KAPITEL 18

Die Schaluppe Cassandra war ein überwiegend offenes Schiff, mit einem einzigen Hauptdeck, das den Elementen schutzlos ausgesetzt war, und kleinen Stauräumen an den Längsseiten. Diese waren von den Soldaten und der Prisenbesatzung am Nachmittag durchsucht worden, als sie das Schiff übernahmen. Die Männer hatten sämtliche Vorräte und die besondere Ausrüstung gefunden, die Cazalla so verwirrt hatte.

Soldaten hatten das Schiff gründlich auf den Kopf gestellt. Sie hatten sogar in die vordere und hintere Luke gespäht, die in die Bilge führten. Im Schein ihrer Laternen sahen sie, dass das Bilgewasser dort fast bis unter die Deckplanken stand, und sie machten höhnische Bemerkungen über die Piraten, die zu faul waren, die Bilge zu leeren.

Nachdem die Cassandra in die geschützte Bucht eingelaufen war und im Schatten des Kriegsschiffes den Anker geworfen hatte, vergingen noch etliche Stunden, in denen die zehn Männer der Prisenbesatzung bei Fackellicht tranken und lachten. Schließlich, in den frühen Morgenstunden, waren sie auf Wolldecken liegend in der warmen Nachtluft an Deck in einen tiefen, rumseligen Schlaf gesunken. Sie hatten zwar Befehl, eine Wache aufzustellen, doch sie scherten sich nicht drum. Das in der Nähe liegende Kriegsschiff bot Schutz genug.

So kam es, dass keiner an Deck das leise Plätschern aus dem Bilgeraum vernahm, wo ein Mann mit einem Schilfrohr im Mund aus dem öligen, stinkenden Wasser auftauchte.

Sanson, der vor Kälte zitterte, hatte stundenlang mit dem Kopf neben dem Öltuchsack gelegen, der die kostbaren grenadoes enthielt. Weder er noch der Sack war entdeckt worden. Jetzt konnte er so gerade das Kinn aus dem Bilgewasser heben, ehe er sich den Kopf an den Deckplanken stieß. Um ihn herum war es stockdunkel, und er hatte nicht die geringste Orientierung. Mit Händen und Füßen drückte er den Rücken gegen den Rumpf und spürte dessen Krümmung. Er war auf der Backbordseite, so schloss er, und schob sich langsam und lautlos auf die Mitte zu. Von dort manövrierte er sich ganz vorsichtig zum Heck, bis er mit dem Kopf sacht gegen die rechteckige Vertiefung der Hecklukenklappe stieß. Als er hochblickte, sah er durch das Gitter der Klappe dünne Lichtstrahlen. Sterne am Himmel. Alles still, bis auf einen schnarchenden Seemann.

Er holte tief Luft und hob den Kopf. Die Klappe bewegte sich ein paar Zentimeter nach oben. Er konnte das Deck sehen. Und er blickte direkt in das Gesicht eines schlafenden Seemanns, höchstens einen Fuß entfernt. Der Mann schnarchte laut.

Sanson senkte die Lukenklappe wieder und machte sich auf den langen Weg zum anderen Ende des Bilgeraumes. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sich auf dem Rücken liegend mit den Händen die fünfzig Fuß bis zur vorderen Luke der Cassandra zu schieben. Dort hob er die Lukenklappe und spähte hinaus. Der nächste schlafende Seemann lag wenigstens zehn Fuß entfernt.

Ganz langsam und lautlos nahm Sanson die Lukenklappe heraus und legte sie aufs Deck. Er hievte sich aus dem Wasser und blieb kurz stehen, um die frische Nachtluft einzuatmen. Durchnässt wie er war, fror er in dem leichten Wind, doch er achtete nicht darauf. Sein ganzer Verstand richtete sich allein auf die an Deck schlafende Prisenbesatzung.

Sanson zählte zehn Männer. Das müssten alle sein, dachte er. Notfalls reichten drei Männer, um die Cassandra zu segeln, fünf kämen bequem mit ihr klar; zehn Männer wären mehr als genug.

Er sah sich genau an, wo und wie die Männer an Deck lagen, und überlegte, in welcher Reihenfolge er sie am besten töten sollte. Es war leicht, einen Mann leise zu töten, aber absolut lautlos zu töten, war nicht so einfach. Von den zehn Männern waren die ersten vier oder fünf entscheidend, denn wenn einer von ihnen einen Laut von sich gab, könnten alle anderen wach werden.

Sanson nahm die dünne Kordel ab, die ihm als Gürtel diente. Er wickelte sie um die Hände und zog sie zwischen den Fäusten straff. Zufrieden mit der Stärke der Schnur, griff er sich einen Belegnagel aus geschnitztem Hartholz und schritt zur Tat.

Der erste Soldat schnarchte nicht. Als Sanson den Mann in eine sitzende Haltung anhob, grummelte der nur kurz im Schlaf über die Störung, ehe Sanson ihm mit dem Belegnagel auf den Kopf schlug. Der Schlag war heftig, erzeugte aber nur ein dumpfes Geräusch, als er auf den Schädel traf. Sanson legte den Seemann vorsichtig wieder aufs Deck.

Im Dunkeln fuhr er mit den Händen über den Schädel. Er fühlte eine tiefe Mulde. Der Schlag hatte ihn vermutlich getötet, doch er wollte kein Risiko eingehen. Er schlang dem Mann die Kordel um den Hals und zog sie fest zu. Gleichzeitig legte er ihm die andere Hand flach auf die Brust, um den Herzschlag zu spüren. Eine Minute später hörte das Pochen auf.

Sanson schlich zum nächsten Mann, huschte wie ein Schatten übers Deck. Er verfuhr mit ihm auf die gleiche Weise. Keine zehn Minuten später hatte er jeden Mann auf dem Schiff getötet. Er ließ sie so liegen, als würden sie schlafen.

Als Letztes starb der Wachposten, der am Heck betrunken über der Ruderpinne lag. Sanson schnitt dem Mann die Gurgel durch und stieß ihn über Bord. Er fiel mit einem leisen Platsch ins Wasser, was jedoch eine Wache an Deck des Kriegsschiffes hörte. Der Mann lehnte sich über die Reling und blickte zur Schaluppe hinüber.

»¿Todo bien?«, rief er.

Sanson postierte sich am Heck, wo der über Bord gegangene Soldat gestanden hatte, und winkte der Wache auf dem anderen Schiff. Er war zwar tropfnass und trug keine Uniform, aber er wusste, dass der andere das in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.

»Sí, sí«, sagte er schläfrig.

Der Wachposten brummte etwas Unverständliches und wandte sich ab.

Sanson wartete einen Augenblick ab und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf das Kriegsschiff. Es lag gut hundert Fuß entfernt – weit genug, um nicht gegen die Cassandra zu stoßen, wenn es sich beim Gezeiten-oder Windwechsel vor Anker drehte. Sanson sah erfreut, dass die Spanier es unterlassen hatten, die Scharten zu schließen; sie standen noch offen. Wenn er durch eine offene Scharte auf das untere Kanonendeck kletterte, konnte er den Wachen auf dem Hauptdeck aus dem Weg gehen.

Er ließ sich von Bord ins Wasser gleiten, und während er rasch hinüber zum Kriegsschiff schwamm, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass die Spanier in der Nacht hoffentlich keinen Abfall in die Bucht geworfen hatten. Abfall lockte Haie an, und der Hai war eines der wenigen Lebewesen auf der Welt, die Sanson fürchtete. Doch er kam unbeschadet ans Ziel und dümpelte schon bald nah am Rumpf des Kriegsschiffes im Wasser.

Die untersten Geschützscharten befanden sich zwölf Fuß über ihm. Er hörte die Wachen auf dem Hauptdeck scherzen. Eine Strickleiter hing noch an der Bordwand, aber er traute sich nicht, sie zu benutzen. Sobald er sie mit seinem Gewicht beschwerte, würde sie knarren und wackeln, was die Wachen an Deck bemerken könnten.

Stattdessen schwamm er leise zur Ankerkette und kletterte daran hoch bis zu den Laufplanken, die vom Bugsprit wegführten. Diese Laufplanken standen nur vier Zoll von der Bordwand ab, doch Sanson gelang es, Halt darauf zu finden und sich zurück bis zur Focksegeltakelage zu schieben. Von dort konnte er sich mühelos baumeln lassen und in eine der zum Bug hin gelegenen Scharten blicken.

Er lauschte angestrengt und hörte schon bald das stetige Schreiten der Wache. Dem Klang nach bestand sie aus einem einzigen Mann, der unablässig das Deck an der Reling entlang umkreiste. Sanson wartete, bis der Wachmann an ihm vorbei war, schlüpfte dann durch die Scharte und duckte sich in den Schatten einer Kanone, keuchend vor Anstrengung und Anspannung. Selbst für Sanson war es ein Nervenkitzel, sich ganz allein mitten unter vierhundert Feinde zu schleichen – von denen die Hälfte sachte vor ihm in ihren Hängematten schaukelte. Er wartete und plante seinen nächsten Schritt.


Hunter stand gebückt in dem niedrigen, stinkenden Laderaum des Schiffes und wartete. Er war schrecklich erschöpft. Wenn Sanson nicht bald kam, wären seine Männer zu entkräftet, um zu fliehen. Die Wachen, die jetzt gähnten und wieder Karten spielten, verhielten sich den Gefangenen gegenüber völlig gleichgültig, was verlockend und ärgerlich zugleich war. Wenn er nur seine Männer frei bekäme, solange auf dem Schiff noch alles schlief, dann hätten sie vielleicht eine Chance. Doch wenn die Wachen wieder wechselten – womit jederzeit zu rechnen war – oder wenn die Schiffsbesatzung im Morgengrauen erwachte, dann wäre es zu spät.

Seine letzte Hoffnung wurde schlagartig zunichtegemacht, als ein spanischer Soldat den Raum betrat.

Die Wache wechselte, und es war alles verloren. Einen Augenblick später begriff er, dass er sich irrte: Es war nur ein einzelner Mann hereingekommen, kein Offizier, und die Wachen begrüßten ihn flüchtig. Der Neuankömmling wirkte auffällig selbstgefällig, während er durch den Raum schritt und die Fesseln der Freibeuter überprüfte. Hunter spürte, wie Finger an dem Strick um seine Handgelenke zogen, dann etwas Kühles – eine Messerklinge –, und seine Fesseln waren durchgeschnitten.

Hinter ihm flüsterte der Mann leise: »Das kostet Euch zwei Anteile mehr.«

Es war Sanson.

»Schwört es«, zischte Sanson.

Hunter nickte, empfand Wut und Erleichterung zugleich. Doch er sagte nichts. Er sah einfach zu, wie Sanson durch den Raum ging und dann vor der Tür stehen blieb, um sie zu versperren.

Sanson blickte die Seeleute an und sagte ganz leise auf Englisch: »Macht es lautlos.«

Die spanischen Wachen blickten fassungslos auf, als die Freibeuter auf sie zusprangen. Sie wurden drei zu eins überwältigt. In Sekundenschnelle war alles vorbei. Unverzüglich streiften die Seeleute den Wachen die Uniformen vom Körper und zogen sie an. Sanson ging zu Hunter hinüber.

»Ich hab Euren Schwur noch nicht gehört.«

Hunter nickte, während er sich die Handgelenke rieb. »Ich schwöre. Zwei Anteile mehr für Euch.«

»Gut«, sagte Sanson. Er öffnete die Tür, legte einen Finger an die Lippen und führte die Seeleute aus dem Raum.


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