KAPITEL 38

André Sanson, der auf den Tod gefährliche, starke Franzose, kannte keine Furcht, und so sah er seelenruhig zu, wie das Boot vom Ufer ablegte. Er beobachtete das Boot genau; aus der Ferne sah er sechs Ruderer und zwei Leute im Bug, konnte jedoch nicht erkennen, wer sie waren.

Er rechnete mit einer List. Der Engländer Hunter war gerissen und würde sich seine Gerissenheit zunutze machen, wenn er konnte. Sanson wusste, dass er nicht so schlau war wie Hunter. Seine Begabungen waren eher animalischer, körperlicher Natur. Und dennoch war er zuversichtlich, dass Hunter ihn nicht hinters Licht führen konnte. Das hielt er für schlichtweg unmöglich. Er war allein auf diesem Schiff und er würde allein bleiben, in Sicherheit, bis es dunkel wurde. Wenn Hunter bis dahin nicht auf seine Bedingungen eingegangen war, würde er das Schiff versenken.

Und er wusste, dass Hunter das niemals zulassen würde. Er hatte für diesen Schatz zu hart gekämpft und zu sehr gelitten. Er würde alles dafür tun, ihn zu behalten – er würde sogar Sanson freilassen. Der Franzose war zuversichtlich.

Er spähte auf das näher kommende Ruderboot. Als es nicht mehr weit entfernt war, erkannte er Hunter, der am Bug stand, zusammen mit einer Frau. Was konnte das bedeuten? Er zerbrach sich den Kopf, was Hunter geplant haben mochte.

Doch schließlich beschwichtigte er sich mit der Gewissheit, dass kein Trick möglich war. Hunter war schlau, aber auch Schlauheit hatte ihre Grenzen. Und Hunter musste wissen, dass er ihn selbst von Weitem so rasch und einfach erledigen könnte, wie er sich eine Fliege vom Ärmel wischte. Sanson könnte ihn jetzt töten, wenn er wollte. Aber dazu bestand kein Grund. Er wollte lediglich seine Freiheit und eine Begnadigung. Dafür brauchte er Hunter lebend.

Das Ruderboot kam näher, und Hunter winkte fröhlich. »Sanson, Ihr französischer Sauhund!«, rief er.

Sanson grinste und winkte zurück. »Hunter, Ihr englischer Dreckskerl!«, rief er mit einer Heiterkeit, die er nicht empfand. Seine Anspannung war groß und wuchs weiter, als er merkte, wie zwanglos Hunter sich verhielt.

Das Ruderboot kam längsseits der El Trinidad. Sanson beugte sich leicht über die Reling und zeigte ihnen die Armbrust. Aber er wollte sich nicht zu weit vorbeugen, sosehr er auch darauf brannte, einen Blick ins Boot zu werfen.

»Warum seid Ihr gekommen, Hunter?«

»Ich hab Euch ein Geschenk mitgebracht. Dürfen wir an Bord kommen?«

»Nur Ihr zwei«, sagte Sanson und trat von der Reling zurück. Er lief rasch zur anderen Seite des Schiffes, um nachzusehen, ob ein anderes Boot aus der anderen Richtung kam. Er sah nur ruhiges Wasser, das lediglich von den Flossen kreisender Haie gekräuselt wurde.

Als er sich umdrehte, hörte er, wie zwei Leute an der Bordwand hochkletterten. Er hob seine Armbrust, als die Frau auftauchte. Sie war jung und verdammt hübsch. Sie lächelte ihn fast schüchtern an und trat beiseite, als Hunter an Deck kam. Hunter blieb stehen und blickte Sanson an, der zwanzig Schritte entfernt war, die Armbrust schussbereit.

»Keine sehr gastfreundliche Begrüßung«, sagte Hunter.

»Ihr müsst mir verzeihen«, sagte Sanson. Er sah die junge Frau an, dann wieder Hunter. »Habt Ihr alles Nötige in die Wege geleitet, um meine Forderungen zu erfüllen?«

»Ja. Während wir uns unterhalten, ist Sir James dabei, die Papiere aufzusetzen. Sie werden in wenigen Stunden überbracht.«

»Und die Bedeutung Eures Besuchs?«

Hunter lachte auf. »Sanson«, sagte er, »Ihr kennt mich als einen Mann der Vernunft. Ihr wisst, Ihr habt alle Trümpfe in der Hand. Ich muss allem zustimmen, was Ihr sagt. Diesmal wart Ihr zu schlau, selbst für mich.«

»Ich weiß«, sagte Sanson.

»Eines Tages«, sagte Hunter und seine Augen wurden schmaler, »werde ich Euch aufspüren und töten. Das schwöre ich Euch. Aber fürs Erste habt Ihr gewonnen.«

»Das ist ein Trick«, sagte Sanson, dem plötzlich klar wurde, dass hier irgendetwas faul war.

»Kein Trick«, sagte Hunter. »Folter.«

»Folter?«

»In der Tat«, sagte Hunter. »Es ist nicht immer alles, wie es scheint. Damit Ihr den Nachmittag angenehm verbringen könnt, habe ich Euch diese Frau mitgebracht. Ich bin sicher, wir sind uns einig, dass sie äußerst bezaubernd ist – für eine Engländerin. Ich lasse sie Euch hier.« Hunter lachte. »Falls Ihr Euch traut.«

Jetzt musste Sanson lachen. »Hunter, Ihr seid des Teufels Diener. Wenn ich mich der Frau widme, kann ich nicht mehr Wache halten, ja?«

»Möge ihre englische Schönheit Euch foltern«, sagte Hunter, verbeugte sich kurz und kletterte wieder an der Bordwand herunter. Sanson lauschte auf die dumpfen Geräusche von Hunters Füßen am Rumpf des Schiffes und dann auf das abschließende Poltern, als Hunter ins Boot sprang. Er hörte, wie Hunter den Befehl zum Ablegen gab, und hörte die Schläge der Ruder.

Es war ein Trick, dachte er. Irgendein Trick. Er sah die Frau an: Sie musste irgendwie bewaffnet sein.

»Hinlegen«, knurrte er schroff.

Sie wirkte verwirrt.

»Hinlegen!«, wiederholte er und stampfte mit dem Fuß aufs Deck.

Sie legte sich auf die Planken, und er näherte sich ihr vorsichtig, tastete dann ihre Kleidung ab. Sie hatte keine Waffen. Trotzdem war er sicher, dass es ein Trick war.

Er ging zur Reling und spähte hinaus zu dem Boot, das jetzt mit kräftigen Schlägen aufs Ufer zusteuerte. Hunter saß am Bug und blickte landwärts, ohne sich umzusehen. Es waren sechs Ruderer. Keiner fehlte.

»Darf ich aufstehen?«, fragte die Frau kichernd.

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Ja, steh auf«, sagte er.

Sie erhob sich und ordnete ihre Kleidung. »Gefall ich Euch?«

»Für ein englisches Flittchen«, sagte er barsch.

Ohne ein weiteres Wort fing sie an, sich auszuziehen.

»Was machst du da?«, fragte er.

»Captain Hunter hat gesagt, ich soll meine Kleidung ablegen.«

»Na, und ich sage dir, du lässt alles schön an«, knurrte Sanson. »Von nun an tust du, was ich sage.« Er suchte den Horizont in alle Richtungen ab. Es war nichts zu sehen außer dem schon weit entfernten Ruderboot.

Es muss ein Trick sein, dachte er. Es muss einfach ein Trick sein.

Er drehte sich wieder zu der Frau um. Sie leckte sich die Lippen, ein reizendes Geschöpf. Wo konnte er sie sich gönnen? Wo wäre er sicher? Dann hatte er eine Idee: Wenn er mit ihr aufs Heckkastell ging, konnte er in alle Richtungen blicken und sich gleichzeitig mit dieser englischen Hure verlustieren.

»Ich werde es Captain Hunter zeigen«, sagte er, »und dir ebenfalls.«

Er führte sie zum Heckkastell. Wenige Minuten später erlebte er eine weitere Überraschung – dieses kleine, kokette Geschöpf war ein leidenschaftliches Teufelsweib, das schrie und keuchte und krallte, sehr zu Sansons seliger Befriedigung.

»Du bist so groß!«, keuchte sie. »Ich wusste nicht, dass Franzosen so groß sind!«

Ihre Finger kratzten ihm schmerzhaft über den Rücken. Er war glücklich.

Er wäre weniger glücklich gewesen, wenn er gewusst hätte, dass ihre wollüstigen Schreie, für die sie großzügig bezahlt wurde, ein Signal für Hunter waren, der knapp über der Wasseroberfläche hing und sich an der Strickleiter festhielt, während unter ihm die bleichen Umrisse der Haie durchs Wasser glitten.

Hunter hing dort, seit das Ruderboot abgelegt hatte. Im Bug des Bootes saß eine Strohpuppe, die sie unter einer Plane versteckt und dann aufgerichtet hatten, als Hunter an Bord des Schiffes war.

Es war alles genauso gekommen, wie Hunter geplant hatte. Sanson hatte sich nicht getraut, zu lange in das Boot hinabzuschauen, und sobald es abgelegt hatte, musste er erst die Frau durchsuchen, was ihn einige Augenblicke gekostet hatte. Als er schließlich dazu kam, dem Ruderboot hinterherzuschauen, war es schon zu weit entfernt, um zu erkennen, dass nicht Hunter, sondern eine Puppe im Bug saß. Hätte er in diesem Moment an der Bordwand hinuntergeschaut, hätte er Hunter dort hängen sehen. Aber es bestand ja keine Veranlassung, an der Bordwand hinunterzuschauen – und außerdem war die junge Frau vorsichtshalber angewiesen worden, ihn so bald wie möglich abzulenken.

Hunter hatte eine ganze Weile auf der Strickleiter ausharren müssen, ehe die Lustschreie ertönten. Sie kamen vom Heckkastell, wie er sich gedacht hatte. Vorsichtig kletterte er zu den Geschützluken hoch und schlüpfte aufs Kanonendeck der El Trinidad.

Hunter war nicht bewaffnet und musste sich als Erstes irgendwo Waffen besorgen. Er schlich zur Waffenkammer, wo er einen kurzen Dolch und zwei Pistolen fand, die er behutsam schussbereit machte. Zu guter Letzt nahm er eine Armbrust und spannte sie. Erst dann kroch er den Niedergang hoch aufs Hauptdeck. Dort hielt er inne.

Er blickte zum Heckkastell, wo er Sanson und die Frau stehen sah. Sie ordnete gerade ihre Kleidung, Sanson suchte den Horizont ab. Er hatte sich nur einige Minuten lustvolle Ablenkung gegönnt, aber es waren verhängnisvolle Minuten gewesen. Er sah, wie Sanson hinunter aufs Mittelschiff stieg und das Deck abschritt. Er blickte auf einer Seite über die Reling nach unten, dann auf der anderen.

Plötzlich stockte er.

Und schaute noch einmal hin.

Hunter wusste, was er sah: die nassen Spuren außen am Rumpf, die Hunters Kleidung in einem unsteten Muster hinterlassen hatte, als er an der Bordwand hinauf zur Geschützluke geklettert war.

Sanson wirbelte herum. »Du Miststück!«, brüllte er und schoss mit seiner Armbrust auf die Frau, die noch auf dem Heckkastell stand. In seiner Hast verfehlte er sie. Sie schrie auf und rannte nach unten. Sanson setzte ihr ein paar Schritte nach, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Er blieb stehen und lud die Armbrust neu. Dann wartete er und lauschte.

Die laufenden Füße der Frau waren zu hören, dann schlug im Heck eine Tür zu. Hunter vermutete, dass sie sich in einer der Achterkajüten eingeschlossen hatte. Dort war sie vorläufig in Sicherheit.

Sanson ging zur Mitte des Decks und blieb am Großmast stehen.

»Hunter«, rief er. »Hunter, ich weiß, dass Ihr hier seid.« Und dann lachte er.

Im Augenblick war er im Vorteil. Er stand am Mast, außerhalb der Reichweite einer Pistole, ganz gleich aus welcher Richtung, und er wartete. Er umkreiste den Mast vorsichtig, drehte den Kopf in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen. Er war hellwach, sämtliche Sinne geschärft, für alles bereit.

Hunter handelte unvernünftig: Er stürmte vor und feuerte beide Pistolen ab. Eine Kugel riss Splitter aus dem Großmast und die andere traf Sanson in die Schulter. Der Franzose knurrte, schien die Verletzung aber kaum zu bemerken. Er fuhr herum und schoss die Armbrust ab. Der Pfeil zischte an Hunter vorbei und bohrte sich hinter ihm ins Holz.

Hunter flüchtete zurück zu dem Niedergang, und als er die Stufen hinuntersprang, hörte er schon Sansons laufende Schritte. Er sah noch mit einem flüchtigen Blick, dass Sanson, beide Pistolen gezückt, hinter ihm her stürmte.

Hunter versteckte sich unter der Niedergangstreppe und hielt den Atem an. Er sah Sanson direkt vor sich, wie er hastig die Leiter heruntergeklettert kam.

Als Sanson schließlich auf dem Kanonendeck stand, mit dem Rücken zu Hunter, sagte Hunter mit kalter Stimme. »Keine Bewegung.«

Sanson war blitzschnell. Er schnellte herum und feuerte beide Pistolen ab.

Die Kugeln pfiffen Hunter, der sich tief geduckt hatte, über den Kopf hinweg. Jetzt richtete er sich auf, die Armbrust im Anschlag.

»Es ist nicht immer alles so, wie es scheint«, sagte er.

Sanson grinste, hob die Arme. »Hunter, mein Freund. Ich bin wehrlos.«

»Rauf an Deck«, sagte Hunter mit ausdrucksloser Stimme.

Sanson stieg die Stufen hoch, die Hände noch immer erhoben. Hunter sah, dass der Franzose einen Dolch im Gürtel hatte. Seine linke Hand senkte sich langsam.

»Lass das.«

Die linke Hand erstarrte.

»Rauf.«

Sanson stieg hoch, gefolgt von Hunter.

»Ich krieg Euch trotzdem, mein Freund«, sagte Sanson.

»Das Einzige, was du kriegst, ist ein Pfeil in den Arsch«, versprach Hunter.

Beide Männer waren jetzt auf dem Hauptdeck. Sanson wich rückwärts Richtung Mast.

»Wir müssen miteinander reden. Wir müssen vernünftig sein.«

»Warum?«, fragte Hunter.

»Weil ich den halben Schatz versteckt habe. Seht«, sagte Sanson und befingerte eine Goldmünze, die er um den Hals trug. »Hier habe ich die Stelle markiert, wo der Schatz zu finden ist. Der Schatz von der Cassandra. Das möchtet Ihr doch bestimmt gern wissen, oder etwa nicht?«

»Doch.«

»Na, dann haben wir einen Grund zu verhandeln.«

»Du hast versucht, mich zu töten«, sagte Hunter, die Armbrust ruhig auf Sanson gerichtet.

»Hättet Ihr das nicht auch versucht, an meiner Stelle?«

»Nein.«

»Natürlich hättet Ihr«, sagte Sanson. »Es ist blanker Unsinn, das abzustreiten.«

»Vielleicht hätte ich«, sagte Hunter.

»Wir mögen einander nicht.«

»Ich hätte dich nicht hintergangen.«

»Oh doch, wenn Ihr die Möglichkeit gehabt hättet.«

»Nein«, sagte Hunter, »ich habe so etwas wie Ehre –«

In diesem Augenblick ertönte hinter ihm eine helle Frauenstimme: »Oh, Charles, Ihr habt ihn –«

Hunter wandte nur ein klein wenig den Kopf, um zu Anne Sharpe zu schauen, und in dieser Sekunde sprang Sanson vor.

Hunter feuerte unwillkürlich. Mit einem Wusch! schnellte der Armbrustpfeil heraus. Er zischte über das Deck, traf Sanson in die Brust, hob ihn von den Füßen und nagelte ihn an den Großmast, wo er mit hilflos zuckenden Armen hängen blieb.

»Ihr habt mich hintergangen«, sagte Sanson, dem Blut von den Lippen tropfte.

Hunter sagte: »Du hattest deine Chance.«

Dann starb Sanson, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Hunter zog den Pfeil heraus, und der Körper sackte auf die Planken. Er nahm Sanson die Goldmünze mit der eingeritzten Schatzkarte ab. Anne Sharpe hatte eine Hand an den Mund gehoben, während sie zusah, wie Hunter den Körper zur Reling schleifte und über Bord bugsierte.

Er trieb im Wasser.

Die Haie umkreisten ihn argwöhnisch. Dann kam einer näher und zupfte an dem Fleisch, riss ein Stück heraus. Dann ein weiterer und noch einer. Das Wasser brodelte auf und schäumte blutig. Es dauerte nur wenige Minuten, dann verblasste das Rot und das Wasser war wieder still und Hunter wandte den Blick ab.

Загрузка...