KAPITEL 19

Cazalla trank Wein und grübelte über das Gesicht des sterbenden Christus nach, dachte an das Leiden, die Qualen des Körpers. Von frühester Jugend an hatte Cazalla Darstellungen dieser Qualen gesehen, die Marter des Fleisches, die erschlafften Muskeln und die hohlen Augen, das Blut, das aus der Wunde in der Seite floss, das Blut, das von den Nägeln in Händen und Füßen tropfte.

Das Gemälde hier in seiner Kajüte war ein persönliches Geschenk von Philipp. Der Lieblingshofmaler Seiner Majestät hatte es gemalt, ein Mann namens Velazquez, der vor einigen Jahren gestorben war. Ein solches Geschenk war ein Beweis hoher Wertschätzung, und Cazalla war überwältigt gewesen, als er es in Empfang nahm. Er nahm es auf allen Reisen mit. Es war sein wertvollster Besitz.

Dieser Velazquez hatte Jesus Christus ohne Heiligenschein gemalt. Und der Leib hatte einen totengleichen grauweißen Farbton. Es sah vollkommen wirklichkeitsgetreu aus, doch Cazalla hätte gern einen Heiligenschein gehabt. Er war überrascht, dass ein so frommer König wie Philipp nicht auf einen Heiligenschein bestanden hatte. Vielleicht gefiel Philipp das Gemälde nicht; vielleicht hatte er es deshalb einem seiner Militärführer in Neuspanien geschickt.

In dunklen Augenblicken kam Cazalla noch ein anderer Gedanke. Er wusste nur allzu gut um die Kluft zwischen den Annehmlichkeiten des Lebens an Philipps Hof und dem harten Leben der Männer, die ihm das Gold und das Silber für seinen Luxus aus den Kolonien schickten. Eines Tages würde er wieder an den Hof zurückkehren, als reicher Mann in seinen späteren Jahren. Manchmal stellte er sich vor, dass die Höflinge ihn auslachen würden. Manchmal, in seinen Träumen, tötete er sie alle in blutigen, zornigen Duellen.

Das Schaukeln des Schiffes riss Cazalla aus seinen Gedanken. Die Ebbe setzt ein, dachte er. Bis zur Dämmerung war es also nicht mehr lang. Schon bald würden sie wieder auf hoher See sein. Es war an der Zeit, einen weiteren englischen Piraten zu töten. Cazalla wollte sie einen nach dem anderen töten, so lange, bis einer ihm verriet, was er wissen wollte.

Das Schiff schaukelte weiter, aber irgendetwas stimmte nicht mit der Bewegung. Cazalla spürte es instinktiv: Das Schiff drehte sich nicht an seiner vorderen Ankerkette, sondern es bewegte sich seitwärts. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Und dann, im selben Augenblick, hörte er ein leises Knirschen und das Schiff erbebte und rührte sich nicht mehr.

Fluchend stürmte Cazalla aufs Hauptdeck. Und dort blickte er unversehens in die Wedel einer Palme, die dicht vor seiner Nase hingen – die Wedel etlicher Palmen, die das Ufer der Insel säumten. Sein Schiff war auf Sand gelaufen. Er brüllte vor Wut. Die kopflose Besatzung drängelte sich um ihn.

Der erste Offizier kam zitternd angerannt. »Captain, die haben die Ankerkette gekappt.«

»Die?«, rief Cazalla. Wenn er wütend war, klang seine Stimme hoch und dünn, wie die Stimme einer Frau. Er lief zur Reling gegenüber und sah die Cassandra, gekrängt in einer steifen Brise, aufs offene Meer hinaussteuern. »Die?«

»Die Piraten sind entkommen«, sagte der Offizier, blass.

»Entkommen! Wie konnten sie entkommen?«

»Ich weiß es nicht, mein Kapitän. Die Wachen sind alle tot.«

Cazalla streckte den Mann mit einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden. Er konnte kaum denken vor lauter Wut. Er starrte übers Wasser auf die kleiner werdende Schaluppe. »Wie konnten sie entkommen?«, wiederholte er. »Gott verdammt, wie konnten sie entkommen?«

Der Hauptmann der Infanterie kam herüber. »Mein Kapitän, Ihr seid gestrandet. Soll ich ein paar Männer an Land schicken, damit sie versuchen, das Schiff freizubekommen?«

»Die Ebbe hat eingesetzt«, sagte Cazalla.

»Ja, mein Kapitän.«

»Idiot, wir kommen erst frei, wenn die Flut wieder aufläuft.« Cazalla fluchte laut. Das wäre um zwölf Glasen. Sechs Stunden bis sie anfangen konnten, das riesige Schiff zu befreien. Und selbst dann war nicht gesagt, dass sie freikamen, wenn sie hart gestrandet waren. Es war die Zeit des abnehmenden Mondes. Da war jede Flut weniger hoch als die vorangegangene. Falls sie bei der nächsten Flut nicht freikamen – oder bei der danach –, säßen sie drei Wochen oder länger hier fest.

»Idiotenpack!«, kreischte er.

In der Ferne drehte die Cassandra elegant nach Süden ab und verschwand außer Sicht. Nach Süden?

»Die fahren nach Matanceros«, sagte Cazalla. Und er bebte vor unbändiger Wut.


Hunter saß im Heck der Cassandra und dachte nach. Er stellte erstaunt fest, dass er keinerlei Müdigkeit mehr verspürte, obwohl er seit zwei Tagen nicht geschlafen hatte. Um ihn herum lagen seine Leute auf dem Boden, als wären sie stehend in sich zusammengesackt. Fast alle schliefen tief und fest.

»Es sind gute Männer«, sagte Sanson mit Blick auf die liegenden Gestalten.

»Wahrhaftig«, sagte Hunter.

»Hat einer von ihnen geredet?«

»Einer.«

»Und Cazalla hat ihm geglaubt?«

»Vorerst nicht«, sagte Hunter, »aber er könnte seine Meinung bald ändern.«

»Wir haben mindestens sechs Stunden Vorsprung«, sagte Sanson. »Achtzehn, wenn wir Glück haben.«

Hunter nickte. Bis Matanceros brauchten sie zwei Tage gegen den Wind. Bei dem Vorsprung, den sie hatten, könnten sie es zur Festung schaffen, ehe das Kriegsschiff sie einholte.

»Wir werden die Nächte durchsegeln«, sagte Hunter.

Sanson nickte.

»Fockschot trimmen«, bellte Enders. »Aber flott.«

Das Segel straffte sich, und mit einer steifen Brise von Osten pflügte die Cassandra durchs Wasser ins dämmrige Morgenlicht hinein.


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