KAPITEL 7

Später, als er sich vom Gouverneur verabschiedet hatte und auf dem Weg nach draußen war, tauchte Mrs Hacklett in der Halle auf und kam auf ihn zu. »Captain Hunter.«

»Ja, Mrs Hacklett.«

»Ich möchte mich für das unverzeihliche Benehmen meines Mannes entschuldigen.«

»Das ist nicht nötig.«

»Im Gegenteil, Captain. Ich halte es für dringend nötig. Er hat sich wie ein Flegel und ein Grobian aufgeführt.«

»Madam, Ihr Gatte hat sich selbst bereits als Gentleman entschuldigt, und somit ist die Angelegenheit erledigt.« Er nickte ihr zu. »Einen guten Abend.«

»Captain Hunter.«

Er blieb an der Tür stehen und drehte sich um. »Ja, Madam?«

»Ihr seid ein überaus attraktiver Mann, Captain.«

»Madam, Ihr seid sehr liebenswürdig. Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.«

»Ich mich auch, Captain.«

Hunter verließ die Gouverneursresidenz mit dem Gedanken, dass Mr Hacklett seine Frau lieber im Auge behalten sollte. Hunter hatte das schon öfter erlebt. Eine kultivierte Frau, aufgewachsen im Milieu des englischen Landadels, fand bei Hofe ein wenig Abwechslung – so wie Mrs Hacklett zweifellos –, wenn ihr Mann nicht hinsah – so wie Mr Hacklett zweifellos. Hier in Westindien jedoch, fern der Heimat und fern der Zwänge von Stand und Sitte … Hunter hatte es schon öfter erlebt.

Er schlenderte die gepflasterte Straße hinunter, die von der Residenz wegführte. Er kam an der noch hell erleuchteten Küche vorbei, in der die Bediensteten bei der Arbeit waren. Alle Häuser in Port Royal hatten separate Küchen, eine Unerlässlichkeit bei dem heißen Klima. Durch die offenen Fenster sah er das Gesicht des blonden Mädchens, das beim Dinner serviert hatte. Er winkte ihr.

Sie winkte zurück und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.


Draußen vor Mrs Denbys Gasthaus wurde ein Bär gequält. Hunter sah, wie die Kinder das hilflose Tier mit Steinen bewarfen. Sie lachten und kicherten und johlten, während der Bär knurrte und an seiner dicken Kette riss. Zwei Huren schlugen mit Stöcken auf den Bären ein. Hunter ging vorbei und betrat das Gasthaus.

Trencher war da. Er saß in einer Ecke und hob den Trinkbecher mit seinem gesunden Arm. Hunter rief ihn zu sich und nahm ihn beiseite.

»Was liegt an, Captain?«, fragte Trencher eifrig.

»Du musst ein paar Leute für mich auftreiben.«

»Sagt mir, an wen Ihr denkt, Captain.«

»Lazue, Mr Enders, Sanson. Und den Mauren.«

Trencher lächelte. »Sollen sie herkommen?«

»Nein. Finde raus, wo sie sind, und ich gehe selbst zu ihnen. Aber zunächst mal: Wo ist Whisper?«

»Im Blue Goat«, sagte Trencher. »Im Hinterzimmer.«

»Und Black Eye ist in der Farrow Street?«

»Ich glaube ja. Den Juden wollt Ihr auch, oder?«

»Ich vertraue deiner Zunge«, sagte Hunter. »Halte sie im Zaum.«

»Nehmt Ihr mich mit, Captain?«

»Wenn du alles richtig erledigst.«

»Das schwöre ich bei Gottes Wunden, Captain.«

»Dann spute dich«, sagte Hunter und trat wieder hinaus auf die matschige Straße. Die nächtliche Luft war warm und still, wie schon den ganzen Tag über. Er hörte das leise Klimpern einer Gitarre und irgendwo trunkenes Gelächter und einen einzelnen Pistolenschuss. Er trottete die Ridge Street entlang in Richtung Blue Goat.

Die Stadt Port Royal unterteilte sich grob in Viertel, die im Umkreis des Hafens lagen. Ganz in der Nähe vom Kai fanden sich die Schenken und Bordelle und Glücksspielhäuser. Etwas weiter entfernt vom lärmenden Getriebe des Hafenviertels wurden die Straßen ruhiger. Hier waren die Lebensmittelhändler und Bäcker, die Möbelschreiner und Schiffsausrüster, die Hufschmiede und Goldschmiede angesiedelt. Noch weiter weg, an der Südseite der Bucht, lagen die wenigen ehrbaren Gast-und Privathäuser. Das Blue Goat war ein ehrbares Gasthaus.

Hunter trat ein und nickte den Gentlemen zu, die an den Tischen tranken. Er erkannte Mr Perkins, einen der besten Ärzte unter den Landratten; den Gemeinderat Mr Pickering; den Büttel vom Zuchthaus Bridewell und etliche andere ehrbare Herrschaften.

Normalerweise wäre ein gewöhnlicher Freibeuter im Blue Goat nicht willkommen, aber Hunter war ein gern gesehener Gast. Grund dafür war, dass der Handel im Ort in erheblichem Maße vom Erfolg regelmäßiger Freibeuterfahrten abhing. Hunter war ein erfahrener und wagemutiger Kapitän und somit ein wichtiges Mitglied der Gemeinde. Im Jahr zuvor hatten seine drei Kaperfahrten Port Royal über zweihunderttausend pistoles und Dublonen eingebracht. Ein Großteil dieses Geldes landete in den Taschen jener Gentlemen, und sie begrüßten ihn entsprechend.

Mistress Wickham, die das Blue Goat betrieb, war weniger warmherzig. Sie war Witwe, und da sie sich einige Jahre zuvor mit Whisper eingelassen hatte, wusste sie, dass Hunter, wenn er auftauchte, mit ihm sprechen wollte. Sie stieß den Daumen in Richtung Hinterzimmer. »Da drin, Captain.«

»Danke, Mistress Wickham.«

Er strebte schnurstracks auf die Tür des Hinterzimmers zu, klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wusste, es würde keine kommen. In dem dunklen Raum brannte nur eine einzige Kerze. Hunter blinzelte, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen. Er hörte ein rhythmisches Quietschen. Schließlich konnte er Whisper sehen, der in einer Ecke in einem Schaukelstuhl saß. Whisper hielt eine geladene Pistole in der Hand, mit der er auf Hunters Bauch zielte.

»Einen guten Abend, Whisper.«

Die Antwort war leise, ein raues Zischen. »Einen guten Abend, Captain Hunter. Seid Ihr allein?«

»Jawohl.«

»Dann kommt herein«, lautete die zischende Erwiderung. »Einen Schluck Teufelstöter?« Whisper deutete auf ein Fass neben sich, das als Tisch diente. Darauf standen zwei Gläser und ein kleiner Krug mit Rum.

»Mit Vergnügen, Whisper.«

Hunter sah zu, wie Whisper zwei Gläser mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. Seine Augen hatten sich jetzt vollständig an das Licht gewöhnt, und er konnte sein Gegenüber besser sehen.

Whisper – keiner kannte seinen richtigen Namen – war ein großer, stämmiger Mann mit übergroßen blassen Händen. Er war selbst einmal ein erfolgreicher Freibeuterkapitän gewesen. Dann hatte er mit Edmunds den Angriff auf Matanceros unternommen. Whisper hatte als Einziger überlebt, nachdem Cazalla ihn gefangen genommen und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Irgendwie war der Totgeglaubte nicht gestorben, hatte allerdings seine Stimme fast zur Gänze eingebüßt. Ein weiteres deutliches Zeugnis seiner Vergangenheit war die weiße, geschwungene Narbe unter seinem Kinn.

Seit seiner Rückkehr nach Port Royal verkroch Whisper sich in diesem Hinterzimmer, ein starker, rüstiger Mann, aber ohne Mut – die Kraft war ihm entwichen. Er war ängstlich. Er hatte stets eine Waffe in der Hand und eine weitere neben sich. Jetzt, wie er schaukelnd in seinem Stuhl saß, sah Hunter in greifbarer Nähe ein Entermesser auf dem Boden schimmern.

»Was führt Euch zu mir, Captain? Matanceros?«

Hunter hatte wohl verdutzt dreingeschaut, denn Whisper brach in Gelächter aus. Whispers Lachen klang entsetzlich, ein schrilles, schnaufendes Zischen wie von einem Dampfkessel. Er warf beim Lachen den Kopf in den Nacken, wodurch die weiße Narbe deutlich sichtbar wurde.

»Hab ich Euch erschreckt, Captain? Seid Ihr überrascht, dass ich es weiß?«

»Whisper«, sagte Hunter. »Wissen noch mehr Bescheid?«

»Einige«, zischte Whisper. »Oder sie ahnen was. Aber sie wissen nichts Genaues. Ich hab die Geschichte von Mortons Fahrt gehört.«

»Ah.«

»Wollt Ihr hin, Captain?«

»Erzählt mir von Matanceros, Whisper.«

»Wünscht Ihr eine Karte?«

»Ja.«

»Fünfzehn Shilling?«

»Abgemacht«, sagte Hunter. Er wusste, er würde Whisper zwanzig zahlen, um sich sein Wohlwollen und sein Schweigen gegenüber etwaigen späteren Besuchern zu sichern. Und Whisper würde wissen, welche Verpflichtung sich aus den fünf Shilling extra ergab. Und er würde wissen, dass Hunter ihn töten würde, wenn er mit irgendwem sonst über Matanceros sprach.

Whisper holte ein Stück Wachstuch und ein Stück Holzkohle hervor. Er legte sich das Wachstuch aufs Knie und zeichnete rasch.

»Die Insel Matanceros, das spanische Wort für Gemetzel«, flüsterte er. »Sie hat die Form eines U, ungefähr so. Die Hafenmündung zeigt nach Osten, zum Ozean. An dieser Stelle –« er tippte auf die linke Seite des U – »liegt Punta Matanceros. Da hat Cazalla die Festung gebaut. Das Gelände da ist niedrig. Die Festung liegt keine fünfzig Schritte über dem Wasser.«

Hunter nickte und wartete, während Whisper gurgelnd einen Schluck Teufelstöter trank.

»Die Festung ist achteckig. Die Mauern sind aus Stein, dreißig Fuß hoch. Drinnen ist eine spanische Milizgarnison.«

»Wie stark?«

»Manche sagen zweihundert. Manche sagen dreihundert. Ich habe sogar vierhundert gehört, aber das glaube ich nicht.«

Hunter nickte. Er sollte von dreihundert Mann ausgehen. »Und die Kanonen?«

»Nur auf zwei Seiten der Festung«, krächzte Whisper. »Eine Batterie zum Ozean hin, nach Osten. Eine Batterie quer zur Hafenmündung, nach Süden.«

»Was für Kanonen?«

Whisper stieß ein schauriges Lachen aus. »Höchst interessant, Captain Hunter. Es sind culebrinas, 24-Pfünder, Bronzeguss.«

»Wie viele?«

»Zehn, vielleicht zwölf.«

Das war interessant, dachte Hunter. Die culebrinas – Kolubrinen oder Feldschlangen – zählten nicht gerade zu den schlagkräftigsten Geschützen und wurden nicht mehr für den Einsatz auf Schiffen bevorzugt. Stattdessen fand sich auf Kriegsschiffen jeder Fahne inzwischen die kurze Kanone.

Die Kolubrine war ein älteres Geschütz. Kolubrinen wogen über zwei Tonnen und hatten Rohre, die bis zu fünfzehn Fuß maßen. Durch die Länge der Rohre waren Kolubrinen über große Entfernungen tödlich präzise. Sie konnten schwere Kugeln abfeuern und ließen sich flink laden. Von erfahrenen Kanonieren bedient, konnten sie bis zu einmal pro Minute abgefeuert werden.

»Die Festung ist also gut gesichert.« Hunter nickte. »Wer ist der Geschützmeister?«

»Bosquet.«

»Von dem hab ich schon gehört«, sagte Hunter. »Er hat die Renown versenkt.«

»Genau der«, zischte Whisper.

Die Kanoniere waren also gut ausgebildet. Hunter runzelte die Stirn.

»Whisper«, sagte er, »wisst Ihr, ob die Kolubrinen fest montiert sind?«

Whisper schaukelte einen langen Augenblick vor und zurück. »Ihr seid wahnsinnig, Captain Hunter.«

»Wieso?«

»Ihr plant einen Angriff von der Landseite.«

Hunter nickte.

»Das wird niemals gelingen«, sagte Whisper. Er tippte auf die Karte auf seinen Knien. »Edmunds hatte auch daran gedacht, aber als er die Insel sah, hat er es sich anders überlegt. Seht mal hier, wenn Ihr im Westen an Land geht« – er zeigte auf die Rundung des U –, »da ist ein kleiner Hafen, den Ihr benutzen könnt. Aber um über Land zum Haupthafen von Matanceros zu gelangen, müsst Ihr über den Leres-Kamm.«

Hunter machte eine ungeduldige Geste. »Ist der Leres-Kamm schwer zu erklimmen?«

»Da kommt keiner hoch«, sagte Whisper. »Kein normaler Mensch schafft das. Von der westlichen Bucht aus steigt das Gelände gut fünfhundert Fuß oder mehr sanft an. Aber es geht durch einen heißen, dichten Dschungel, mit Sümpfen. Trinkwasser gibt es keins. Aber Patrouillen. Falls die Patrouillen Euch nicht entdecken und Ihr nicht am Fieber sterbt, gelangt Ihr zum Fuß des Kamms. Die Westflanke des Leres-Kamms ist eine Felswand, die gut dreihundert Fuß senkrecht aufragt. Selbst ein Vogel findet an der Wand keine Stelle, um zu landen. Und der unaufhörliche Wind hat Sturmstärke.«

»Falls ich es doch bis oben schaffe«, sagte Hunter. »Was dann?«

»Der Osthang ist sanft und stellt keine Schwierigkeit dar«, sagte Whisper. »Aber Ihr kommt niemals bis zur Ostflanke, das verspreche ich Euch.«

»Falls doch«, sagte Hunter. »Was ist mit den Batterien in der Festung?«

Whisper zuckte kaum merklich die Achseln. »Wie gesagt, sie zeigen zum Wasser, Captain Hunter. Cazalla ist kein Dummkopf. Er weiß, dass er vom Land aus nicht angegriffen werden kann.«

»Es gibt immer eine Möglichkeit.«

Whisper schaukelte lange mit seinem Stuhl, schweigend. »Nicht immer«, sagte er schließlich. »Nicht immer.«


Don Diego de Ramano, auch bekannt als Black Eye oder einfach als der Jude, saß in seinem Laden auf der Farrow Street über die Werkbank gebeugt. Kurzsichtig, wie er war, begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Perle, die er zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hielt. Es waren die einzigen Finger, die ihm an der Hand noch geblieben waren. »Sie ist von vorzüglicher Qualität«, sagte er. Er gab Hunter die Perle zurück. »Ich rate Euch, sie zu behalten.«

Black Eye blinzelte rasch. Seine Augen waren schwach und rosa wie bei einem Kaninchen. Fast unaufhörlich quollen Tränen daraus hervor, die er ab und zu wegwischte. Sein rechtes Auge hatte dicht neben der Pupille einen großen schwarzen Punkt – dem er seinen Spitznamen verdankte. »Aber das musstet Ihr nicht erst von mir hören, Hunter.«

»Nein, Don Diego.«

Der Jude nickte und stand von der Werkbank auf. Er durchquerte den schmalen Laden und schloss die Tür zur Straße. Dann klappte er die Fensterläden zu und drehte sich wieder zu Hunter um. »Also?«

»Wie steht es um Eure Gesundheit, Don Diego?«

»Meine Gesundheit, meine Gesundheit«, sagte Don Diego und schob die Hände tief in die Taschen seines weiten Gewandes. Er war empfindlich, was seine Versehrte linke Hand betraf. »Meine Gesundheit ist wie immer mäßig. Aber auch das musstet Ihr nicht erst von mir hören.«

»Läuft das Geschäft gut?«, fragte Hunter, während er sich im Laden umsah. Auf groben Tischen war Goldschmuck ausgelegt. Der Jude betrieb den Laden seit nunmehr zwei Jahren.

Don Diego setzte sich. Er blickte Hunter an, strich sich den Bart und wischte neue Tränen weg. »Hunter«, sagte er, »Ihr seid eine Nervensäge. Rückt endlich heraus mit der Sprache.«

»Ich hab mich gefragt«, sagte Hunter, »ob Ihr noch mit Pulver arbeitet.«

»Pulver? Pulver?« Der Jude starrte stirnrunzelnd ins Leere, als würde er die Bedeutung des Wortes nicht kennen. »Nein«, sagte er. »Ich arbeite nicht mit Pulver. Seit dem hier« – er deutete auf sein geschwärztes Auge – »und dem hier« – er hob seine fast fingerlose linke Hand – »arbeite ich nicht mehr mit Pulver.«

»Lässt sich dieser Entschluss ändern?«

»Niemals.«

»Niemals ist eine lange Zeit.«

»Wenn ich niemals sage, meine ich niemals, ohne Ausnahme, Hunter.«

»Nicht mal für einen Angriff auf Cazalla?«

Der Jude schnaufte. »Cazalla«, sagte er gewichtig. »Cazalla ist in Matanceros und kann nicht angegriffen werden.«

»Ich werde ihn angreifen«, sagte Hunter leise.

»Das hat Captain Edmunds auch getan, letztes Jahr.« Don Diego verzog das Gesicht bei der Erinnerung. Er hatte die Expedition als einer der Geldgeber unterstützt. Seine Investition – fünfzig Pfund – hatte er verloren. »Matanceros ist unangreifbar, Hunter. Lasst Euch durch Eitelkeit nicht den Verstand vernebeln. Die Festung ist uneinnehmbar.« Er wischte sich die Tränen von der Wange. »Außerdem ist da nichts zu holen.«

»In der Festung nicht«, sagte Hunter. »Aber im Hafen!«

»Im Hafen? Im Hafen?« Black Eye starrte wieder ins Leere. »Was gibt’s denn im Hafen? Ah. Das können nur die Naos sein, die im Auguststurm von der Schatzflotte getrennt worden sind, ja?«

»Eine davon.«

»Woher wisst Ihr das?«

»Ich weiß es.«

»Eine Nao?« Der Jude blinzelte noch schneller. Er kratzte sich die Nase mit dem Zeigefinger seiner Versehrten linken Hand – ein sicheres Zeichen, dass er in Gedanken war. »Die ist wahrscheinlich voll mit Tabak und Zimt«, sagte er düster.

»Die ist wahrscheinlich voll mit Gold und Perlen«, sagte Hunter. »Ansonsten wäre sie schnurstracks allein weiter nach Spanien gefahren, auch auf die Gefahr hin, gekapert zu werden. Sie hat nur deshalb Matanceros angesteuert, weil sie eine kostbare Ladung an Bord hat und nicht riskieren will, Freibeutern in die Hände zu fallen.«

»Mag sein, mag sein …«

Hunter beobachtete den Juden scharf. Der Jude war ein großartiger Schauspieler.

»Nehmen wir an, Ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Die Sache interessiert mich trotzdem nicht. Eine Nao im Hafen von Matanceros ist so sicher, als wäre sie in Cadiz vertäut. Die Festung schützt sie und die Festung ist uneinnehmbar.«

»Stimmt«, sagte Hunter. »Aber die Kanonen, die den Hafen sichern, können zerstört werden – falls Ihr bei guter Gesundheit seid und falls Ihr noch einmal mit Pulver arbeiten würdet.«

»Ihr wollt mir schmeicheln.«

»Ganz gewiss nicht.«

»Was hat meine Gesundheit damit zu tun?«

»Mein Plan«, sagte Hunter, »hat seine Tücken.«

Don Diego blickte finster. »Soll das heißen, ich muss mitkommen?«

»Natürlich. Was dachtet Ihr denn?«

»Ich dachte, Ihr wollt Geld. Ich soll mitkommen?«

»Das ist unerlässlich, Don Diego.«

Der Jude stand abrupt auf. »Um Cazalla anzugreifen«, sagte er plötzlich aufgeregt. Er begann, auf und ab zu schreiten.

»Ich träume jede Nacht von seinem Tod, seit zehn Jahren, Hunter. Ich träume …« Er blieb stehen und blickte Hunter an. »Auch Ihr habt Eure Gründe.«

»Ja.« Hunter nickte.

»Aber ist es zu schaffen? Wahrhaftig?«

»Wahrhaftig, Don Diego.«

»Dann möchte ich den Plan hören«, sagte der Jude in heller Aufregung. »Und ich möchte wissen, was für Pulver Ihr benötigt.«

»Ich benötige eine Erfindung«, sagte Hunter. »Ihr müsst etwas herstellen, was es nicht gibt.«

Der Jude wischte sich Tränen aus den Augen. »Lasst hören«, sagte er. »Lasst hören.«


Mr Enders, seines Zeichens Bader und ein wahrer Künstler des Meeres, setzte den Blutegel vorsichtig an den Hals seines Patienten. Das Opfer, das zurückgelehnt im Stuhl saß, das Gesicht mit einem Handtuch bedeckt, stöhnte, als das nacktschneckenähnliche Geschöpf seine Haut berührte. Sogleich schwoll der Egel an mit Blut.

Mr Enders summte leise vor sich hin. »So«, sagte er. »In ein paar Minuten geht es Euch spürbar besser. Ich sage Euch, Ihr werdet wieder besser atmen können und auch bei den Ladys Eindruck machen.« Er tätschelte die Wange unter dem Handtuch. »Ich schnappe nur rasch ein bisschen frische Luft und bin gleich wieder da.«

Und schon eilte Mr Enders aus dem Laden. Er hatte nämlich vor dem Fenster Hunter bemerkt, der ihn nach draußen winkte. Mr Enders war ein kleiner Mann mit flinken, anmutigen Bewegungen. Wenn er ging, sah es fast so aus, als würde er tanzen. Er betrieb ein einigermaßen gut gehendes Geschäft in der Stadt, da viele Patienten seine Behandlungen überlebten, was manch anderer Bader nicht von sich behaupten konnte. Doch sein größtes Geschick und seine wahre Leidenschaft war das Steuern eines Segelschiffes. Enders, ein echter Künstler des Meeres, war eine Rarität, ein vollendeter Steuermann, dem es irgendwie gelang, zwischen sich und dem Schiff, das er lenkte, eine Verbindung herzustellen.

»Braucht Ihr eine Rasur, Captain?«, fragte er Hunter.

»Eine Mannschaft.«

»Dann habt Ihr Euren Bader gefunden«, sagte Enders. »Und was ist das Ziel der Fahrt?«

»Blutholz fällen«, sagte Hunter und grinste.

»Ich fälle Blutholz für mein Leben gern«, sagte Enders. »Und um wessen Blutholz mag es sich handeln?«

»Cazallas.«

Sogleich war Enders’ scherzhafte Stimmung verflogen. »Cazalla? Ihr wollt nach Matanceros?«

»Leise«, sagte Hunter eindringlich und blickte sich auf der Straße um.

»Captain, Captain, Selbstmord ist eine Sünde gegen Gott.«

»Ihr wisst, dass ich Euch brauche«, sagte Hunter.

»Aber das Leben ist süß, Captain.«

»Gold auch«, sagte Hunter.

Enders verstummte und runzelte die Stirn. Er wusste, genau wie der Jude, genau wie jeder in Port Royal, dass sich in der Festung von Matanceros kein Gold befand. »Wenn Ihr mir vielleicht erklären würdet?«

»Lieber nicht.«

»Wann segelt Ihr?«

»In zwei Tagen.«

»Und werde ich die Gründe in Bull Bay erfahren?«

»Ihr habt mein Wort.«

Enders streckte schweigend die Hand aus, und Hunter schüttelte sie. Aus dem Laden drang das Stöhnen des Patienten, der sich unbehaglich wand. »Oh Schreck, der arme Kerl«, sagte Enders und hastete zurück in den Raum. Der Egel war dick und fett mit Blut und ließ rote Tropfen auf den Holzboden fallen. Als Enders den Blutegel abnahm, schrie der Patient auf. »Na, na, immer mit der Ruhe, Euer Exzellenz.«

»Ihr seid ein verfluchter Pirat und Halunke«, sagte Sir James Almont, riss sich das Tuch vom Gesicht und betupfte damit den angebissenen Hals.


Lazue war in einem Bordell auf der Lime Road umringt von kichernden Frauen. Lazue kam aus Frankreich. Der Name war eine Verballhornung von Les Yeux, denn die Augen dieser Kämpfernatur waren groß und strahlend und legendär. Lazue konnte besser als sonst wer nachts im Dunkeln sehen. Schon häufig hatte Hunter seine Schiffe mit Lazue auf dem Vorderdeck durch Riffe und Untiefen gebracht. Außerdem konnte Lazue hervorragend schießen, war schlank und wendig wie eine Katze.

»Hunter«, knurrte Lazue, einen Arm um eine dralle Frau. »Hunter, her mit dir.« Die Frauen kicherten und spielten mit ihrem Haar.

»Ein Wort unter vier Augen, Lazue.«

»Du bist so langweilig«, sagte Lazue und gab den Frauen der Reihe nach einen Kuss. »Ich bin gleich wieder da, meine Süßen«, sagte Lazue und folgte Hunter in eine entlegene Ecke. Eine Frau brachte ihnen einen Krug Teufelstöter mit zwei Gläsern.

Hunter betrachtete Lazues schulterlanges, zerzaustes Haar und bartloses Gesicht. »Bist du betrunken, Lazue?«

»Nicht zu betrunken, Captain«, sagte Lazue mit einem rauen Lachen. »Was hast du auf dem Herzen?«

»Ich steche in zwei Tagen in See.«

»Ja?« Lazue wirkte schlagartig nüchtern. Die großen, wachsamen Augen blickten Hunter eindringlich an. »Wohin soll’s gehen?«

»Matanceros.«

Lazue lachte, ein tiefes, grollendes Lachen. Es war ein seltsamer Klang für einen so schmächtigen Körper.

»Matanceros bedeutet Gemetzel, und der Name passt, nach dem, was ich so alles gehört habe.«

»Gleichwohl«, sagte Hunter.

»Du musst gute Gründe haben.«

»Hab ich auch.«

Lazue nickte, rechnete nicht damit, mehr zu erfahren. Ein kluger Kapitän gab über einen geplanten Angriff erst dann Einzelheiten preis, wenn das Schiff unterwegs war.

»Sind die Gründe so gut, wie die Gefahren groß?«

»Allerdings.«

Lazue betrachtete Hunter forschend. »Du willst eine Frau an Bord?«

»Deshalb bin ich hier.«

Lazue lachte wieder. Sie kratzte sich geistesabwesend die kleinen Brüste. Sie lebte und kämpfte wie ein Mann und kleidete sich auch so, doch sie war eine Frau.

Lazue war die Tochter der Frau eines bretonischen Seemanns. Ihr Mann war auf See, als die Frau feststellte, dass sie schwanger war, und schließlich einen Sohn zur Welt brachte. Ihr Mann kehrte jedoch nicht zurück – ja, es ward nie mehr von ihm gehört –, und einige Monate später war die Frau ein zweites Mal schwanger. Aus Furcht vor einem Skandal zog sie in ein anderes Dorf, wo sie eine Tochter gebar, Lazue.

Im Jahr darauf starb der Sohn. Der Mutter war unterdessen das Geld ausgegangen, weshalb sie sich gezwungen sah, in ihr Heimatdorf zurückzukehren, um bei ihren Eltern zu leben. Aus Angst vor Schmach kleidete sie ihre Tochter wie ihren Sohn, und das so täuschend echt, dass niemand im Dorf, einschließlich der Großeltern des Kindes, je misstrauisch wurden. Lazue wuchs als Junge auf und wurde mit dreizehn Kutscher bei einem Edelmann in der Gegend. Später ging sie zur französischen Armee und lebte etliche Jahre unter Soldaten, ohne dass ihr jemand auf die Schliche kam. Irgendwann – so zumindest erzählte sie die Geschichte – verliebte sie sich in einen stattlichen jungen Kavallerieoffizier, dem sie ihr Geheimnis offenbarte. Sie hatten fast ein Jahr lang eine leidenschaftliche Liaison, doch da er sie nicht heiraten wollte, beschloss sie schließlich, nach Westindien zu gehen, wo sie erneut in ihre maskuline Rolle schlüpfte.

In einer Stadt wie Port Royal ließ sich so ein Geheimnis nicht lange bewahren, und inzwischen wusste jeder, dass Lazue eine Frau war. Ohnehin machte sie es sich auf Kaperfahrten zur Gewohnheit, ihre Brüste zu entblößen, um den Feind zu verwirren und ihm einen Schrecken einzujagen. In der Stadt jedoch wurde sie wie ein Mann behandelt, und niemand nahm groß Anstoß daran.

Jetzt lachte Lazue. »Du bist verrückt, Hunter, ein Angriff auf Matanceros ist Wahnsinn.«

»Bist du dabei?«

Sie lachte wieder. »Nur weil ich nichts Besseres vorhabe.« Und sie ging zurück zu den kichernden Huren am hinteren Tisch.


In den frühen Morgenstunden stöberte Hunter den Mauren auf, in einem Glücksspielhaus namens The Yellow Scamp, wo er mit zwei holländischen Korsaren eine Partie Gleek spielte.

Der Maure, auch Bassa genannt, war ein Koloss von einem Mann mit einem riesigen Kopf, Muskelpaketen auf Schultern und Brust und mächtigen Händen, in denen sich die Spielkarten winzig ausnahmen. Die Gründe, warum er der Maure genannt wurde, waren längst vergessen, und selbst wenn er manchmal gern von seiner Herkunft erzählt hätte, er konnte es nicht, weil ein spanischer Plantagenbesitzer auf Hispaniola ihm die Zunge herausgeschnitten hatte. Allgemein herrschte Einigkeit darüber, dass der Maure gar nicht maurisch war, sondern aus einer afrikanischen Region namens Nubien stammte, einer am Nil gelegenen Wüstengegend, wo riesige schwarze Menschen lebten.

Bassa hieß er nach der gleichnamigen Hafenstadt an der Küste von Guinea, wo mitunter Sklavenschiffe anlegten, doch die Heimat des Mauren konnte dieses Land unmöglich sein, da die Menschen dort schwächlich waren und eine deutlich hellere Haut hatten.

Der imposante körperliche Eindruck, den Bassa machte, wurde noch dadurch verstärkt, dass er stumm war und sich nur durch Gesten verständlich machen konnte. Gelegentlich hielten Neuankömmlinge den Mauren, weil er stumm war, auch für dumm, und während Hunter jetzt das Kartenspiel beobachtete, beschlich ihn der Verdacht, dass die beiden Mitspieler denselben Fehler begingen. Er nahm einen Krug Wein mit an einen Nebentisch und lehnte sich zurück, um das Schauspiel genüsslich zu verfolgen.

Die Holländer waren Dandys, elegant gekleidet in Hosen aus feinem Zwirn und bestickten Seidenröcken. Sie tranken stark. Der Maure trank gar nicht. Tatsächlich trank er nie. Wie man sich erzählte, konnte er keinen Alkohol vertragen und hatte einmal, als er betrunken war, fünf Männer mit bloßen Händen getötet, ehe er zur Besinnung kam. Ob an dieser Geschichte etwas dran war oder nicht, wahr war jedenfalls, dass der Maure den Plantagenbesitzer umgebracht hatte, der ihm die Zunge abgeschnitten hatte, um anschließend auch noch dessen Frau und den halben Haushalt zu ermorden, ehe er zu den Piratenhäfen auf der Westseite von Hispañola floh und von dort weiter nach Port Royal.

Hunter sah, wie die Holländer setzten. Sie spielten leichtsinnig, scherzten und lachten gut gelaunt. Der Maure saß teilnahmslos da, vor sich einen Stapel Goldmünzen. Gleek war ein schnelles Spiel, das leichtfertiges Setzen bestrafte, und tatsächlich, vor Hunters Augen zog der Maure drei gleiche Karten, zeigte sie und grapschte sich das Geld der Holländer.

Einen Augenblick lang glotzten sie sprachlos, und dann riefen beide »Betrug!« in mehreren Sprachen. Der Maure schüttelte seelenruhig den mächtigen Kopf und steckte das Geld ein.

Die Holländer verlangten eine weitere Runde, doch der Maure wies sie mit einer Gebärde darauf hin, dass sie zum Setzen kein Geld mehr hatten.

Prompt wurden die Holländer streitsüchtig, zeterten und zeigten mit den Fingern auf den Mauren. Bassa blieb ungerührt, doch als ein Junge von der Bedienung herüberkam, gab er ihm eine Golddublone.

Die Holländer verstanden offenbar nicht, dass der Maure im Voraus für die Schäden bezahlte, die er in dem Glücksspielhaus wohl gleich anrichten würde. Der Junge nahm die Münze und suchte rasch das Weite.

Die Holländer waren aufgesprungen und beschimpften den Mauren, der am Tisch sitzen blieb. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen huschten von einem Mann zum anderen. Die Holländer, die immer wütender wurden, hielten die Hände hin und forderten ihr Geld zurück.

Der Maure schüttelte den Kopf.

Dann zog einer der holländischen Seeleute einen Dolch aus seinem Gürtel und fuchtelte dem Mauren damit dicht vor der Nase herum. Der Maure rührte sich noch immer nicht. Er saß ganz still da, die Hände auf dem Tisch gefaltet.

Der andere Holländer griff nach einer Pistole in seinem Gürtel, und im selben Augenblick sprang der Maure auf. Seine große schwarze Hand schnellte vor, entriss dem Holländer den Dolch und rammte die Klinge tief in die Tischplatte. Dann versetzte er dem zweiten Holländer einen Hieb in den Bauch. Der Mann ließ die Pistole fallen und beugte sich hustend vornüber. Der Maure trat ihm ins Gesicht, sodass der Mann quer durch den Raum flog. Dann drehte er sich wieder zu dem ersten Holländer um, der die Augen vor Entsetzen aufgerissen hatte. Der Maure packte ihn, hob ihn mühelos über den Kopf, ging zur Tür und schleuderte den Mann im hohen Bogen auf die Straße, wo er mit dem Gesicht im Matsch landete.

Der Maure kehrte zurück in den Raum, riss das Messer aus dem Tisch, schob es in seinen Gürtel und setzte sich neben Hunter. Erst dann erlaubte er sich ein Lächeln.

»Neulinge«, sagte Hunter.

Der Maure nickte grinsend. Dann legte er die Stirn in Falten und deutete auf Hunter. Seine Miene war fragend.

»Ich bin deinetwegen hier.«

Der Maure zuckte die Achseln.

»Wir segeln in zwei Tagen.«

Der Maure spitzte die Lippen, formte lautlos ein einziges Wort: wohin?

»Matanceros«, sagte Hunter. Der Maure blickte angewidert.

»Du bist nicht interessiert?«

Der Maure feixte und zog einen Zeigefinger quer über seine Kehle.

»Glaub mir, es ist zu schaffen«, sagte Hunter. »Hast du Höhenangst?«

Der Maure machte eine Klettergebärde und schüttelte den Kopf.

»Ich meine nicht die Takelage«, sagte Hunter. »Ich meine eine Felswand. Eine hohe Felswand – drei-oder vierhundert Fuß hoch.«

Der Maure kratzte sich die Stirn. Er blickte an die Decke, stellte sich offenbar die Höhe der Felswand vor. Schließlich nickte er.

»Kannst du das?«

Er nickte wieder.

»Auch bei starkem Wind? Gut. Dann bist du dabei.«

Hunter wollte aufstehen, doch der Maure drückte ihn wieder auf den Stuhl. Der Maure klimperte mit den Münzen in seiner Tasche und zeigte mit einem fragenden Finger auf Hunter.

»Keine Sorge«, sagte Hunter. »Es lohnt sich.«

Der Maure lächelte. Hunter ging.


Sanson fand er in einem Zimmer im ersten Stock vom Queens Arms. Hunter klopfte an die Tür und wartete. Er hörte ein Kichern und einen Seufzer, dann klopfte er erneut.

Eine verblüffend helle Stimme rief: »Verflixt und zugenäht, verschwinde.«

Hunter zögerte und klopfte noch einmal.

»Verdammt, wer ist denn da?«, rief die Stimme von drinnen.

»Hunter.«

»Ich fass es nicht. Herein mit Euch, Hunter.«

Hunter öffnete die Tür und ließ sie weit aufschwingen, trat aber nicht ein. Einen Augenblick später kam der Nachttopf samt Inhalt durch die offene Tür geflogen.

Hunter hörte ein leises Lachen aus dem Zimmer. »Auf der Hut wie eh und je, Hunter. Ihr werdet uns alle überleben. Tretet ein.«

Hunter betrat den Raum. Im Licht einer einzelnen Kerze sah er Sanson neben einer blonden Frau aufrecht im Bett sitzen. »Ihr habt uns gestört, mein Sohn«, sagte Sanson. »Beten wir, dass Ihr einen guten Grund habt.«

»Den habe ich«, erwiderte Hunter.

Ein Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen, während die beiden Männer einander ansahen. Sanson kratzte sich den dichten schwarzen Bart. »Soll ich den Grund für Euer Erscheinen erraten?«

»Nein«, sagte Hunter und warf einen Blick auf die Frau.

»Ah«, sagte Sanson. Er wandte sich der Frau zu. »Mein köstlicher Pfirsich …« Er küsste ihre Fingerspitzen und deutete mit der Hand durchs Zimmer.

Die Frau krabbelte unverzüglich nackt aus dem Bett, schnappte sich hastig ihre Sachen und verschwand zur Tür hinaus.

»Was für ein entzückendes Geschöpf«, sagte Sanson.

Hunter schloss die Tür.

»Sie ist Französin, müsst Ihr wissen«, sagte Sanson. »Französinnen geben die besten Liebhaberinnen ab, findet Ihr nicht auch?«

»Auf jeden Fall die besten Huren.«

Sanson lachte. Er war ein großer, massiger Mann, der grüblerisch und finster wirkte – dunkles Haar, dunkle Brauen, die sich über der Nase trafen, dunkler Bart, dunkle Haut. Aber seine Stimme war erstaunlich hoch, besonders wenn er lachte. »Kann ich Euch nicht das Zugeständnis entlocken, dass Französinnen besser sind als Engländerinnen?«

»Nur im Verbreiten von Krankheiten.«

Sanson lachte herzhaft. »Hunter, Ihr habt einen höchst ungewöhnlichen Humor. Trinkt Ihr ein Glas Wein mit mir?«

»Mit Vergnügen.«

Sanson schenkte ihm aus der Flasche ein, die auf dem Nachttisch stand. Hunter nahm das Glas und hob es, um ihm zuzuprosten. »Auf Euer Wohl.«

»Und auf das Eure«, sagte Sanson, und sie tranken. Keiner der beiden ließ den anderen aus den Augen.

Was Hunter betraf, so traute er Sanson schlechterdings nicht über den Weg. Eigentlich wollte er Sanson lieber nicht mitnehmen, doch der Franzose war unerlässlich für den Erfolg des Unternehmens. Denn Sanson war trotz seines Hochmuts, seiner Aufgeblasenheit und Wichtigtuerei der skrupelloseste Killer in der ganzen Karibik. Er stammte sogar aus einer Familie von französischen Henkern.

Ja, selbst sein Name – Sanson, »ohne Laut« – war ein ironischer Verweis auf seine verstohlene Arbeitsweise. Er war allenthalben bekannt und gefürchtet. Sein Vater, Charles Sanson, war angeblich königlicher Henker in Dieppe. Es wurde gemunkelt, dass Sanson selbst kurze Zeit Priester in Liège gewesen war, bis es aufgrund seiner Zudringlichkeiten gegenüber den Nonnen eines nahe gelegenen Klosters ratsam für ihn wurde, das Land zu verlassen.

Doch Port Royal war keine Stadt, wo man der Vergangenheit ihrer Bewohner große Beachtung schenkte. Hier war Sanson bekannt für sein Geschick im Umgang mit dem Säbel, der Pistole und seiner Lieblingswaffe, der Armbrust.

Sanson lachte wieder. »Nun, mein Sohn. Erzählt, was Ihr auf dem Herzen habt.«

»Ich steche in zwei Tagen in See. Nach Matanceros.«

Sanson lachte nicht mehr. »Ich soll mit Euch nach Matanceros kommen?«

»Ja.«

Sanson schenkte Wein nach. »Ich will nicht dahin«, sagte er. »Kein Mensch, der halbwegs bei Trost ist, will nach Matanceros. Warum wollt Ihr nach Matanceros?«

Hunter antwortete nicht.

Sanson blickte finster auf seine Füße am Ende des Bettes. Er wackelte mit den Zehen, runzelte die Stirn. »Ihr wollt wegen der Galeonen dort hin«, sagte er schließlich. »Die Galeonen, die im Sturm von der Flotte abgetrieben wurden, haben es nach Matanceros geschafft. Hab ich recht?«

Hunter zuckte die Achseln.

»Vorsichtig, vorsichtig«, sagte Sanson. »Nun denn, was bietet Ihr für diese wahnsinnige Unternehmung?«

»Ich gebe Euch vier Anteile.«

»Vier Anteile? Ihr seid ein knauseriger Mann, Captain Hunter. Mein Stolz ist verletzt, wenn Ihr denkt, ich bin nur vier Anteile wert –«

»Fünf Anteile«, sagte Hunter mit der Miene eines Mannes, der schweren Herzens nachgibt.

»Fünf? Sagen wir acht, und die Sache ist abgemacht.«

»Sagen wir fünf, und die Sache ist abgemacht.«

»Hunter. Es ist spät, und ich bin kein geduldiger Mensch. Sagen wir sieben?«

»Sechs.«

»Meine Güte, Ihr seid wirklich knauserig.«

»Sechs«, wiederholte Hunter.

»Sieben. Trinkt noch ein Glas Wein.«

Hunter blickte ihn an und befand, dass diese Verhandlung nicht wichtig war. Sanson wäre leichter zu lenken, wenn er das Gefühl hatte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Er wäre schwierig und übellaunig, wenn er glaubte, ungerecht behandelt worden zu sein.

»Also gut, sieben«, sagte Hunter.

»Mein Freund, Ihr seid mit großer Vernunft gesegnet.« Sanson streckte seine Hand aus. »So, jetzt erzählt mir, wie Ihr angreifen wollt.«

Sanson lauschte dem Plan, ohne ein Wort zu sagen, und als Hunter fertig war, schlug er sich klatschend auf den Oberschenkel. »Es stimmt, was man so sagt«, stellte er fest, »über die trägen Spanier, die eleganten Franzosen – und die listigen Engländer.«

»Ich glaube, es wird gelingen«, sagte Hunter.

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel«, sagte Sanson.

Als Hunter den kleinen Raum verließ, brach über den Straßen von Port Royal der Morgen an.


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