KAPITEL 23

Enders, der Bader und Meereskünstler, stand am Ruder der Cassandra und beobachtete, wie die sanften Brecher silbern aufschäumten, wenn sie gut hundert Yards backbord über das Riff von Barton’s Cay brandeten. Weit vor ihm am Horizont erhob sich Matanceros bedrohlich wie ein schwarzer Klotz.

Ein Mann trat hinter ihn. »Das Glas wurde gewendet«, sagte er.

Enders nickte. Fünfzehn Glasen waren seit Einbruch der Dunkelheit vergangen, also war es jetzt kurz vor zwei Uhr morgens. Der Wind aus östlicher Richtung blies frisch mit zehn Knoten, und das Schiff machte gute Fahrt, sodass es die Insel in einer Stunde erreichen würde.

Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die Umrisse von Mount Leres. Den Hafen von Matanceros konnte Enders noch nicht sehen. Erst wenn er um die Südspitze der Insel herum war, würde die Festung in Sicht kommen und hoffentlich auch die Galeone, vorausgesetzt, sie lag noch im Hafen verankert.

Allerdings war er dann auch in Reichweite der Kanonen von Matanceros, es sei denn, Hunter und sein Trupp hatten sie unschädlich gemacht.

Enders blickte zu der Besatzung hinüber, die auf dem offenen Deck der Cassandra stand. Keiner sprach ein Wort. Alle schauten schweigend zu, wie die Insel vor ihnen größer wurde. Sie wussten, was auf dem Spiel stand, und sie kannten die Risiken: Binnen einer Stunde würde jeder von ihnen entweder unvorstellbar reich sein oder – und das war weit wahrscheinlicher – tot.

Zum hundertsten Mal in dieser Nacht fragte Enders sich, was wohl aus Hunter und den anderen geworden war und wo sie sich befanden.


Im Schatten der Mauern von Matanceros biss Sanson auf die Golddublone und gab sie Lazue. Lazue biss darauf, reichte sie dann an den Mauren weiter. Hunter beobachtete das lautlose Ritual, von dem sich alle Freibeuter vor einem Raubzug Glück versprachen. Als er schließlich selbst an der Reihe war und auf die Dublone biss, spürte er, wie weich das Metall war. Dann warf er die Münze vor den Augen der anderen über seine rechte Schulter.

Ohne ein Wort strebten die fünf in verschiedene Richtungen.

Hunter und Don Diego schlichen mit Seilen und Enterhaken ausgestattet in nördlicher Richtung an der Festung entlang. Sie mussten sich immer wieder verstecken, um patrouillierende Wachen passieren zu lassen. Hunter blickte an der hohen Steinmauer von Matanceros hoch. Im oberen Bereich war sie besonders glatt gemauert und mit einem abgerundeten Rand ausgestattet worden, um den Einsatz von Enterhaken zu erschweren. Aber das Maurergeschick der Spanier war gegen diese Sonderanfertigung machtlos. Hunter war sicher, dass seine Haken Halt finden würden.

An der nördlichen Festungsmauer, die am weitesten vom Meer entfernt lag, verharrten sie. Nach zehn Minuten kam eine Patrouille vorbei, deren Rüstungen und Waffen in der stillen Nachtluft klirrten. Sie warteten, bis die Soldaten außer Sicht waren.

Dann nahm Hunter Anlauf und schleuderte den Enterhaken über die Mauer. Er hörte ein schwaches metallisches Klirren, als das Eisen auf der Innenseite landete. Er zog an dem Seil, und das Eisen kam zurück und landete polternd neben ihm auf der Erde. Er fluchte und wartete lauschend.

Es war kein Laut zu vernehmen, nichts, was darauf hindeutete, dass irgendwer ihn gehört hatte. Er warf den Haken erneut, sah zu, wie er hoch über die Mauer segelte. Wieder zog er am Seil. Und musste zur Seite springen, als das Eisen herunterfiel.

Er warf ein drittes Mal, und diesmal packte der Haken – doch fast im selben Augenblick hörte er wieder Metall klirren. Rasch kletterte Hunter hechelnd und keuchend die Mauer hoch, angetrieben durch die Geräusche nahender Soldaten. Er erreichte die Brüstung, warf sich hinüber und zog das Seil hoch. Don Diego hatte sich im Gebüsch versteckt.

Die Wache marschierte unter ihm vorbei.

Hunter warf das Seil hinunter, und Don Diego kam heraufgeklettert, auf Spanisch knurrend und fluchend. Don Diego war nicht stark, und er schien endlos lange zu brauchen. Doch schließlich tauchte er oben auf, und Hunter half ihm in Sicherheit. Er zog das Seil hoch. Die beiden Männer duckten sich gegen den kalten Stein und sahen sich um.

Matanceros lag still in der Dunkelheit. In den aufgereihten Zelten schlummerten Hunderte von Männern. Es war ein seltsamer Kitzel, einer so großen feindlichen Überzahl so nahe zu sein.

»Wachen?«, flüsterte der Jude.

»Ich sehe keine«, sagte Hunter, »bis auf die da hinten.« Auf der anderen Seite der Festung standen zwei Gestalten bei den Kanonen. Aber sie blickten aufs Meer, sollten von ihrem Posten aus den Horizont nach nahenden Schiffen absuchen.

Don Diego nickte. »Die Pulverkammer wird bewacht sein.«

»Vermutlich.«

Die beiden Männer waren fast unmittelbar über dem Holzgebäude, in dem Lazue die Pulverkammer vermutete. Von ihrer geduckten Position aus war die Tür zu dem Gebäude nicht zu sehen.

»Da müssen wir als Erstes hin«, sagte der Jude.

Sie hatten keinen Sprengstoff mitgenommen, nur Zündschnüre. Den Sprengstoff wollten sie sich aus der Pulverkammer der Festung holen.

Lautlos schlich Hunter im Dunkeln nach unten, gefolgt von Don Diego, der heftig blinzelte, um in dem schwachen Licht sehen zu können. Sie näherten sich der Pulverkammer.

Es stand keine Wache am Eingang.

»Vielleicht drinnen?«, flüsterte der Jude.

Hunter zuckte die Achseln, huschte zu der Tür, lauschte, streifte seine Stiefel ab und schob behutsam die Tür auf. Mit einem Blick nach hinten vergewisserte er sich, dass auch Don Diego seine Stiefel auszog. Dann schlüpfte Hunter hinein.

Wände, Decke und Boden der Pulverkammer waren mit Kupferplatten ausgekleidet, und die wenigen sorgfältig geschützten Kerzen tauchten den Raum in ein warmes rötliches Licht, sodass er seltsam behaglich wirkte, trotz der aufgereihten Schießpulverfässer und gestapelten Säcke mit Kanonenladung, die sämtlich in angemessenem Rot beschriftet waren. Hunter bewegte sich lautlos über den Kupferboden. Er sah niemanden, hörte aber irgendwo das Schnarchen eines Mannes.

Er suchte zwischen den Fässern nach dem Mann und wurde schließlich fündig: Ein Soldat schlief gegen ein Pulverfass gelehnt. Hunter verpasste dem Mann einen harten Schlag auf den Kopf. Der Soldat stieß ein Grunzen aus und blieb dann reglos liegen.

Der Jude kam herein, ließ den Blick durch den Raum schweifen und sagte: »Ausgezeichnet.« Dann machten sie sich augenblicklich an die Arbeit.


Anders als in der still schlafenden Festung tobte in der schäbigen Barackensiedlung, in der die Besatzung der Galeone untergebracht war, lautes und lärmendes Leben. Sanson, der Maure und Lazue schlichen an Fenstern vorbei, hinter denen Soldaten bei gelbem Laternenlicht tranken und Karten spielten. Ein betrunkener Soldat kam herausgestolpert, stieß mit Sanson zusammen, lallte entschuldigend und erbrach sich gegen eine Holzwand. Die drei eilten weiter, auf die Anlegestelle am Flussufer zu.

Tagsüber war die Anlegestelle nicht bewacht gewesen, jetzt jedoch saßen ganz am Ende des Stegs drei Soldaten. Sie ließen die Füße ins Wasser baumeln, während sie sich leise unterhielten und tranken, und das Murmeln ihrer Stimmen verschmolz mit dem Plätschern des Wassers gegen die Stützpfähle. Sie hatten den Freibeutern den Rücken zugewandt, aber die Holzbretter des Stegs machten ein lautloses Anschleichen unmöglich.

»Lasst mich das machen«, sagte Lazue und zog ihr Hemd aus. Nackt bis zur Taille, den Dolch auf dem Rücken versteckt, ging sie auf den Steg hinaus und pfiff dabei eine fröhliche Melodie.

Einer der Soldaten drehte sich um. »¿Qué pasa?«, fragte er und hielt eine Laterne hoch. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, als er sah, was ihm wie eine Erscheinung vorgekommen sein musste – eine barbusige Frau, die ungeniert auf ihn zukam. »Madre de Dios«, sagte er, und die Frau lächelte ihn an. Er erwiderte das Lächeln genau in dem Augenblick, als der Dolch ihm zwischen die Rippen ins Herz drang.

Die anderen Soldaten starrten die Frau mit dem blutigen Dolch an. Sie waren dermaßen überrascht, dass sie sich kaum wehrten, ehe Lazue sie erstach und ihr Blut auf Lazues nackte Brust spritzte.

Sanson und der Maure kamen angelaufen und stiegen über die Leichen der drei Männer. Lazue zog ihr Hemd wieder an. Sanson kletterte in ein Boot und ruderte unverzüglich los, auf das Heck der Galeone zu. Der Maure kappte die Leinen der anderen Boote und stieß sie hinaus in den Hafen, wo sie frei herumtrieben. Dann stieg der Maure mit Lazue in das letzte Boot und hielt auf den Bug der Galeone zu. Niemand sprach ein Wort.

Lazue zog ihr Hemd enger um sich. Das Blut der Soldaten tränkte den Stoff und sie fröstelte. Sie stand aufrecht im Boot, die Augen auf die näher kommende Galeone gerichtet, während der Maure mit raschen, kräftigen Schlägen ruderte.

Die Galeone war groß, gut einhundertvierzig Fuß lang, und sie lag fast gänzlich im Dunkeln. Nur eine Handvoll Fackeln beleuchtete ihre Umrisse. Lazue blickte nach rechts, wo sie Sanson von ihnen weg auf den Bug zurudern sah. Sansons Silhouette hob sich gegen die Lichter der lautstarken Barackensiedlung am Ufer ab. Sie wandte den Blick nach links, auf die graue Linie der Festungsmauern, und sie fragte sich, ob Hunter und der Jude bereits drin waren.


Hunter sah zu, wie Don Diego die Opossumdärme vorsichtig mit Schießpulver füllte. Es schien endlos lange zu dauern, doch der Jude ließ sich bewusst Zeit. Er hockte in der Mitte der Kammer, neben sich ein offenes Pulverfass, und summte leise vor sich hin, während er arbeitete.

»Wie lange noch?«, fragte Hunter.

»Nicht mehr lange, nicht mehr lange«, erwiderte der Jude. Er wirkte völlig gelassen. »Das wird hübsch werden«, sagte er. »Wartet’s nur ab. Es wird wunderschön werden.«

Sobald er die Därme gefüllt hatte, zerschnitt er sie in unterschiedlich lange Stücke und steckte sie in eine Tasche.

»Fertig«, sagte er. »Es kann losgehen.«

Einen Augenblick später verließen die beiden Männer die Kammer, gebeugt von der Last der Pulverladungen, die sie trugen. Sie überquerten lautlos den Haupthof der Festung und verharrten unterhalb der breiten Brustwehr, auf der die Kanonen standen. Die beiden Beobachtungsposten waren noch da.

Während der Jude mit dem Schießpulver wartete, kletterte Hunter zur Brustwehr hinauf und tötete die Wachen. Einer starb völlig lautlos, der andere gab nur ein leises Stöhnen von sich, als er zu Boden glitt.

»Diego!«, zischte Hunter.

Der Jude erschien auf der Brustwehr, sah sich die Kanonen an und begann, mit einem Ladestock in einem Rohr herumzustochern.

»Wie erfreulich«, flüsterte er. »Sie sind bereits scharf gemacht, es ist schon Pulver drin. Wir werden für eine besondere Überraschung sorgen. Kommt, helft mir.«

Der Jude schob einen zweiten Beutel Pulver in die Mündung einer Kanone. »Jetzt die Kugel«, sagte er.

Hunter runzelte die Stirn. »Aber sie stecken doch ohnehin eine Kugel rein, bevor sie feuern.«

»Natürlich. Das ergibt zwei Pulverladungen und zwei Kugeln – die Verschlüsse dieser Kanonen werden ihnen nur so um die Ohren fliegen.«

Rasch schlichen sie von einer Kolubrine zur nächsten. Bei jeder stopfte der Jude eine zweite Pulverladung ins Rohr und Hunter schob eine Kugel hinterdrein. Jede Kugel rollte mit einem leisen Rumpeln das Kanonenrohr hinunter, aber es war niemand da, der das Geräusch hätte hören können.

Als sie fertig waren, sagte der Jude: »Jetzt hab ich noch was zu erledigen. Werft Ihr derweil Sand in jedes Rohr.«

Hunter stieg leise von der Brustwehr nach unten. Er scharrte losen Sand vom Boden der Festung und warf je eine Handvoll in die Kanonenmündungen. Der Jude war schlau: Selbst wenn die Kanonen unerwarteterweise dennoch feuerten, würde der Sand in den Rohren die Treffsicherheit ruinieren – und die Innenwände derart zerfurchen, dass diese Kanonen nie wieder genau schießen würden.

Als er fertig war, sah er den Juden über eine Lafette gebeugt unter dem Kanonenrohr hantieren. Er lächelte im Dunkeln. »Das wird wunderbar.«


Der Wind drehte, und das Heck der Galeone schwang auf Sanson zu. Er machte das Boot unter dem vergoldeten Heckspiegel fest und kletterte am hintersten Spant zur Kapitänskajüte hoch. Er hörte den leisen Klang ein Liedes auf Spanisch und lauschte kurz den anzüglichen Worten, konnte aber nicht genau sagen, woher der Gesang kam. Die Töne schienen in der Luft zu treiben, trügerisch und schwach.

Er schlüpfte durch ein Bullauge in die Kapitänskajüte. Sie war leer. Dann schlich er nach draußen aufs Kanonendeck und über den Niedergang aufs Mannschaftsdeck. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Die leeren Hängematten schwangen sanft mit der Schaukelbewegung des Schiffs. Zahllose Hängematten und keine Spur von der Besatzung.

Das gefiel Sanson überhaupt nicht – ein unbewachtes Schiff war gleichbedeutend mit einem Schiff ohne Schatz an Bord. Er befürchtete jetzt, was sie alle befürchtet, aber nie ausgesprochen hatten: dass der Schatz vom Schiff gebracht und irgendwo anders gelagert worden war, vielleicht in der Festung. Falls das zutraf, war ihr Vorhaben gescheitert.

Daher hoffte Sanson, wenigstens auf eine Notbesatzung und auf Wachen zu stoßen. Er gelangte zur Heckkombüse und hier schöpfte er neuen Mut. Die Kombüse war zwar menschenleer, aber alles deutete darauf hin, dass kürzlich hier gekocht worden war – ein Ochseneintopf in einem großen Kessel, Gemüse, eine Zitronenhälfte, die auf der hölzernen Arbeitsplatte hin und her schaukelte.

Er verließ die Kombüse und suchte weiter. Von weiter weg hörte er die Rufe von dem Wachposten an Deck, der Lazue und den Mauren in ihrem näher kommenden Boot begrüßte.

Lazue und der Maure machten mittschiffs an der Strickleiter der Galeone fest. Der Wachposten an Bord beugte sich über die Reling und winkte. »¿Qué hay?«, rief er.

»Wir bringen Rum«, antwortete Lazue mit tiefer Stimme. »Mit einem schönen Gruß vom Kapitän.«

»Vom Kapitän?«

»Der hat heute Geburtstag.«

»Fantástico, fantástico.« Lächelnd trat der Wachposten zurück, um Lazue an Bord zu lassen. Er stutzte und setzte eine erschrockene Miene auf, als er das Blut an ihrem Hemd und in ihren Haaren sah. Doch schon zischte das Messer durch die Luft und bohrte sich in seine Brust. Der Mann umfasste überrascht den Griff. Er sah aus, als wollte er etwas sagen. Dann kippte er nach vorn und schlug der Länge nach aufs Deck.

Der Maure kam an Bord und schlich zum Bug, wo eine Gruppe von vier Soldaten saß und Karten spielte. Lazue sah nicht hin, was er machte, sondern ging nach unten. In einer Bugkajüte entdeckte sie zehn schlafende Soldaten. Leise schloss sie die Tür und verriegelte sie.

Fünf weitere Soldaten saßen singend und trinkend in einer Nachbarkajüte. Sie lugte hinein und sah, dass sie Pistolen hatten. Sie hatte ihre eigenen Pistolen im Gürtel stecken, würde aber nur im Notfall einen Schuss abfeuern. Sie wartete draußen neben der Tür.

Kurz darauf kam der Maure auf leisen Sohlen nach unten.

Sie deutete in die Kajüte. Er schüttelte den Kopf. Sie blieben draußen.

Nach einer Weile sagte einer der Soldaten, ihm würde gleich die Blase platzen, und verließ den Raum. Als er herauskam, schlug der Maure ihm mit einem Belegnagel auf den Kopf und der Mann landete dumpf auf den Planken, gleich neben der Tür.

Die anderen in der Kajüte hörten den Aufprall und blickten zur offenen Tür. In dem Licht, das nach draußen fiel, konnten sie die Füße des Mannes sehen.

»Juan?«

Der Mann am Boden rührte sich nicht.

»Zu viel gesoffen«, sagte jemand, und sie spielten weiter. Doch schon bald machte einer der Männer sich Sorgen um Juan und kam heraus, um nach ihm zu sehen. Lazue schnitt ihm die Gurgel durch, und der Maure sprang in den Raum, wo er den Belegnagel im weiten Bogen schwingen ließ. Die Männer fielen lautlos zu Boden.

Derweil kam Sanson auf dem Weg von der Kombüse in Richtung Bug ein spanischer Soldat entgegen. Der Mann war betrunken, ein Krug Rum baumelte ihm an der Hand, und er lachte, als er Sanson im Dunkeln sah.

»Du hast mich ganz schön erschreckt«, sagte der Soldat auf Spanisch. »Ich hab hier mit keinem gerechnet.«

Dann, aus der Nähe, sah er Sansons grimmiges Gesicht und erkannte es nicht. Ihm blieb eine Sekunde Zeit, um sich zu wundern, ehe Sansons Finger sich um seine Kehle schlossen.

Sanson stieg über einen weiteren Niedergang ein Deck tiefer. Hier befanden sich die Frachträume, die alle fest verriegelt und versiegelt waren. Er beugte sich im Dunkeln vor, um das Siegel genauer in Augenschein zu nehmen. In dem gelben Wachs sah er die Krone und den Anker, das unverkennbare Siegel der Münzstätte in Lima. Hier lagerte also Silber aus Neuspanien; sein Herz machte einen Sprung.

Er ging wieder nach oben und kam auf dem Heckkastell in der Nähe des Ruders an Deck. Wieder hörte er den leisen Gesang. Aber noch immer konnte er nicht sagen aus welcher Richtung. Er verharrte und lauschte, und dann hörte der Gesang auf und eine beunruhigte Stimme sagte: »¿Qué pasa? ¿Quién es?«

Sanson blickte auf. Natürlich! Da oben im Ausguck, über den Hauptmastspieren, stand ein Mann und blickte zu ihm herab.

»¿Quién es?«, fragte er.

Sanson war klar, dass der Mann ihn nicht gut sehen konnte. Er trat zurück in den Schatten.

»¿Qué?«, sagte der Mann verwirrt.

Im Dunkeln holte Sanson seine Armbrust heraus, spannte die Stahlfeder, legte den Pfeil ein und hob sie ans Auge. Er zielte auf den Spanier, der fluchend die Takelage heruntergeklettert kam.

Sanson schoss.

Die Wucht des Pfeils riss den Mann von der Takelage. Sein Körper flog im hohen Bogen in die Dunkelheit und schlug mit einem leisen Platsch auf dem Wasser auf. Ansonsten war kein Laut zu hören.

Sanson schlich über das leere Achterdeck, und als er zufrieden feststellte, dass er allein war, umfasste er das Ruder mit beiden Händen. Einen Augenblick später sah er Lazue und den Mauren am Bug an Deck kommen. Sie sahen ihn an und winkten, mit einem Grinsen im Gesicht.

Das Schiff gehörte ihnen.


Hunter und Don Diego waren zur Pulverkammer zurückgekehrt, wo sie eine lange Zündschnur zu den Pulverfässern legten. Sie arbeiteten jetzt flink, weil der Himmel sich bereits zu einem blassen Blau aufgehellt hatte, als sie gerade erst mit den Kanonen fertig waren.

Don Diego stapelte an mehreren Stellen im Raum jeweils mehrere Fässer übereinander. »Es geht nur so«, flüsterte er. »Sonst gibt es nur eine einzige Explosion, und das wollen wir nicht.«

Er brach zwei Fässer auf und streute das grobkörnige schwarze Pulver über den Boden. Schließlich war er zufrieden und zündete die Zündschnur an.

Im selben Augenblick ertönte ein Schrei vom Hof der Festung, und dann noch einer.

»Was ist das?«, fragte Diego.

Hunter runzelte die Stirn. »Vielleicht haben sie die toten Wachposten gefunden«, sagte er.

Gleich darauf wurde das Geschrei im Hof lauter, und sie hörten laufende Schritte. Dann erkannten sie ein Wort, das wieder und wieder gerufen wurde: »Piratas! Piratas!«

»Das Schiff muss in der Fahrrinne sein«, sagte Hunter. Er warf einen Blick auf die Zündschnur, die in der Ecke der Kammer spuckte und zischte.

»Soll ich sie löschen?«, fragte Diego.

»Nein. Lasst sie.«

»Wir können hier nicht bleiben.«

»In ein paar Minuten bricht im Hof das Chaos aus. Dann entwischen wir.«

»Ich hoffe, in ganz wenigen Minuten«, sagte Diego.

Die Schreie im Hof wurden noch lauter. Sie hörten das Getrappel unzähliger laufender Füße, als die Garnison mobilisiert wurde.

»Die werden die Pulverkammer überprüfen«, sagte Diego.

»Irgendwann, ja«, pflichtete Hunter bei.

Im selben Augenblick flog die Tür auf, und Cazalla stürmte herein, einen Degen in der Hand. Er sah sie.

Hunter schnappte sich einen Degen von den Dutzenden, die in Halterungen an der Wand hingen. »Diego, raus«, flüsterte er. Don Diego rannte zur Tür hinaus, als Cazallas Klinge auf Hunters traf. Hunter und Cazalla umkreisten sich, dann wich Hunter zurück.

»Engländer«, sagte Cazalla lachend. »Ich werde dich in Einzelteilen an meine Hunde verfüttern.«

Hunter erwiderte nichts. Er wog den Degen in der Hand, machte sich mit dem ungewohnten Gewicht vertraut, ließ die Klinge probeweise durch die Luft sausen.

»Und meine Mätresse«, sagte Cazalla, »wird deine Hoden verspeisen.«

Sie umschlichen einander argwöhnisch. Hunter lockte Cazalla nach und nach aus der Pulverkammer, weg von der zischenden Zündschnur, die der Spanier nicht bemerkt hatte.

»Hast du Angst, Engländer?«

Hunter war jetzt fast an der Tür. Cazalla machte einen Satz nach vorn. Hunter parierte, noch immer auf dem Rückzug. Cazalla sprang wieder vor. Der Vorstoß brachte ihn auf den Hof, in den Hunter zurückgewichen war.

»Du bist ein stinkender Feigling, Engländer.«

Jetzt, da sie beide auf dem Hof waren, ging Hunter zum Angriff über, und Cazalla lachte amüsiert. Einige Augenblicke lang kämpften sie schweigend, wobei Hunter sich immer weiter von der Pulverkammer wegbewegte.

Rings um sie herum rannten und schrien die Garnisonssoldaten. Jeder von ihnen hätte Hunter kurzerhand von hinten töten können. Er war in höchster Gefahr, und plötzlich begriff Cazalla, warum Hunter unaufhörlich zurückwich. Er hielt inne, trat zurück und warf einen Blick nach hinten zur Pulverkammer.

»Du Sohn einer elenden englischen Sau …«

Cazalla rannte los Richtung Pulverkammer, doch genau in diesem Moment wurde sie durch die erste Explosion in ein weiß aufloderndes Flammenmeer und sengende Hitze gehüllt.

Die Männer an Bord der Cassandra, die jetzt durch die schmale Hafeneinfahrt segelte, sahen die Explosion und jubelten. Doch Enders, am Ruder, blickte finster. Die Kanonen von Matanceros waren noch immer an Ort und Stelle; er konnte die langen Rohre aus den Einkerbungen in der Mauer ragen sehen. Im roten Schein der lodernden Flammen war deutlich zu erkennen, wie die Kanoniere hektisch die Geschütze feuerbereit machten.

»Gott steh uns bei«, sagte Enders. Die Cassandra befand sich jetzt unmittelbar in der Schusslinie der aufs Meer gerichteten Batterien. »Haltet euch fest, Kameraden«, rief er. »Wir kriegen gleich eine spanische Salve vor den Bug.«

Auf dem Vorderdeck der Galeone sahen auch Lazue und der Maure die Explosion. Und sie sahen die Cassandra an der Festung vorbeisegeln.

»Barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue. »Sie sind nicht an die Kanonen rangekommen. Sie haben sie nicht unschädlich gemacht.«

Don Diego war inzwischen aus der Festung raus und rannte zum Wasser. Er blieb nicht stehen, als das Pulverlager mit beängstigendem Getöse explodierte. Er fragte sich nicht, ob Hunter noch drin war, er dachte gar nichts. Er rannte mit keuchenden, brennenden Lungen zum Wasser.

Hunter saß in der Falle. Cazalla war nirgends zu sehen, aber die spanischen Wachen strömten durch das Westtor in die Festung, sodass ihm dieser Fluchtweg abgeschnitten war. Er wandte sich vom Pulverlager ab und rannte nach Osten auf ein niedriges Steingebäude zu, in der Absicht, aufs Dach zu klettern und von dort über die Mauer zu springen.

Gerade als er das Gebäude erreichte, griffen ihn vier Soldaten an. Sie drängten ihn mit wirbelnden Degen zur Tür des Gebäudes, und er sprang hinein und schloss sich ein. Die Tür war aus dickem Holz, und sie hämmerten vergeblich dagegen.

Als er sich umdrehte, sah er, dass er offenbar in Cazallas Quartier geflüchtet war, denn der Raum war verschwenderisch eingerichtet. Eine dunkelhaarige junge Frau lag im Bett. Sie starrte ihn panisch an, das Laken bis ans Kinn hochgezogen, während Hunter zu den hinteren Fenstern hastete. Er war schon halb zum Fenster hinaus, als er sie auf Englisch sagen hörte: »Wer seid Ihr?«

Hunter erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Akzent klang spröde und aristokratisch. »Wer zum Teufel seid Ihr?«

»Ich bin Lady Sarah Almont, aus London«, sagte sie. »Ich werde hier gefangen gehalten.«

Hunter klappte der Unterkiefer runter.

»Na denn, kleidet Euch rasch an, Madam«, sagte er.

Im selben Augenblick zerbarst ein anderes Fenster, und Cazalla sprang mit einem Satz in den Raum, den Degen in der Hand. Er war von der Explosion rußgeschwärzt. Die junge Frau schrie auf.

»Ankleiden, Madam«, sagte Hunter, während seine Klinge gegen Cazallas klirrte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie sich hastig ein prächtiges Kleid überzog.

Cazalla kämpfte keuchend, mit dem Mut der Verzweiflung und noch etwas anderem, vielleicht Furcht.

Er setzte zu einer erneuten Beleidigung an: »Engländer –«, doch da schleuderte Hunter seinen Degen durch den Raum. Die Klinge durchbohrte Cazallas Hals. Er hustete und fiel nach hinten in den Sessel neben seinem wuchtigen, reich verzierten Schreibtisch. Er beugte sich vor, um an der Klinge zu ziehen, und in der Haltung sah er aus, als würde er die Seekarten auf dem Schreibtisch studieren. Blut tropfte auf die Karten. Cazalla gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Dann brach er zusammen.

»Los jetzt«, sagte die Frau.

Hunter half ihr durchs Fenster, ohne sich noch einmal nach dem toten Cazalla umzusehen.

Sie waren jetzt auf der Nordseite der Brustwehr. Der Boden lag dreißig Fuß unter ihnen und bestand aus hart gebackener Erde. Lady Sarah klammerte sich an ihn.

»Das ist zu hoch«, sagte sie.

»Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte er und gab ihr einen Stoß, sodass sie mit einem Aufschrei herabfiel. Er blickte kurz zum Meer hin und sah die Cassandra bereits in der Hafeneinfahrt, in der Schusslinie der Hauptgeschütze der Festung. Die Kanoniere waren feuerbereit. Hunter sprang. Lady Sarah lag noch auf der Erde und hielt sich den Knöchel.

»Seid Ihr verletzt?«

»Nicht arg, glaube ich.«

Er half ihr hoch und legte sich ihren Arm um die Schulter, um sie zu stützen, dann liefen sie zum Wasser. Sie hörten die ersten Kanonen das Feuer auf die Cassandra eröffnen.

Die Kanonen von Matanceros wurden der Reihe nach gezündet, im Abstand von einer Sekunde. Und ebenso explodierten ihre Verschlüsse im Abstand von einer Sekunde, spien heißes Pulver und Bronzesplitter in die Luft. Die Kanoniere hechteten in Deckung. Eins nach dem anderen schaukelten die schweren Geschütze in ihre Rückstoßstellung und rührten sich nicht mehr.

Die Kanoniere kamen langsam wieder auf die Beine und näherten sich verblüfft den Kanonen. Sie untersuchten die aufgesprengten Zündlöcher und plapperten aufgeregt durcheinander.

Und dann gingen nacheinander die Sprengladungen unter den Lafetten hoch. Zersplittertes Holz flog durch die Luft, und die Kanonen krachten zu Boden. Die letzte von ihnen rollte die Brustwehr entlang auf einige Soldaten zu, die panisch zur Seite sprangen.

Keine fünfhundert Yards vom Ufer entfernt segelte die Cassandra unversehrt in den Hafen.

Don Diego schwamm mittlerweile im Wasser und brüllte aus Leibeskräften, als die Cassandra auf ihn zuhielt. Eine entsetzte Sekunde lang dachte er schon, es würde ihn niemand sehen oder hören, doch dann schwenkte der Bug der Schaluppe nach backbord und starke Hände griffen nach unten und zogen ihn triefend nass an Deck. Eine Flasche Teufelstöter wurde ihm in die Hände gedrückt, man klopfte ihm auf den Rücken und er hörte Lachen.

Don Diego blickte sich suchend um. »Wo ist Hunter?«, fragte er.


Im ersten Dämmerlicht lief Hunter mit der jungen Frau zu dem Ufer an der Ostspitze von Matanceros. Er befand sich jetzt genau unterhalb der Festungsmauern. Unmittelbar über ihm lagen die Rohre von einigen Kanonen kreuz und quer durcheinander.

Sie blieben am Wasser stehen, um Atem zu schöpfen.

»Könnt Ihr schwimmen?«, fragte Hunter.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Überhaupt nicht?«

»Nein, ich schwöre.«

Er blickte auf das Heck der Cassandra, die jetzt auf die Galeone zusteuerte.

»Kommt«, sagte er. Sie liefen in Richtung Hafen.

Enders, der Meereskünstler, manövrierte die Cassandra gekonnt längsseits der Galeone. Sogleich sprangen die meisten von der Besatzung auf das größere Schiff. Als Enders selbst an Bord der Galeone kam, sah er Lazue und den Mauren an der Reling. Sanson stand am Ruder.

»Es ist mir ein Vergnügen, Sir«, sagte Sanson mit einer Verbeugung und übergab das Steuer an Enders.

»Ganz meinerseits, Kamerad«, sagte Enders. Als er nach oben blickte, sah er bereits Seeleute die Takelage hochklettern. »Vorbramsegel hissen. Sachte da mit dem Klüver!« Die Segel wurden entrollt, und das große Schiff setzte sich in Bewegung.

Neben ihnen vertäute die kleine Besatzung, die auf der Cassandra blieb, deren Bug am Heck der Galeone und schwang herum, die Segel angeluvt.

Enders achtete gar nicht auf das kleine Schiff.

Seine Aufmerksamkeit galt allein der Galeone. Als das Schiff sich in Bewegung setzte und die Besatzung den Anker lichtete, schüttelte er den Kopf. »Träges altes Biest«, sagte er. »Bewegt sich wie eine Kuh.«

»Aber sie ist seetauglich«, sagte Sanson.

»Doch, doch, das ist sie, mehr oder weniger.«

Die Galeone glitt jetzt in östlicher Richtung auf die Hafenmündung zu. Enders suchte das Ufer nach Hunter ab.

»Da ist er!«, rief Lazue.

Und tatsächlich, da stand er am Ufer mit irgendeiner Frau.

»Könnt Ihr anhalten?«, fragte Lazue.

Enders schüttelte den Kopf. »Wir drehen in den Wind«, sagte er. »Werft eine Leine aus.«

Der Maure hatte das bereits getan. Das Tau landete am Ufer, Hunter und die Frau packten es und wurden augenblicklich vom Boden gerissen und ins Wasser gezogen.

»Holt sie lieber flugs an Bord, ehe sie uns noch ersaufen«, sagte Enders, aber er grinste breit.

Die junge Frau wäre tatsächlich fast ertrunken, und sie musste noch Stunden später husten. Hunter dagegen war bester Laune, als er auf der Schatznao das Kommando übernahm und mit der Cassandra im Gespann hinaus aufs offene Meer segelte.

Gegen acht Uhr morgens lagen die rauchenden Ruinen von Matanceros weit hinter ihnen. Hunter, der dabei war, seinen Triumph feuchtfröhlich zu begießen, kam der Gedanke, dass er sich jetzt rühmen konnte, die außergewöhnlichste Kaperfahrt seit Drakes Überfall in Panama angeführt zu haben.


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