite in Position, die prompt einen Augenblick später erfolgte. Auf diese kürzere Entfernung war die Wirkung fürchterlich. Spieren und Tauwerk stürzten rings um Hunter aufs Deck.

»Mehr verkraften wir nicht«, sagte Lazue leise.

Hunter hatte das Gleiche gedacht. »Wie viele Kanonen einsatzbereit?«, rief er.

Don Diego, der unten war, blickte das Deck entlang. »Sechzehn!«

»Wir feuern mit sechzehn«, sagte Hunter.

Wieder schlug eine spanische Breitseite mit verheerender Wirkung ein. Hunters Schiff wurde um ihn herum in Stücke geschossen.

»Mr Enders!«, brüllte Hunter. »Fertig machen zum Wenden!«

Enders blickte Hunter fassungslos an. Wenn sie jetzt vor dem Wind wendeten, musste sie vor den Bug des spanischen Schiffes kreuzen und kämen ihm noch näher.

»Fertig machen zum Wenden!«, rief Hunter erneut.

»Klar zum Wenden!«, brüllte Enders. Verblüffte Seeleute hasteten zu den Leinen, machten sich hektisch daran, sie zu entwirren.

Das Kriegsschiff verringerte den Abstand.

»Dreihundertfünfzig Yards«, sagte Lazue.

Hunter hörte sie kaum. Er scherte sich nicht länger um die Entfernung. Er visierte mit den Fadenkreuzen die qualmenden Umrisse des Kriegsschiffes an. Seine Augen brannten, und er sah nur noch verschwommen durch einen Tränenschleier. Er blinzelte ihn weg und richtete den Blick starr auf einen gedachten Punkt an der spanischen Silhouette. Tief und knapp hinter der Buglinie.

»Klar zum Wenden! Ree!«, brüllte Enders.

»Klar zum Feuern«, rief Hunter.

Enders war verblüfft. Hunter wusste das, ohne das Gesicht des Meereskünstlers zu sehen. Er hielt das Auge auf das Fadenkreuz gerichtet. Hunter würde feuern, während das Schiff wendete. Ein nie da gewesenes, wahnsinniges Unterfangen.

»Eins!«, rief Hunter.

Im Fadenkreuz sah er sein Schiff durch den Wind schwingen und wenden, um auf die Spanier zuzuhalten.

»Zwei!«

Die El Trinidad war deutlich langsamer geworden, die Fadenkreuze glitten an den unscharfen spanischen Umrissen entlang. Vorbei an den vorderen Geschützscharten, auf blankes Holz …

»Drei!«

Das Fadenkreuz kroch auf dem Ziel weiter, aber es war zu hoch. Er wartete darauf, dass sich die Galeone senkte, weil sich das Kriegsschiff im selben Augenblick leicht heben und mehr Flanke zeigen würde.

Er wartete, wagte nicht zu atmen, wagte nicht zu hoffen. Das Kriegsschiff hob sich, ein wenig, dann »Feuer!«

Wieder taumelte sein Schiff unter dem Rückstoß der Kanonen. Es war eine wüste Salve, Hunter hörte und spürte sie, konnte aber nichts sehen. Er wartete, bis der Rauch sich lichtete und das Schiff nicht mehr so stark schaukelte. Er sah hin. »Barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue.

Das spanische Kriegsschiff wirkte unverändert. Hunter hatte es glatt verfehlt.

»Zur Hölle mit mir«, sagte Hunter und dachte, dass sie jetzt alle zur Hölle fahren würden. Die nächste Breitseite von den Spaniern würde ihnen den Garaus machen.

Don Diego sagte: »Es war ein nobler Versuch. Ein nobler Versuch und mutig ausgeführt.«

Lazue schüttelte den Kopf. Sie küsste ihn auf die Wange. »Mögen die Heiligen uns alle bewahren«, sagte sie. Eine Träne lief ihr über die Wange.

Hunter war zutiefst verzweifelt. Sie hatten ihre letzte Chance vertan und er hatte sie alle enttäuscht. Jetzt blieb ihnen nur noch, die weiße Flagge zu hissen und sich zu ergeben.

»Mr Enders«, rief er, »hisst die weiße –«

Er erstarrte: Enders tanzte hinter dem Ruder, schlug sich klatschend auf die Oberschenkel und brüllte vor Lachen.

Dann hörte er von unten Triumphgeschrei. Die Männer auf dem Kanonendeck jauchzten und jubelten.

Waren sie verrückt geworden?

Neben ihm stieß Lazue einen Freudenschrei aus und lachte genauso laut los wie Enders. Hunter wirbelte zu dem spanischen Kriegsschiff herum, dessen Bug sich gerade mit einer Welle hob – und dann sah er das klaffende Loch, wenigstens sieben oder acht Fuß breit, unter der Wasserlinie. Gleich darauf senkte der Bug sich wieder, und der Schaden war nicht mehr zu sehen.

Er hatte kaum Zeit, sich über die Bedeutung dessen, was er da gesehen hatte, klar zu werden, als aus dem Bugkastell des Kriegsschiffs dichte Rauchwolken quollen und erschreckend schnell aufstiegen. Einen Augenblick später hallte eine Explosion übers Wasser.

Und dann verschwand das Kriegsschiff in einem riesigen Flammenball, als der Pulverraum in die Luft flog. Es gab eine donnernde Detonation, so gewaltig, dass die El Trinidad von der Wucht durchgeschüttelt wurde. Dann folgten eine zweite und eine dritte Detonation, und das Kriegsschiff löste sich binnen Sekunden vor ihren Augen auf. Hunter sah nur bruchstückhafte Bilder der Zerstörung – die umstürzenden Masten; die Kanonen, die von unsichtbaren Händen durch die Luft geschleudert wurden; das ganze Schiffsgerüst, das in sich selbst zusammenfiel, ehe es in alle Richtungen zersprengt wurde.

Irgendetwas prallte über ihm gegen den Hauptmast und fiel ihm auf den Kopf. Es rutschte ihm auf die Schulter und aufs Deck. Er vermutete einen Vogel, doch als er nach unten blickte, sah er, dass es eine abgetrennte menschliche Hand war. An einem Finger steckte ein Ring.

»Großer Gott«, flüsterte er, und als er wieder zu dem Kriegsschiff sah, bot sich ihm ein ebenso erstaunlicher Anblick.

Das Schiff war verschwunden.

Buchstäblich verschwunden: Eben noch war es da gewesen, verzehrt von lodernden Flammen und heißen Explosionsbällen, aber noch da. Jetzt war es verschwunden. Brennende Trümmer, Segel und Balken trieben auf dem Wasser, dazwischen die Leichen von Seeleuten. Und er hörte die Schreie und Rufe der Überlebenden. Doch das Kriegsschiff war verschwunden.

Rings um ihn herum lachten und sprangen seine Männer vor ausgelassener Freude. Hunter konnte nur auf das Wasser starren, wo das Kriegsschiff gewesen war. Inmitten der brennenden Wrackteile fiel sein Blick auf einen Körper, der bäuchlings im Wasser trieb. Es war der Körper eines spanischen Offiziers, wie Hunter an der blauen Uniform erkannte. Die Hose des Mannes war bei den Explosionen zerfetzt worden, und sein nacktes Hinterteil war dem Blick preisgegeben. Hunter starrte auf das nackte Fleisch, fasziniert, dass der Rücken unversehrt geblieben war, die Kleidung darunter aber weggerissen. Der Leichnam schaukelte in den Wellen, und auf einmal sah Hunter, dass der Kopf fehlte.

An Bord seines eigenen Schiffes merkte er undeutlich, dass die Besatzung nicht mehr jubelte. Sie waren alle verstummt und sahen ihn an. Er ließ den Blick über ihre müden, verdreckten, blutigen Gesichter schweifen, sah ihre ausgelaugten und vor Erschöpfung leeren Augen, die dennoch seltsam erwartungsvoll waren.

Sie blickten ihn an und schienen darauf zu warten, dass er irgendetwas tat. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht vorstellen, was sie von ihm wollten. Und dann spürte er etwas auf den Wangen.

Regen.


Загрузка...