KAPITEL 28

Nach der nervenaufreibenden Fahrt durch das Riff herrschte auf beiden Schiffen eine fröhlich ausgelassene Stimmung, und die Besatzungen riefen einander im Dämmerlicht Glückwünsche und scherzhafte Unverschämtheiten zu. Hunter war nicht nach Jubeln zumute. Er stand auf dem Heckkastell der Galeone und beobachtete das Kriegsschiff, das trotz der rasch zunehmenden Dunkelheit immer näher kam.

Die Spanier waren jetzt keine halbe Meile mehr von der Bucht entfernt, kurz vor der Lücke im Riff. Bosquet hatte großen Wagemut, dachte Hunter, sich so weit zu nähern, wo es fast dunkel war. Er ging damit ein großes und unnötiges Risiko ein.

Enders, der die Spanier ebenfalls beobachtete, stellte die unausgesprochene Frage: »Warum?«

Hunter schüttelte den Kopf. Er sah, wie das Kriegsschiff die Ankerleine auswarf, er sah das Aufspritzen, als der Anker ins Wasser fiel.

Das feindliche Schiff war so nahe, dass er die lauten spanischen Befehle hören konnte, die übers Wasser zu ihm trieben. Am Heck des Schiffes herrschte geschäftiges Treiben. Dann wurde ein zweiter Anker ausgeworfen.

»Das versteh ich nicht«, sagte Enders. »Er hat um sich meilenweit tiefes Wasser, um die Nacht abzuwarten, aber er geht bei vier Faden vor Anker.«

Hunter ließ das andere Schiff nicht aus den Augen. Ein weiterer Heckanker landete im Wasser, und viele Hände zogen an der Leine. Das Heck des Kriegsschiffes schwenkte herum Richtung Ufer.

»Verdammt«, sagte Enders. »Die werden doch wohl nicht …«

»Oh doch«, sagte Hunter. »Die gehen in Breitseitenstellung. Anker lichten.«

»Anker lichten!«, rief Enders seiner überraschten Besatzung zu. »Fock bereit machen, los! Alle Mann an die Leinen!« Er drehte sich wieder zu Hunter um. »Wir laufen ganz sicher auf Grund.«

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Hunter.

Bosquets Absicht war nur allzu klar. Er hatte vor der Mündung der Bucht so nah am Riff geankert, dass seine Breitseitkanonen die El Trinidad erreichen konnten. Er hatte vor, dort zu bleiben und die Galeone die Nacht hindurch zu beschießen. Hunter musste sich ins flache Wasser retten, um außer Reichweite zu kommen, sonst wären seine Schiffe am nächsten Morgen zerstört.

Und tatsächlich, schon öffneten sich am spanischen Kriegsschiff die Geschützluken und die Mündungen der Kanonen tauchten auf, um gleich darauf das Feuer zu eröffnen. Kugeln fetzten durch die Takelage der El Trinidad und platschten ringsherum ins Wasser.

»Setzt den Kahn in Bewegung, Mr Enders«, bellte Hunter.

Wie als Antwort darauf schoss das spanische Kriegsschiff eine zweite Breitseite ab, die gezielter war. Etliche Kugeln trafen die El Trinidad, ließen Holz splittern und Leinen reißen.

»Verdammt«, sagte Enders, mit so viel Schmerz in der Stimme, als wäre er selbst verwundet worden.

Doch jetzt kam Hunters Schiff in Bewegung und schob sich langsam außer Reichweite, sodass die Kugeln der nächsten Breitseite in einer beeindruckend schnurgeraden Linie von Platschern harmlos im Wasser landeten.

»Die haben gute Leute an Bord«, sagte Enders.

»Manchmal«, sagte Hunter, »zeigt Ihr für meinen Geschmack zu viel Wertschätzung für gute Seemannskunst.«

Inzwischen war es fast dunkel; die vierte Breitseite war als Muster roter zuckender Blitze von den schwarzen Umrissen des Kriegsschiffes zu sehen. Sie konnten zwar kaum etwas erkennen, hörten aber das Platschen der Kugeln in ihrem Kielwasser.

Und dann verdeckte das niedrige geschwungene Hügelland den Blick auf das feindliche Schiff.

»Anker werfen«, rief Enders, doch es war zu spät. Im selben Augenblick lief die El Trinidad mit leisem Knirschen auf dem sandigen Grund der Monkey Bay auf.

In der Nacht saß Hunter allein in seiner Kajüte und schätzte seine Lage ein. Dass er auf Grund gelaufen war, beunruhigte ihn nicht im Geringsten. Das Schiff war bei Ebbe aufgelaufen, und er würde es mühelos wieder flott bekommen, wenn in ein paar Stunden die Flut einsetzte.

Fürs Erste waren die beiden Schiffe in Sicherheit. Die Bucht war nicht ideal, aber sie war durchaus zweckdienlich. Das Trinkwasser und die Vorräte an Bord reichten für über zwei Wochen, ohne dass seine Besatzung darben musste. Falls sie an Land Nahrung und Wasser fänden – und davon ging er aus –, könnten sie monatelang in der Monkey Bay bleiben.

Zumindest so lange, bis ein Sturm aufzog. Ein Sturm könnte sich verheerend auswirken. Die Monkey Bay lag auf der Luvseite einer Ozeaninsel und hatte keine große Wassertiefe. Ein schwerer Sturm würde seine Schiffe innerhalb weniger Stunden zermalmen. Es war Hurrikanzeit, daher konnte er nicht auf allzu viele sturmfreie Tage hoffen, und wenn einer aufzog, musste er die Bucht verlassen.

Bosquet würde das wissen. Wenn er ein geduldiger Mensch war, konnte er einfach die Ausfahrt aus der Bucht versperren, im tiefen Wasser ausharren und auf schlechtes Wetter warten, das die Galeone zwingen würde, ihre geschützte Position aufzugeben.

Doch Bosquet war anscheinend kein geduldiger Mensch. Ganz im Gegenteil: Alle Anzeichen sprachen dafür, dass er einfallsreich und waghalsig war, ein Mann, der lieber in die Offensive ging, wenn er konnte. Und er hatte gute Gründe für einen Angriff, ehe das Wetter umschlug.

Bei jedem Seegefecht sorgte schlechtes Wetter für einen Ausgleich, den der Schwächere herbeisehnte und der Stärkere fürchtete. Ein Sturm setzte beiden Schiffen zu, verminderte aber die Schlagkraft des überlegenen Schiffes unverhältnismäßig. Bosquet musste wissen, dass Hunters Schiffe unterbesetzt und leicht bewaffnet waren.

Während er allein in seiner Kajüte saß, versetzte Hunter sich in den Kopf eines Mannes, dem er nie begegnet war, und versuchte, dessen Gedanken zu erraten. Bosquet würde mit Sicherheit am Morgen angreifen, befand er schließlich.

Der Angriff würde entweder vom Land oder vom Meer oder von beidem aus erfolgen, je nachdem, wie viele spanische Soldaten Bosquet an Bord hatte und wie groß ihr Vertrauen zu ihrem Befehlshaber war. Hunter erinnerte sich an die Soldaten, die ihn im Frachtraum des Kriegsschiffs bewacht hatten. Es waren junge Männer gewesen, unerfahren, mit einer schlechten Disziplin.

Auf sie war kein Verlass.

Nein, so befand er, Bosquet würde zuerst von seinem Schiff aus angreifen. Er würde versuchen, in die Bucht vorzudringen, bis er in Sichtweite der Galeone war. Er ging vermutlich davon aus, dass die Freibeuter sich in flachem Wasser befanden, was das Manövrieren erschweren würde.

Im Augenblick hatten sie dem Feind das Heck zugewandt, den verwundbarsten Teil des Schiffes. Bosquet konnte bis knapp in die Mündung der Bucht hineinsegeln und so lange Breitseiten abfeuern, bis beide Schiffe sanken. Und das konnte er ohne Gefahr für den Schatz auf der Galeone tun, denn der läge dann in flachem Wasser, wo er ihn von einheimischen Tauchern bergen lassen konnte.

Hunter ließ Enders kommen und befahl, die spanischen Gefangenen sicher einzusperren. Dann gab er Befehl, alle tauglichen Freibeuter mit Musketen zu bewaffnen und unverzüglich an Land zu setzen.


Ein sanfter Morgen tagte über der Monkey Bay. Es wehte nur ein leichter Wind und der Himmel war mit zarten Wolken geschmückt, die rosa im ersten Tageslicht schimmerten. An Bord des spanischen Kriegsschiffs verrichtete die Besatzung die Morgenarbeiten träge und lustlos. Die Sonne stand schon ein gutes Stück über dem Horizont, ehe die Befehle zum Segelsetzen und Ankerlichten ertönten.

In diesem Augenblick eröffneten die Freibeuter, die sich entlang des Ufers auf beiden Seiten der Fahrrinne in die Bucht versteckt hatten, aus allen Rohren das Feuer. Die spanische Besatzung wurde völlig überrumpelt. In den ersten Sekunden wurden alle Männer an der Winde des Hauptankers getötet. Auch alle Männer, die dabei waren, den Heckanker zu lichten, starben oder wurden verwundet. Sämtliche Offiziere, die an Deck zu sehen waren, wurden erschossen, und die Männer in der Takelage wurden mit erstaunlicher Zielsicherheit getroffen und stürzten schreiend aufs Deck.

Dann hörte das Feuer genauso unvermittelt wieder auf. Bis auf einen grauen Pulverschleier, der am Ufer in der Luft hing, war keine Bewegung zu sehen, kein Blätterrascheln zu hören, nichts.

Hunter hatte an der Spitze der Landzunge Posten bezogen und beobachtete das Kriegsschiff zufrieden durch sein Fernrohr. Er hörte die verwirrten Rufe und sah die halb gerefften Segel in der Brise flattern und knattern. Etliche Minuten verstrichen, bis wieder Männer der Besatzung in die Takelage kletterten und sich an den Ankerwinden zu schaffen machten. Sie fingen zunächst zaghaft an, wurden jedoch wagemutiger, als eine weitere Salve ausblieb.

Hunter wartete.

Er hatte einen deutlichen Vorteil, das wusste er. In einer Zeit, in der weder Musketen noch Musketiere sich durch besondere Treffsicherheit auszeichneten, waren die Freibeuter hervorragende Schützen. Seine Männer konnten selbst bei unruhigem Wellengang Seeleute an Deck eines fliehenden Schiffes erschießen. Vom Ufer aus zu feuern war für sie ein Kinderspiel.

Es war nicht einmal eine Herausforderung.

Hunter wartete ab, bis er sah, wie die Ankerleine sich bewegte, dann erst gab er das Zeichen zum Feuern. Eine weitere Salve peitsche auf das Kriegsschiff, mit der gleichen verheerenden Wirkung. Dann wurde es wieder still.

Bosquet war gewiss inzwischen klar geworden, dass ihn die Einfahrt in die Korallenpassage, die ihn noch näher ans Ufer bringen musste, ungeheure Verluste kosten würde. Er könnte es wahrscheinlich durch die Passage und bis in die Bucht schaffen, aber dann würden Dutzende, vielleicht Hunderte seiner Männer getötet. Noch bedrohlicher war das Risiko, dass wichtige Männer in der Takelage oder sogar der Steuermann selbst erschossen würden und das Schiff dann in gefährlichen Gewässern führerlos wäre.

Hunter wartete. Er hörte, wie Kommandos gerufen wurden, dann trat erneut Stille ein. Und auf einmal sah er die Hauptankerleine ins Wasser fallen. Sie hatten sie gekappt. Gleich darauf wurden auch die Heckleinen gekappt, und das Schiff trieb langsam vom Riff weg.

Sobald sie außer Reichweite der Musketen waren, tauchten wieder Männer an Deck und in der Takelage auf. Die Segel wurden ausgerollt. Hunter wartete ab, ob das Kriegsschiff Richtung Ufer drehen würde. Aber nein. Es glitt vielleicht hundert Yards nach Norden und warf dort wieder einen Anker aus. Die Segel wurden eingeholt und das Schiff dümpelte sanft vor Anker, unmittelbar vor den Hügeln, die die Bucht schützten.

»Tja«, sagte Enders. »Das war’s dann erst mal. Die Spanier können nicht rein und wir können nicht raus.«

Um die Mittagsstunde war es in der Monkey Bay brütend heiß und stickig geworden. Hunter schritt auf dem aufgeheizten Deck seiner Galeone hin und her und spürte das weich gewordene Pech klebrig unter den Füßen. Er war sich der Ironie seiner misslichen Lage durchaus bewusst. Er hatte die tollkühnste Kaperfahrt des Jahrhunderts mit vollem Erfolg durchgeführt – nur um sich von einem einzigen spanischen Kriegsschiff in die Falle einer drückend heißen, ungesunden Bucht jagen zu lassen.

Es war ein schwieriger Augenblick für ihn und noch schwieriger für seine Leute. Die Freibeuter erwarteten von ihrem Captain eine starke Führung und neue Pläne, und es war nur allzu offensichtlich, dass Hunter nicht weiterwusste. Irgendwer war an die Rumvorräte gekommen, und es gab etliche trunkene Schlägereien unter den Männern; ein Seemann forderte einen anderen nach einem Streit zum Duell. Enders konnte das Schlimmste gerade noch verhindern. Hunter ließ verlauten, dass er jeden, der einen anderen tötete, ebenfalls töten würde. Der Captain wollte seine Besatzung unversehrt, und persönliche Unstimmigkeiten konnten bis zu ihrer Rückkehr nach Port Royal warten.

»Ich weiß nicht, ob sie das hinnehmen«, sagte Enders düster wie eh und je.

»Sie werden«, sagte Hunter.

Er stand gerade mit Lady Sarah an Deck im Schatten des Hauptmastes, als irgendwo unter Deck ein Pistolenschuss fiel.

»Was war das?«, sagte Lady Sarah beunruhigt.

»Ein Unglückszeichen«, sagte Hunter.

Einige Augenblicke später brachte Bassa einen Mann nach oben, der verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff des riesigen Mauren zu befreien. Enders folgte niedergeschlagen hinterdrein.

Hunter blickte den Seemann an. Er war ein angegrauter Mann von fünfunddreißig Jahren namens Lockwood. Hunter kannte ihn ein kaum.

»Hat Perkins hiermit ins Ohr geschossen«, sagte Enders und reichte Hunter eine Pistole.

Die Besatzung versammelte sich nach und nach auf dem Hauptdeck, mürrisch und finster in der heißen Sonne. Hunter zog seine eigene Pistole aus dem Gürtel und überprüfte das Pulver.

»Was habt Ihr vor?«, sagte Lady Sarah, die aufmerksam zuschaute.

»Das geht Euch nichts an«, sagte Hunter.

»Aber –«

»Seht weg«, sagte Hunter. Er hob die Pistole.

Der Maure ließ den Seemann los. Der betrunkene Mann stand mit hängendem Kopf da.

»Er hat mich wütend gemacht«, sagte er.

Hunter schoss ihn in den Kopf. Das Gehirn spritzte über die Planken.

»Oh Gott!«, sagte Lady Sarah Almont.

»Wirf ihn über Bord«, sagte Hunter. Bassa packte den Toten an den Armen, und als er ihn wegschleifte, schabten dessen Füße laut in der Mittagsstille übers Deck. Kurz darauf ertönte ein lautes Platschen und der Leichnam war verschwunden.

Hunter blickte seine Besatzung an. »Wollt Ihr einen neuen Captain wählen?«, sagte er laut.

Die Männer grummelten und wandten sich ab. Keiner sprach ein Wort.

Bald darauf war das Deck wieder leer. Die Männer hatten sich vor der Hitze nach unten geflüchtet.

Hunter sah Lady Sarah an. Sie schwieg, doch ihr Blick war anklagend.

»Das sind harte Männer«, sagte Hunter, »und sie leben nach den Regeln, die wir alle akzeptieren.«

Sie sagte nichts, sondern drehte sich auf dem Absatz um und ging. Hunter blickte Enders an. Der zuckte die Achseln.

Später am Nachmittag erfuhr Hunter von seinem Mann im Ausguck, dass sich an Bord des Kriegsschiffs wieder etwas tat. Alle Beiboote waren zu Wasser gelassen worden, auf der Ozeanseite, außer Sicht vom Land aus. Sie waren offenbar am Schiff festgemacht, denn es war noch keines aufgetaucht. Vom Deck des Kriegsschiffs stieg dichter Rauch auf. Es brannte irgendein Feuer, doch zu welchem Zweck, war unklar. So blieb die Lage bis zum Abend.

Der Einbruch der Dunkelheit war ein Segen. In der kühlen Abendluft schritt Hunter auf der El Trinidad auf und ab und sah sich die langen Reihen seiner Kanonen an. Er ging von einer zur anderen, blieb stehen, um sie zu berühren, fuhr mit den Fingern über die Bronze, die noch die Wärme des Tages gespeichert hatte. Er überprüfte das Zubehör, das bei jeder verstaut war: den Ladestock, die Pulverbeutel, die aufgehäuften Kugeln, die Federkiele zum Anstechen der Pulverbeutel und die Lunten in den Wassereimern.

Es war alles einsatzbereit – das viele Schießpulver, die vielen Geschütze. Er hatte alles, was er brauchte, nur keine Männer, um die Kanonen abzufeuern. Und ohne die Männer könnte er genauso gut keine Kanonen haben.

»Ihr seid in Gedanken versunken.«

Er drehte sich verblüfft um. Lady Sarah stand in einem weißen Nachtgewand vor ihm. In der Dunkelheit sah es aus wie ein Unterkleid.

»Ihr solltet Euch nicht so kleiden, bei den vielen Männern an Bord.«

»Es war zu heiß zum Schlafen«, sagte sie. »Außerdem war ich unruhig. Was ich heute mit angesehen habe …«

»Das hat Euch verstört?«

»So etwas Grausames hab ich noch nie gesehen, nicht einmal bei einem Monarchen. Charles selbst ist nicht so erbarmungslos, so willkürlich.«

»Charles hat den Kopf voll mit anderen Dingen. Seinen Vergnügungen.«

»Ihr wollt mich missverstehen.« Selbst im Dunkeln schimmerte so etwas wie Zorn in ihren Augen.

»Madam«, sagte Hunter. »In dieser Gesellschaft –«

»Gesellschaft? Ihr nennt das hier« – sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Schiff und die Männer, die an Deck schliefen – »Ihr nennt das hier Gesellschaft?«

»Natürlich. Wo immer Menschen zusammen sind, gibt es Regeln, wie man sich zu verhalten hat. Die Regeln dieser Männer unterscheiden sich von denen am Hofe von Charles oder von Louis oder auch von denen in der Kolonie Massachusetts, wo ich geboren wurde. Und doch gibt es Regeln, die es zu achten gilt, und Strafen für die, die sie brechen.«

»Ihr seid ein Philosoph.« Ihre Stimme im Dunkeln klang sarkastisch.

»Ich sage nur, was ich weiß. Was würde Euch am Hof von Charles widerfahren, wenn Ihr Euch vor dem Monarchen nicht verbeugen würdet?«

Sie schnaubte, als ihr klar wurde, worauf er hinauswollte.

»Hier ist es genauso«, sagte Hunter. »Diese Männer sind wild und gewalttätig. Wenn ich über sie bestimmen soll, müssen sie mir gehorchen. Wenn sie mir gehorchen sollen, müssen sie mich achten. Wenn sie mich achten sollen, müssen sie meine Macht anerkennen, die absolut ist.«

»Ihr sprecht wie ein König.«

»Ein Captain ist ein König, er herrscht über seine Besatzung.«

Sie trat näher. »Und nehmt Ihr Euch auch Eure Vergnügungen, wie ein König das tut?«

Ihm blieb nur eine Sekunde Zeit zum Nachdenken, ehe sie ihre Arme um ihn schlang und ihn auf den Mund küsste, fest. Er erwiderte ihre Umarmung. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie: »Ich habe solche Angst. Alles ist fremd hier.«

»Madam«, sagte er, »es ist meine Pflicht, Euch sicher zu Eurem Onkel und meinem Freund Gouverneur Sir James Almont zurückzubringen.«

»Redet nicht so gestelzt. Seid Ihr Puritaner?«

»Nur von Geburt«, sagte er und küsste sie erneut.

»Vielleicht sehe ich Euch später noch«, sagte sie.

»Vielleicht.«

Sie ging nach unten, nicht ohne ihm im Dunkeln noch einen letzten Blick zugeworfen zu haben. Hunter lehnte sich gegen eine Kanone und sah ihr nach.

»Appetitliches Weibsbild, was?«

Er drehte sich um. Es war Enders, der ihn angrinste.

»Kaum ist eine Hochwohlgeborene mal aus ihrem goldenen Käfig, schon wird sie ganz wild, was?«

»Scheint so«, sagte Hunter.

Enders blickte an den Kanonen entlang und schlug mit der flachen Hand auf ein Geschützrohr. Es hallte dumpf. »Zum Wahnsinnigwerden, nicht?«, sagte er. »All die schönen Kanonen und wir können sie nicht einsetzen, weil wir nicht genug Männer haben.«

»Ihr solltet Euch schlafen legen«, sagte Hunter knapp und ging davon.

Aber was Enders gesagt hatte, war richtig. Er schritt weiter auf dem Deck hin und her. Die Frau verschwand aus seinen Gedanken, die sich erneut mit den Kanonen befassten. Irgendein ruheloser Teil seines Gehirns grübelte wieder und wieder darüber nach, auf der Suche nach einer Lösung. Es musste irgendeinen Weg geben, diese Kanonen zu benutzen, davon war er überzeugt. Da war irgendetwas, das seinem Gedächtnis entglitten war, irgendetwas, das er vor langer Zeit mal gewusst hatte.

Diese Frau hielt ihn offensichtlich für einen ungehobelten Barbaren – oder schlimmer noch, für einen Puritaner. Er lächelte im Dunkeln bei dem Gedanken. In Wahrheit war Hunter ein gebildeter Mann. Er war in allen wichtigen Wissenschaften, wie sie seit dem Mittelalter galten, unterrichtet worden. Er hatte die Geschichte des Altertums studiert, Latein und Griechisch, Naturphilosophie, Religion und Musik. Damals hatte ihn nichts davon interessiert.

Schon in jungen Jahre hatte ihn praktisches, empirisches Wissen weitaus mehr fasziniert als die Meinungen von irgendwelchen Denkern, die längst tot waren. Jeder Schuljunge wusste, dass die Welt um ein Vielfaches größer war, als es Aristoteles sich je erträumt hatte. Hunter selbst war in einem Land geboren worden, von dessen Existenz die alten Griechen keine Ahnung hatten.

Jetzt jedoch erwachten in ihm Bruchstücke seiner Bildung zum Leben. Er musste immer wieder an Griechenland denken – irgendetwas mit Griechenland oder den alten Griechen –, aber er wusste einfach nicht, was oder warum.

Dann fiel ihm das Ölgemälde in Cazallas Kajüte an Bord des spanischen Kriegsschiffs ein. Hunter hatte kaum auf das Bild geachtet und konnte es sich jetzt auch nicht mehr deutlich in Erinnerung rufen. Aber irgendetwas mit einem Gemälde auf einem Kriegsschiff ließ ihm keine Ruhe mehr. In irgendeiner Weise war es wichtig.

Aber wieso nur? Er verstand nichts von Malerei. Malen war in seinen Augen eine ausgesprochen nebensächliche Begabung, lediglich geeignet, irgendwelche Wände zu verschönern und nur für eitle und wohlhabende Adelige von Interesse, die sich gegen Bezahlung porträtieren ließen, mit schmeichelhaften Verschönerungen. Die Maler selbst waren, wie er wusste, schlichte Gemüter, die wie Zigeuner ruhelos von einem Land zum anderen wanderten, stets auf der Suche nach irgendeinem Gönner, der ihre Arbeit unterstützte. Es waren heimatlose, entwurzelte, leichtfertige Gesellen, ohne die feste Bindung eines starkes Gefühls für die Nation, in die sie hineingeboren worden waren. Hunter dagegen betrachtete sich trotz der Tatsache, dass seine Urgroßeltern von England nach Massachusetts geflohen waren, als reinblütigen Engländer und leidenschaftlichen Protestanten. Er führte Krieg gegen einen spanischen und katholischen Feind und hatte für niemanden Verständnis, der nicht ebenso patriotisch war. Sich allein der Malerei verbunden zu fühlen, das war wahrlich eine fade Form der Treue.

Und doch kamen Maler in der Welt herum. Franzosen gingen nach London, Griechen nach Spanien und Italiener überall hin. Selbst in Kriegszeiten kamen und gingen die Maler nach Lust und Laune, vor allem die Italiener. Es gab so viele Italiener.

Wieso dachte er jetzt daran?

Er ging über das dunkle Schiff, von Kanone zu Kanone. Er berührte eine. Sie hatte seitlich einen Wahlspruch eingeprägt:


SEMPER VINCIT


Die Worte schienen ihn zu verspotten. Nicht immer, dachte er.

Nicht ohne Männer, die laden und zielen und feuern konnten. Er berührte den Schriftzug, fuhr mit den Fingern über die Rillen, spürte den feinen glatten Bogen des S, die sauberen Linien des E.


SEMPER VINCIT


Es lag irgendwie Kraft in diesem knappen und klaren Latein, den zwei forschen Wörtern, soldatisch und hart. Die Italiener hatten das verloren; Italiener waren weich und blumig, und ihre Sprache hatte sich verändert, um diese Weichheit widerzuspiegeln. Es war lange her, seit Caesar kurz und bündig gesagt hatte: Veni, vidi, vici.


VINCIT


Das eine Wort schien auf etwas zu verweisen. Er betrachtete die säuberlichen Linien der Buchstaben, und dann sah er vor seinem geistigen Auge noch mehr Linien, Linien und Winkel, und er war wieder bei den alten Griechen, bei der euklidischen Geometrie, die für ihn als Junge so eine Qual gewesen war. Er hatte nie begreifen können, was so wichtig daran war, ob zwei Winkel gleich groß waren oder ob zwei Linien sich irgendwann überschnitten. Was spielte das für eine Rolle?


VINCIT


Er musste wieder an Cazallas Gemälde denken, ein Kunstwerk hatte auf einem Kriegsschiff nichts zu suchen, diente keinem Zweck. Das war die Schwäche der Kunst, sie war nicht praktisch. Kunst siegte gegen nichts.


VINCIT


Sie siegt. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Wahlspruch in eine Kanone gestanzt war, die gegen nichts siegte, dachte Hunter lächelnd. Die Waffe war ebenso nutzlos für ihn wie Cazallas Gemälde. Sie war ebenso nutzlos für ihn wie Euklids Postulate. Er rieb sich die müden Augen.

Die ganze Denkerei brachte ihn nicht weiter. Er drehte sich im Kreis, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Ziel, angetrieben von der Ruhelosigkeit eines entmutigten Mannes, der in der Falle saß und vergeblich nach einem Ausweg suchte.

Und dann hörte er den Schrei, den Seeleute mehr fürchten als jeden anderen: »Feuer!«


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