KAPITEL 34

In den frühen Morgenstunden des 17. Oktober 1665 erreichte die spanische Galeone El Trinidad vor der karg bewachsenen Landzunge von South Cay die östliche Fahrrinne nach Port Royal, und Captain Hunter ließ den Anker werfen.

Bis Port Royal selbst waren es zwei Meilen, und Hunter und seine Besatzung standen an der Reling und blickten über das Wasser auf die Stadt. Im Hafen war es ruhig. Ihr Schiff war noch nicht gesichtet worden, doch binnen Kurzem, so wussten sie, würden Kanonenschüsse ertönen und ein ausgelassener Jubel herrschen, wie immer, wenn ein gekapertes Schiff eintraf. Die Feierlichkeiten dauerten häufig zwei Tage oder länger.

Doch die Stunden vergingen, und von Jubel keine Spur. Im Gegenteil, die Stadt schien mit jeder Minute stiller zu werden. Es fielen weder Kanonenschüsse, noch wurden Freudenfeuer entzündet, und über das stille Wasser drangen keine Begrüßungsrufe.

Enders’ Miene verfinsterte sich. »Haben die Spanier angegriffen?«

Hunter schüttelte den Kopf. »Unmöglich.« Port Royal war die stärkste englische Siedlung in der Neuen Welt. Die Spanier könnten vielleicht St. Kitt angreifen oder einen von den anderen Außenposten. Aber nicht Port Royal.

»Irgendwas ist da jedenfalls faul.«

»Wir werden es bald wissen«, sagte Hunter, denn jetzt sahen sie ein Boot von Fort Charles ablegen, unter dessen Kanonen sie ankerten.

Das Boot machte längsseits der El Trinidad fest, und ein Hauptmann der königlichen Milizarmee kletterte an Bord. Hunter kannte ihn; es war Emerson, ein aufstrebender junger Offizier. Emerson war angespannt. Er sprach zu laut, als er sagte: »Wer ist Captain auf diesem Schiff?«

»Ich«, erwiderte Hunter und trat vor. Er lächelte. »Wie geht es Euch, Peter?«

Emerson stand stocksteif da. Er ließ sich nicht anmerken, dass er sein Gegenüber kannte. »Nennt Euren Namen, Sir, wenn ich bitten darf.«

»Peter, Ihr wisst genau, wer ich bin. Was hat das zu bedeu-«

»Nennt Euren Namen, Sir, wenn Ihr einer Bestrafung entgehen wollt.«

Hunter runzelte die Stirn. »Was soll das Theater?«

Emerson, in starrer Hab-Acht-Stellung, sagte: »Seid Ihr Charles Hunter, Bürger der Massachusetts Bay Colony und zuletzt wohnhaft in Seiner Majestät Kolonie Jamaika?«

Hunter sagte: »Der bin ich.« Ihm fiel auf, dass Emerson trotz der kühlen Brise schwitzte.

»Nennt Namen und Herkunft Eures Schiffes, wenn ich bitten darf.«

»Es ist die spanische Galeone El Trinidad.«

»Ein spanisches Schiff?«

Hunter wurde ungehalten. »Allerdings, wie nicht zu übersehen ist.«

»Dann«, sagte Emerson und holte tief Luft, »ist es meine Pflicht, Euch unter Arrest zu stellen, und zwar wegen des Verdachts der Piraterie –«

»Piraterie!«

»– und Eure ganze Besatzung ebenfalls. Ihr werdet mich jetzt bitte in dem Beiboot begleiten.«

Hunter war fassungslos. »Auf wessen Befehl?«

»Auf Befehl von Mr Robert Hacklett, dem Stellvertretenden Gouverneur von Jamaika.«

»Aber Sir James –«

»Sir James liegt im Sterben«, sagte Emerson. »Und nun kommt bitte mit mir.«

Wie betäubt oder in Trance stieg Hunter über die Bordwand und hinunter ins Boot. Die Soldaten ruderten an Land. Hunter blickte nach hinten auf die schwindende Silhouette seines Schiffes. Er wusste, dass seine Mannschaft genauso ratlos war wie er.

Er wandte sich an Emerson. »Was zum Teufel geht hier vor?«

Jetzt, wo Emerson im Boot saß, wirkte er entspannter. »Es hat sich vieles verändert«, sagte er. »Vor vierzehn Tagen ist Sir James am Fieber erkrankt –«

»Welches Fieber?«

»Ich kann Euch nur erzählen, was ich weiß«, sagte Emerson. »Seitdem ist er ans Bett gefesselt, in der Gouverneursresidenz. In seiner Abwesenheit hat Mr Hacklett die Leitung der Kolonie übernommen. Mit Unterstützung von Commander Scott.«

»Ach ja?«

Hunter wusste, dass er langsam reagierte. Er konnte einfach nicht glauben, dass er nach den vielen Abenteuern in den letzten sechs Wochen zum krönenden Abschluss als gemeiner Pirat ins Gefängnis gesperrt – und zweifellos gehängt – werden sollte.

»Ja«, sagte Emerson. »Mr Hacklett führt ein strenges Regiment in der Stadt. Viele sitzen bereits im Gefängnis oder wurden gehängt, wie Pitts letzte Woche –«

»Pitts!«

»– und Morely erst gestern. Und gegen Euch wurde ein Haftbefehl erlassen.«

Zahllose Einwände drängten Hunter in den Sinn und zahllose Fragen. Aber er sagte nichts. Emerson war ein Befehlsempfänger, und als solcher war es seine Aufgabe, die Befehle seines Vorgesetzten auszuführen, dieses stutzerhaften Gecken, Commander Scott. Emerson würde tun, was man ihm befahl.

»In welches Gefängnis werde ich gebracht?«

»Ins Marshallsea.«

Hunter fand das aberwitzig und musste lachen. »Ich kenne den Oberaufseher vom Marshallsea.«

»Nicht mehr, leider. Der Oberaufseher ist neu. Einer von Hackletts Männern.«

»Verstehe.«

Hunter sagte nichts weiter. Er lauschte den Ruderschlägen im Wasser und sah Fort Charles näher kommen.

Sobald er in der Festung war, stellte er beeindruckt fest, welche Bereitschaft und Wachsamkeit die Soldaten an den Tag legten. Früher waren von den Wachposten auf den Zinnen von Fort Charles nicht selten etliche betrunken gewesen und hatten schmutzige Lieder gegrölt. Heute Morgen war niemand betrunken, und die Männer trugen alle ordentliche Uniformen.

Hunter wurde von einem Trupp bewaffneter und aufmerksamer Soldaten in die Stadt geführt, durch die Lime Street, in der es nun ungewöhnlich still war, und dann nach Norden die York Street hinunter, vorbei an dunklen Schenken, in denen um diese Zeit normalerweise warmes Licht brannte. Die Stille in der Stadt, die Leere auf den schlammigen Straßen, war auffällig.

Marshallsea, das Männergefängnis, lag am Ende der York Street. Es war ein wuchtiges Steingebäude mit fünfzig Zellen auf zwei Stockwerken. Im Innern stank es nach Urin und Kot. Ratten huschten durch die Binsen, mit denen der Boden bedeckt war. Die Männer in den Zellen starrten Hunter aus hohlen Augen an, als er im Fackellicht zu einer Zelle geführt und eingeschlossen wurde.

Er schaute sich in der Zelle um. Sie war völlig leer; weder Bett noch Pritsche, bloß Stroh auf dem Boden und ein hohes, vergittertes Fenster. Durch das Fenster konnte er eine Wolke sehen, die an der Mondsichel vorbeischwebte.

Als die Tür klirrend hinter ihm zufiel, drehte er sich um und sah Emerson an. »Wann wird mir wegen Piraterie der Prozess gemacht?«

»Morgen«, sagte Emerson und wandte sich ab.


Der Prozess gegen Charles Hunter fand am Samstag, dem 18. Oktober 1665 statt. Für gewöhnlich tagte das Gericht nicht an Samstagen, machte bei Hunter jedoch eine Ausnahme. Das erdbebengeschädigte Gebäude war nahezu leer, als Hunter hineingeführt wurde, allein, ohne den Rest seiner Besatzung, und sich einem Tribunal von sieben Männern gegenübersah, die an einem Holztisch saßen. Den Vorsitz hatte Robert Hacklett höchstpersönlich in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Gouverneur der Kolonie Jamaika inne.

Hunter musste aufstehen, während die Anklage verlesen wurde.

»Hebt die rechte Hand.«

Er gehorchte.

»Ihr, Charles Hunter, Ihr und jedes Mitglied Eurer Besatzung werdet durch die Ermächtigung unseres gnädigen Herrschers, Charles, König von Großbritannien, wie folgt angeklagt.«

Eine Pause entstand. Hunter ließ den Blick über die Gesichter wandern: Hacklett, der ihn finster ansah, mit dem leisen Anflug eines süffisanten Lächelns; Lewisham, Richter der Admiralität, dem sichtlich unbehaglich zumute war; Commander Scott, der sich mit einem goldenen Zahnstocher in den Zähnen pulte; die Kaufleute Foster und Poorman, die Hunters Blick geflissentlich auswichen; Lieutenant Dodson, ein reicher Offizier in der Miliz, der an seiner Uniform herumzupfte; James Phips, Kapitän eines Handelsschiffes. Hunter kannte sie alle, und er sah ihnen an, wie unwohl sie sich fühlten.

»In offener Missachtung der Gesetze Eures Landes und der hoheitlichen Bündnisse Eures Königs habt Ihr Euch frevelhaft zusammengeschlossen mit dem Ziel, den Untertanen und Besitzungen Seiner Höchst Christlichen Majestät Philipp von Spanien zu Wasser wie zu Lande Schaden und Verdruss zu bereiten. Und Ihr habt Euch mit den bösesten und verderblichsten Absichten zu der spanischen Siedlung auf der Insel Leres begeben, um dortselbst jederlei Schiff, das zufällig Euren Kurs kreuzte, zu plündern und zu brandschatzen und zu berauben.

Des Weiteren seid Ihr angeklagt, einen gesetzwidrigen Angriff auf ein spanisches Schiff in den Gewässern südlich von Leres verübt und selbiges versenkt zu haben, mit der Folge des Verlustes aller Seelen und Besitztümer, die sich an Bord des Schiffes befanden.

Und schließlich seid Ihr angeklagt, dass Ihr und Eure Mannschaft bei der Ausführung Eurer frevelhaften Taten von dem Vorsatz geleitet wurdet, besagte spanische Schiffe und Hoheitsgebiete nach Kräften zu bedrängen und anzugreifen und die Untertanen Spaniens zu ermorden, was Ihr dann auch tatet. Wie bekennt Ihr Euch, Charles Hunter?«

Hunter zögerte kurz. Dann sagte er: »Nicht schuldig.«

Für Hunter war der Prozess schon jetzt eine Posse. Laut des vom Parlament 1612 erlassenen Gesetzes musste sich das Gericht aus Männern zusammensetzen, die kein mittel-oder unmittelbares Interesse an den Besonderheiten des verhandelten Falles hatten. Und doch könnte es für jeden Mann im Tribunal von Vorteil sein, wenn Hunter verurteilt und sein Schiff samt dem an Bord befindlichen Schatz anschließend beschlagnahmt wurde.

Allerdings konnte er sich die genauen Einzelheiten der Anklage nicht erklären. Niemand außer ihm und seinen Männern wusste, was bei dem Überfall auf Matanceros geschehen war. Und doch war seine erfolgreiche Verteidigung gegen das spanische Kriegsschiff in der Anklageschrift enthalten. Wie hatte das Gericht davon erfahren? Er musste wohl davon ausgehen, dass einer aus seiner Besatzung in der Nacht zuvor geredet hatte, wahrscheinlich unter Folter.

Das Gericht nahm seine Antwort teilnahmslos hin. Hacklett beugte sich vor. »Mr Hunter«, sagte er mit ruhiger Stimme, »dieses Tribunal weiß um das hohe Ansehen, das Ihr innerhalb der Kolonie Jamaika genießt. Es ist nicht unser Wunsch, in diesem Verfahren auf hohle Förmlichkeiten zu bestehen, die der Gerechtigkeit nicht dienen würden. Werdet Ihr nun zu Eurer Verteidigung sprechen?«

Das war eine Überraschung. Hunter zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete. Hacklett verstieß gegen die Regeln eines herkömmlichen Gerichtsverfahrens. Er musste sich irgendeinen Vorteil davon versprechen. Gleichwohl, die Gelegenheit war einfach zu gut, um sie nicht zu ergreifen.

»Wenn es den vornehmen Mitgliedern dieses hohen Gerichts beliebt«, sagte Hunter ohne eine Spur von Ironie, »werde ich mich bemühen, dies zu tun.«

Die Köpfe der Männer am Richtertisch nickten nachdenklich, bedächtig, angemessen.

Hunter blickte von einem zum anderen, ehe er das Wort ergriff.

»Gentlemen, niemand von Euch ist genauer als ich über den Vertrag im Bilde, der unlängst zwischen Seiner Majestät König Charles und dem spanischen Hofe geschlossen wurde. Unter keinen Umständen hätte ich die zwischen unseren Nationen frisch geschmiedeten Bande ohne Provokation zerrissen. Doch so eine Provokation ist erfolgt, und das im Übermaß. Mein Schiff, die Cassandra, wurde von einem spanischen Kriegsschiff gekapert, und meine Besatzung und ich wurden widerrechtlich gefangen genommen. Fürder wurden zwei meiner Männer vom Kapitän des Schiffes, einem gewissen Cazalla, ermordet. Schließlich griff selbiger Cazalla ein englisches Handelsschiff an, das abgesehen von einer mir unbekannten Ladung auch Lady Sarah Almont an Bord hatte, die Nichte des Gouverneurs dieser Kolonie.

Dieser Spanier, Cazalla, ein Offizier seines Königs Philipp, zerstörte das englische Handelsschiff Entrepid und tötete alle an Bord mit blutrünstiger Grausamkeit. Unter den Getöteten befand sich ein Günstling Seiner Majestät, ein gewisser Captain Warner. Ich bin sicher, dass Seine Majestät den Verlust dieses Gentleman über die Maßen bedauern wird.«

Hunter hielt inne. Das war dem Tribunal neu, und es war offensichtlich alles andere als erfreut, das zu hören.

König Charles nahm vieles im Leben sehr persönlich; seine für gewöhnlich gute Laune konnte schlagartig dahin sein, wenn einer seiner Freunde verletzt oder gar beleidigt wurde – geschweige denn getötet.

»Als Vergeltung für diese mannigfachen Provokationen«, sagte Hunter, »griffen wir die spanische Festung Matanceros an, um Ihre Ladyschaft zu retten und so viel Beute zu machen, wie wir als Entschädigung für vernünftig und angemessen erachteten. Dabei handelte es sich keineswegs um Piraterie, Gentlemen. Dabei handelte es sich um eine ehrenhafte Vergeltung für abscheuliche Untaten auf hoher See, und als nichts anderes kann meine Handlungsweise betrachtet werden.«

Er hielt inne und blickte in die Gesichter vor ihm. Die Männer starrten ihn ungerührt an; sie alle kannten die Wahrheit, begriff er.

»Lady Sarah Almont kann meine Aussage bezeugen, so wie jeder andere an Bord meines Schiffes, der dazu aufgerufen wird. Die Anklage entbehrt jeder Grundlage, denn von Piraterie kann nur die Rede sein, wenn keine gebührende Provokation vorliegt, und in diesem Fall war die Provokation gewaltig.«

Er hatte alles gesagt und blickte in die Gesichter. Sie waren jetzt ausdruckslos, leer und unergründlich. Ihn fröstelte.

Hacklett beugte sich über den Tisch vor. »Habt Ihr noch mehr zu Eurer Verteidigung vorzutragen, Mr Charles Hunter?«

»Nein«, sagte Hunter. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.«

»Und das höchst glaubhaft, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte Hacklett. Die anderen sechs Männer nickten und murmelten zustimmend. »Doch die Wahrheit Eurer Rede ist eine andere Frage, mit der wir uns nun befassen müssen. Seid doch so gut und erklärt diesem Gericht, mit welchem Auftrag Euer Schiff in See stach.«

»Blutholz fällen«, sagte Hunter.

»Hattet Ihr einen Kaperbrief?«

»Jawohl, von Sir James Almont persönlich.«

»Und wo befindet sich das Dokument?«

»Es ist mit der Cassandra verschollen«, sagte Hunter, »aber ich habe keinen Zweifel, dass Sir James bestätigen wird, es aufgesetzt zu haben.«

»Sir James«, sagte Hacklett, »ist schwer erkrankt und außerstande, vor diesem Gericht irgendetwas zu bestätigen oder in Abrede zu stellen. Gleichwohl können wir Euch, wie ich glaube, beim Worte nehmen, dass das fragliche Dokument ausgestellt wurde.«

Hunter macht eine knappe Verbeugung.

»Also weiter«, sagte Hacklett. »Wo wurdet Ihr von dem spanischen Kriegsschiff gekapert? In welchen Gewässern?«

Hunter sah augenblicklich, in welchem Dilemma er sich befand, und so zögerte er mit der Antwort, obwohl er wusste, dass das Zögern seiner Glaubwürdigkeit Abbruch tun würde. Er beschloss, die Wahrheit zu sagen – beinahe.

»In der Windward-Passage nördlich von Puerto Rico.«

»Nördlich von Puerto Rico?«, sagte Hacklett mit gespielt überraschter Miene. »Wachsen in der Region Blutholzbäume?«

»Nein«, sagte Hunter, »aber ein heftiger Sturm hatte uns zwei Tage lang hin und her geworfen und wir waren weit vom Kurs abgekommen.«

»Das kann man wohl sagen, denn Puerto Rico liegt nordöstlich von Jamaika, Blutholzbäume finden sich dagegen ausschließlich im Südwesten.«

Hunter sagte: »Für Stürme bin ich wohl kaum verantwortlich zu machen.«

»An welchen Tagen war der Sturm?«

»Am zwölften und dreizehnten September.«

»Sonderbar«, sagte Hacklett. »An den Tagen war in Jamaika schönes Wetter.«

»Das Wetter auf See ist nicht immer so wie an Land«, sagte Hunter, »was allgemein bekannt ist.«

»Das Gericht dankt Euch für Eure Lektion in Seemannskunst, Mr Hunter«, sagte Hacklett. »Obgleich Ihr, wie ich glaube, den anwesenden Gentlemen hier nur wenig beizubringen habt, hä?« Er lachte leise. »Nun denn, Mr Hunter – verzeiht, wenn ich Euch nicht als Captain Hunter anrede –, behauptet Ihr, dass Ihr zu keinem Zeitpunkt die Absicht hegtet, mit Eurem Schiff und Eurer Besatzung eine spanische Siedlung oder spanisches Hoheitsgebiet zu überfallen?«

»Das behaupte ich, allerdings.«

»Ihr habt einen solchen gesetzwidrigen Überfall nie in Erwägung gezogen?«

»Niemals.« Hunter sprach mit aller Bestimmtheit, die er aufbringen konnte. Er wusste, dass seine Besatzung es nicht wagen würde, ihm in diesem Punkt zu widersprechen. Wenn sie die Abstimmung zugaben, die sie in der Bull Bay abgehalten hatten, würden sie mit Sicherheit wegen Piraterie verurteilt.

»Schwört Ihr bei Eurer sterblichen Seele, dass eine solche Absicht niemals mit einem Angehörigen Eurer Besatzung erörtert wurde?«

»Ich schwöre es.«

Hacklett sammelte sich kurz. »Lasst mich Eure Aussage noch einmal zusammenfassen, um sicherzugehen, dass ich Euch richtig verstanden habe. Ziel Eurer Fahrt war eine simple Blutholzexpedition, und durch widrige Umstände seid Ihr von einem Sturm, der diese Küste nie erreichte, weit nach Norden verschlagen worden. Anschließend wurdet Ihr ohne Provokation irgendwelcher Art von einem spanischen Kriegsschiff gekapert. Ist das korrekt?«

»Ja.«

»Und fürder erfuhrt Ihr, dass selbiges Kriegsschiff ein englisches Handelsschiff überfallen und Lady Sarah Almont als Geisel genommen hatte, was Euch Veranlassung zu einem Vergeltungsschlag gab. Richtig?«

»Ja.«

Hacklett hielt erneut inne. »Wie brachtet Ihr in Erfahrung, dass das Kriegsschiff Lady Sarah Almont gefangen genommen hatte?«

»Sie war an Bord des Kriegsschiffs, als wir gekapert wurden«, sagte Hunter. »Das erfuhr ich – von einem schwatzhaften spanischen Soldaten.«

»Wie praktisch für Euch.«

»Es entspricht der Wahrheit. Nachdem wir entkommen konnten – was, wie ich hoffe, vor diesem Tribunal kein Verbrechen ist –, verfolgten wir das Kriegsschiff nach Matanceros und sahen dort, wie Lady Sarah von Bord in die Festung verbracht wurde.«

»Dann habt Ihr also mit dem alleinigen Ziel angegriffen, die Tugend dieser Engländerin zu bewahren?« Hackletts Stimme triefte vor Sarkasmus.

Hunter blickte im Tribunal von einem Gesicht zum nächsten. »Gentlemen«, sagte er, »wenn ich mich nicht irre, ist es nicht Aufgabe dieses Tribunals herauszufinden, ob ich ein Heiliger bin« – amüsiertes Lachen erklang –, »sondern einzig und allein, ob ich ein Pirat bin. Ich wusste natürlich von der Galeone im Hafen von Matanceros. Sie war eine überaus verlockende Prise. Dennoch wird das Gericht hoffentlich anerkennen, dass die Provokationen eine Vielzahl solcher Angriffe gerechtfertigt hätten – und zwar eindeutige Provokationen, die keinen Raum für juristische Spitzfindigkeiten oder formale Deuteleien lassen.«

Er blickte zu dem Gerichtsschreiber hinüber, dessen Aufgabe es war, bei dem Verfahren Protokoll zu führen. Erstaunt stellte Hunter fest, dass der Mann friedlich dasaß und nicht mal die Feder in der Hand hielt.

»Sagt uns«, sagte Hacklett, »wie ist es Euch gelungen, von dem spanischen Kriegsschiff zu entkommen, nachdem Ihr gefangen genommen worden wart?«

»Durch den Heldenmut und die Tapferkeit des Franzosen Sanson, der uns befreite.«

»Ihr habt eine hohe Meinung von diesem Sanson?«

»Allerdings, ja, denn ich verdanke ihm mein Leben.«

»Nun gut denn«, sagte Hacklett. Er drehte sich auf seinem Stuhl um. »Ruft den ersten Zeugen, Mr André Sanson!«

»André Sanson!«

Hunter wandte sich zur Tür, erneut fassungslos, als Sanson in den Saal trat. Der Franzose bewegte sich rasch, mit geschmeidigen fließenden Schritten, und nahm seinen Platz im Zeugenstand ein. Er hob die rechte Hand.

»André Sanson, schwört Ihr auf die Heiligen Evangelisten, wahrheitsgetreu Zeugnis abzulegen zwischen dem König und dem Gefangenen, dem Piraterie und Räuberei zur Last gelegt wird, so wahr Euch Gott helfe?«

»Ich schwöre es.«

Sanson senkte die rechte Hand und sah Hunter in die Augen. Der Blick war ausdruckslos und mitleidig zugleich. Er hielt den Blick etliche Sekunden, bis Hacklett wieder das Wort ergriff.

»Mr Sanson.«

»Sir.«

»Mr Sanson, Mr Hunter hat die Ereignisse der fraglichen Seeexpedition aus seiner Sicht geschildert. Wir möchten nun die Geschichte aus Eurer Sicht hören, als Zeuge, dessen Mut von dem Angeklagten bereits gewürdigt wurde. Würdet Ihr uns bitte sagen, mit welchem Ziel die Cassandra in See stach – ursprünglich, so wie Ihr es verstanden habt?«

»Um Blutholz zu fällen.«

»Und wurdet Ihr irgendwann eines Besseren belehrt?«

»Das wurde ich.«

»Bitte erläutert das dem Gericht.«

»Nachdem wir am zwölften September losgesegelt waren«, sagte Sanson, »steuerte Mr Hunter die Monkey Bay an. Dort verkündete er der Besatzung, dass sein Ziel Matanceros sei, um das dort vor Anker liegende Schatzschiff zu kapern.«

»Und wie war Eure Reaktion?«

»Ich war schockiert«, sagte Sanson. »Ich erinnerte Mr Hunter daran, dass ein solcher Überfall Piraterie sei und mit dem Tode bestraft würde.«

»Und seine Antwort?«

»Flüche und unflätige Beschimpfungen«, sagte Sanson, »sowie die Warnung, dass er mich, sollte ich nicht vorbehaltlos mitmachen, wie einen Hund töten und mich in Stücken an die Haie verfüttern würde.«

»Dann erfolgte Eure Beteiligung also unter Zwang und nicht freiwillig.«

»So ist es.«

Hunter starrte Sanson an. Der Franzose wirkte ruhig und gelassen, während er sprach. Nichts ließ erkennen, dass er log. Er warf Hunter wiederholt einen Blick zu, einen trotzigen Blick, als wollte er sagen: Streitet meine Geschichte ruhig ab, es glaubt Euch doch keiner.

»Was geschah dann?«

»Wir nahmen Kurs auf Matanceros in der Hoffnung, dass uns dort ein Überraschungsangriff gelingen würde.«

»Verzeiht, meint Ihr damit einen Angriff ohne vorausgegangene Provokation?«

»Ganz recht.«

»Bitte fahrt fort.«

»Auf dem Weg nach Matanceros trafen wir auf das spanische Kriegsschiff. Da wir deutlich unterlegen waren, wurden wir von den Spaniern gekapert, als Piraten.«

»Und was habt Ihr getan?«

»Ich wollte auf keinen Fall in Havanna als Pirat sterben«, sagte Sanson, »zumal ich bis dahin gezwungen worden war, Mr Hunters Befehl zu folgen. Daher versteckte ich mich und konnte anschließend meinen Kameraden zur Flucht verhelfen. Ich vertraute darauf, dass sie nun die Rückkehr nach Port Royal beschließen würden.«

»Und das taten sie nicht.«

»Allerdings nicht. Sobald Mr Hunter auf seinem Schiff wieder das Kommando übernommen hatte, zwang er uns, Kurs auf Matanceros zu nehmen, um seinen ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen.«

Hunter konnte sich nicht mehr beherrschen. »Ich habe euch gezwungen? Wie hätte ich denn sechzig Mann zwingen können?«

»Schweigt!«, brüllte Hacklett. »Der Gefangene wird sich still verhalten oder er wird aus dem Gerichtssaal entfernt.« Hacklett wandte sich wieder Sanson zu. »Wie seid Ihr zu dem Zeitpunkt mit dem Angeklagten ausgekommen?«

»Schlecht«, sagte Sanson. »Er legte mich für die Dauer der Fahrt nach Matanceros in Eisen.«

»Und dann wurde Matanceros überfallen und die Galeone gekapert?«

»Aye, Gentlemen«, sagte Sanson. »Und ich wurde auf die Cassandra verbracht: Mr Hunter hatte sich das Schiff angesehen und für seeuntüchtig befunden, nach dem Angriff auf Matanceros. Er ließ alles von Wert von diesem Schiff auf die gekaperte Schatzgaleone schaffen. Dann übertrug er mir das Kommando über die angeschlagene Cassandra. Im Grunde überließ er mich und die paar Mann, die er mir als Besatzung mitgab, unserem Schicksal, denn er konnte davon ausgehen, dass die Cassandra die offene See nicht überstehen würde. Meine Männer sahen das ebenso. Wir hatten Kurs auf Port Royal genommen, als ein Hurrikan uns überraschte. Unser Schiff wurde zerstört und alle meine Leute kamen ums Leben. Nur ich allein konnte mich mit dem Beiboot nach Tortuga retten und von dort hierher.«

»Was wisst Ihr über Lady Sarah Almont?«

»Nichts.«

»Gar nichts?«

»Ich höre den Namen zum ersten Mal«, sagte Sanson. »Wer soll das sein?«

»Interessant«, sagte Hacklett mit einem raschen Blick zu Hunter. »Es ist eine junge Frau, von der Mr Hunter behauptet, sie aus Matanceros befreit und sicher hierhergebracht zu haben.«

»Als er Matanceros verließ, war sie nicht bei ihm«, sagte Sanson. »Wenn ich Mutmaßungen anstellen darf, würde ich sagen, Mr Hunter hat ein englisches Handelsschiff angegriffen und die junge Lady als Prise genommen, um seine Verfehlungen zu rechtfertigen.«

»Ein überaus zweckdienliches Ereignis«, sagte Hacklett. »Aber wieso haben wir nichts von einem solchen Handelsschiff gehört?«

»Wahrscheinlich hat er alle an Bord getötet und das Schiff versenkt«, erklärte Sanson. »Auf seiner Heimfahrt von Matanceros.«

»Eine letzte Frage«, sagte Hacklett. »Erinnert Ihr Euch an einen Sturm auf See am zwölften und dreizehnten September?«

»Ein Sturm? Nein, Gentlemen. Da hatten wir keinen Sturm.«

Hacklett nickte. »Danke, Mr Sanson. Ihr seid entlassen.«

»Wie es das hohe Gericht wünscht«, sagte Sanson und verließ den Raum.

Nachdem die Tür mit einem hohlen hallenden Klang ins Schloss gefallen war, trat für einen Moment Stille ein. Das Gericht wandte sich Hunter zu, der vor Wut zitterte und kalkweiß geworden war, aber dennoch um Fassung rang.

»Mr Hunter«, sagte Hacklett, »könntet Ihr Euer Gedächtnis dahin gehend befragen, wie sich die Widersprüche erklären lassen zwischen Eurer Darstellung der Ereignisse und der von Mr Sanson, den Ihr, wie Ihr sagtet, so hoch achtet?«

»Er ist ein Lügner, Sir. Ein dreckiger und gemeiner Lügner.«

»Das Gericht ist gewillt, eine solche Bezichtigung zu berücksichtigen, falls Ihr dafür irgendwelche Beweise vorbringen könnt, Mr Hunter.«

»Ich habe nur mein Wort«, sagte Hunter, »aber ich bin sicher, Lady Sarah Almont wird der Aussage des Franzosen in jeder Hinsicht widersprechen, was als Beweis genügen wird.«

»Wir werden uns selbstverständlich ihre Aussage anhören«, sagte Hacklett. »Aber ehe wir sie als Zeugin aufrufen, bleibt eine verwirrende Frage zu klären. Der Überfall auf Matanceros – ob gerechtfertigt oder nicht – ereignete sich am achtzehnten September. Ihr seid am siebzehnten Oktober nach Port Royal zurückgekehrt. Bei Piraten bedeutet eine so lange Verzögerung, dass eine unbekannte Insel angesteuert wurde, um die erbeuteten Schätze zu verbergen und somit den König zu hintergehen. Wie lautet Eure Erklärung?«

»Wir waren in ein Seegefecht verstrickt«, sagte Hunter. »Dann kämpften wir drei Tage lang gegen einen Hurrikan an. Anschließend mussten wir das Schiff am Ufer einer Insel außerhalb der Boca del Dragon kielholen, was uns vier Tage kostete. Als es endlich wieder weiterging, griff uns ein Krake an –«

»Wie bitte? Meint Ihr ein Ungeheuer der Tiefe?«

»Ganz richtig.«

»Wie amüsant.« Hacklett lachte, und die anderen im Tribunal fielen mit ein. »Eure einfallsreiche Erklärung für diese einmonatige Verzögerung findet durchaus unsere Bewunderung, auch wenn sie uns nicht glaubhaft erscheint.« Hacklett wandte sich auf seinem Stuhl um. »Ruft Lady Sarah Almont in den Zeugenstand.«

»Lady Sarah Almont!«

Einen Augenblick später betrat eine blass und mitgenommen wirkende Lady Sarah den Saal, leistete den Eid und wartete auf die Fragen. Hacklett blickte sie überaus besorgt an.

»Lady Sarah, zunächst möchte ich Euch in der Kolonie Jamaika willkommen heißen und mich für die schauderhaften Umstände entschuldigen, unter denen Eure gewiss erste gesellschaftliche Begegnung in diesen Breitengraden erfolgt.«

»Danke, Mr Hacklett«, sagte sie mit einer leichten Verbeugung. Sie blickte Hunter nicht an, kein einziges Mal. Das beunruhigte ihn.

»Lady Sarah«, sagte Hacklett, »dieses Tribunal bedarf dringend der Antwort auf die Frage, ob Ihr von Spaniern gefangen genommen und dann von Captain Hunter befreit wurdet oder ob Ihr gleich von Captain Hunter gefangen genommen wurdet. Könnt Ihr uns aufklären?«

»Das kann ich.«

»Dann seid bitte so freundlich.«

»Ich befand mich an Bord des Handelsschiffes Entrepid«, sagte sie, »auf dem Weg von Bristol nach Port Royal, als …«

Ihre Stimme verklang. Langes Schweigen trat ein. Sie blickte Hunter an. Er starrte in ihre Augen, die so verängstigt waren, wie er es nie gesehen hatte.

»Fahrt fort, bitte.«

»… als wir am Horizont ein spanisches Schiff sichteten. Es eröffnete das Feuer auf uns, und wir wurden gekapert. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass der Captain dieses spanischen Schiffes ein Engländer war.«

»Meint Ihr Charles Hunter, den Gefangenen, der hier vor uns steht?«

»Ja.«

»Bitte fahrt fort.«

Hunter hörte kaum den Rest ihrer Darstellung: wie er sie auf die Galeone geholt, dann die englische Besatzung getötet und das Schiff in Brand gesteckt hatte. Wie er Lady Sarah erzählt hatte, er würde behaupten, sie vor den Spaniern gerettet zu haben, um seinen Überfall auf Matanceros zu rechtfertigen. Sie erzählte ihre Geschichte mit hoher, dünner Stimme, sprach schnell, als wollte sie die Sache möglichst rasch hinter sich bringen.

»Danke, Lady Sarah. Ihr seid entlassen.«

Sie verließ den Raum.

Das Tribunal blickte Hunter an, sieben Männer mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern, die Hunter musterten wie ein Geschöpf, das bereits tot war. Ein langer Augenblick verging.

»Wir haben von der Zeugin nichts über Eure bunten Abenteuer in der Boca del Dragon oder mit dem Seeungeheuer gehört. Habt Ihr irgendeinen Beweis?«, fragte Hacklett freundlich.

»Nur den hier«, sagte Hunter und entblößte rasch seinen Oberkörper. Auf seiner Brust waren die Schwellungen und Blutergüsse von gewaltigen, untertassengroßen Saugern zu sehen, ein schauerlicher Anblick. Die Angehörigen des Tribunals schnappten nach Luft. Sie murmelten untereinander.

Hacklett ließ seinen Hammer knallen, um die anderen wieder zur Ordnung zu rufen.

»Ein interessantes Amüsement, Mr Hunter, aber nicht überzeugend für die hier anwesenden gebildeten Gentlemen. Wir können uns alle lebhaft vorstellen, mit welchen Mitteln Ihr in Eurer verzweifelten Lage die Folgen eines Angriffs von so einem Ungetüm nachgestellt habt. Das Gericht ist nicht überzeugt.«

Hunter blickte in die Gesichter der sieben Männer und sah, dass sie sehr wohl überzeugt waren. Aber Hackletts Hammer knallte erneut.

»Charles Hunter«, sagte Hacklett, »dieses Gericht befindet Euch der Piraterie und Räuberei auf hoher See im Sinne der Anklage für schuldig. Möchtet Ihr irgendeinen Grund nennen, warum keine Strafe gegen Euch verhängt werden soll?«

Hunter zögerte. Ihm fielen zahllose Flüche und Kraftausdrücke ein, aber keiner davon würde irgendeinen Zweck erfüllen. »Nein«, sagte er leise.

»Ich habe Euch nicht verstanden, Mr Hunter.«

»Ich sagte, nein.«

»Dann lautet das Urteil gegen Euch, Charles Hunter, und Eure gesamten Besatzung wie folgt: Ihr werdet dorthin zurück verbracht, wo Ihr herkamt, und dann, am kommenden Montag, zum Exekutionsplatz, dem High Street Square in der Stadt Port Royal, überführt, wo Ihr am Halse aufgehängt werdet, bis der Tod eintritt. Danach werden Eure Körper vom Galgen genommen und an den Rahen Eures Schiffes aufgehängt werden. Möge Gott Eurer Seele gnädig sein. Bringt ihn weg, Aufseher.«

Hunter wurde aus dem Saal geführt. Als er durch die Tür trat, hörte er Hacklett lachen: ein eigenartiges, dünnes, meckerndes Lachen. Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und er wurde zurück ins Gefängnis gebracht.


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