KAPITEL 29

Er rannte zum Heck und sah sechs brennende Boote auf seine beiden Schiffe zugleiten. Es waren die Beiboote des Kriegsschiffs, die jetzt alle, dick mit Pech bestrichen und helllicht in Flammen, wie lodernde Fackeln das stille Wasser der Bucht beleuchteten, während sie in der Strömung herantrieben.

Er verfluchte sich, weil er dieses Manöver nicht vorhergesehen hatte. Der Rauch an Deck des Kriegsschiffs war ein deutlicher Hinweis gewesen, doch Hunter hatte ihn nicht verstanden. Aber er vergeudete keine Zeit mit Selbstbeschuldigungen. Schon beeilten sich die Seeleute der El Trinidad, von Bord in die Beiboote zu kommen, die längsseits der Galeone vertäut waren. Das erste Beiboot stieß ab, die Männer legten sich mit aller Kraft in die Riemen und ruderten auf die Feuerboote zu.

Hunter wirbelte auf dem Absatz herum. »Wo sind unsere Wachen?«, wollte er von Enders wissen. »Wie konnte das passieren?«

Enders schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, die Wachen waren vorne auf der sandigen Spitze und dahinter am Strand postiert.«

»Verdammt!«

Entweder die Männer waren auf ihrem Posten eingeschlafen oder aber die Spanier waren in der Dunkelheit ans Ufer geschwommen und hatten die Männer überrumpelt und getötet. Er sah, wie die Männer im ersten Beiboot die Flammen eines brennenden Bootes bekämpften. Sie versuchten, es mit ihren Rudern aufzuhalten und umzukippen. Ein Seemann fing Feuer und sprang schreiend ins Wasser.

Dann sprang Hunter selbst in ein Boot. Während die Männer auf die brennenden Boote zuruderten, spritzten sie sich mit Meerwasser nass. Hunter blickte zur Cassandra hinüber und sah, wie Sanson mit einem voll besetzten Beiboot ablegte, um sich an der Bekämpfung der Gefahr zu beteiligen.

»Kopf runter, Jungs!«, rief Hunter, als sie sich dem Inferno näherten. Schon in einer Entfernung von fünfzig Yards war die Hitze von den Feuerbooten schier unerträglich; die Flammen schlugen hoch in die Luft, lodernde Pechklumpen knisterten und spien in alle Richtungen, zischten im Wasser.

Die nächste Stunde war ein wahr gewordener Albtraum. Eines nach dem anderen wurden die brennenden Boote ans Ufer abgedrängt oder so lange auf Wasser von den Schiffen ferngehalten, bis sie völlig ausgebrannt waren und sanken.

Als Hunter schließlich wieder an Bord seines Schiffes kam, rußgeschwärzt, die Kleidung in Fetzen, fiel er sogleich in einen tiefen Schlaf.


Enders weckte ihn am nächsten Morgen mit der Nachricht, dass Sanson unten im Frachtraum der El Trinidad war. »Er sagt, er hat irgendwas gefunden«, sagte Enders skeptisch.

Hunter zog sich an und stieg die vier Decks hinab in den Frachtraum. Auf dem untersten Deck, wo es stark nach dem Vieh ein Deck darüber roch, stieß er auf Sanson, der übers ganze Gesicht grinste.

»Es war purer Zufall«, sagte Sanson. »Also nicht mein Verdienst. Kommt und seht Euch das an.«

Sanson ging voraus in den noch tiefer liegenden Ballastraum. Die abgestandene Luft in dem engen, niedrigen Gang stank nach Bilgewasser, das mit der sachten Bewegung des Schiffs hin und her schwappte. Hunter sah Steine, die als Ballast dienten. Und dann runzelte er die Stirn – es waren keine Steine, dafür waren sie zu gleichmäßig geformt. Es waren Kanonenkugeln.

Er nahm eine, wog sie in der Hand, fühlte das Gewicht. Sie war aus Eisen, glitschig von Schlamm und Bilgewasser.

»Etwa fünf Pfund«, sagte Sanson. »Wir haben nichts an Bord, womit sich eine Fünf-Pfund-Kugel abfeuern ließe.«

Noch immer grinsend, führte er Hunter nach achtern. Im Licht einer flackernden Laterne sah Hunter ein Gebilde, das nur halb aus dem Wasser ragte. Doch er erkannte gleich, was es war – ein Falkonett, eine kleine Kanone, die auf Schiffen kaum noch verwendet wurde. Falkonette hatten dreißig Jahre zuvor an Beliebtheit verloren und waren entweder durch kleine Drehgeschütze oder sehr große Kanonen ersetzt worden.

Er beugte sich über die Kanone, fuhr mit den Händen unter Wasser daran entlang. »Lässt sie sich feuern?«

»Sie ist aus Bronze«, sagte Sanson. »Der Jude meint, sie ist gebrauchsfähig.«

Hunter betastete das Metall. Da sie aus Bronze bestand, war sie kaum verrostet. Er blickte Sanson an. »Dann werden wir den Spaniern mal ihre eigenen Leckerbissen zu kosten geben«, sagte er.

Das Falkonett, so klein es auch war, bestand immerhin aus sieben Fuß massiver Bronze und wog sechzehnhundert Pfund. Es dauerte fast den ganzen Morgen, das Geschütz an Deck der El Trinidad zu schaffen. Dann musste es über die Bordwand hinunter in ein wartendes Beiboot gelassen werden.

In der heißen Sonne war die Arbeit die reinste Tortur und musste mit größter Behutsamkeit erfolgen. Enders brüllte Befehle und Beschimpfungen, bis er heiser war, doch schließlich setzte das Falkonett sanft wie eine Feder im Beiboot auf. Das Boot sank durch das Gewicht beunruhigend tief. Das Dollbord lag nur noch wenige Zentimeter über dem Wasser. Dennoch ließ es sich sicher ans Ufer ziehen.

Hunter hatte vor, das Falkonett auf dem Hügel aufzustellen, der von der Monkey Bay aus anstieg. Mit seiner Reichweite konnte es das spanische Kriegsschiff von dort unter Beschuss nehmen. Die Geschützstellung selbst war sicher, weil die Spanier mit ihren eigenen Kanonen nicht hoch genug zielen konnten, um das Feuer wirkungsvoll zu erwidern. Hunters Leute könnten sie so lange beschießen, bis sie keine Munition mehr hatten.

Die entscheidende Frage war, wann Hunter den Feuerbefehl erteilen sollte. Er machte sich keine Illusionen, was die Schlagkraft dieser Kanone anging. Eine Fünf-Pfund-Kugel hatte keine verheerende Wirkung. Es würden viele Treffer erforderlich sein, um ernsthaften Schaden anzurichten. Aber wenn er das Feuer in der Nacht eröffnete, lichteten die Spanier vielleicht in ihrer Verwirrung den Anker, um außer Reichweite zu gelangen. Und nachts in flachem Wasser konnte das Kriegsschiff leicht auf Grund laufen oder sogar sinken.

Genau das war seine Hoffnung.

Das Falkonett erreichte im schwankenden Beiboot das Ufer, und dreißig Seeleute zogen es ächzend auf den Strand. Dort wurde es auf Rollen gesetzt und mühselig Fuß für Fuß bis an den Rand des Unterholzes befördert.

Von dort musste die Kanone durch dichten Mangrovenbestand und Palmen hundert Fuß hoch auf den Gipfel des Hügels gezogen werden. Ohne Winden oder Flaschenzüge, um die Last zu erleichtern, war es eine mörderische Strapaze, doch seine Crew machte sich mit Eifer an die Arbeit.

Andere Männer schufteten genauso schwer. Unter Aufsicht des Juden scheuerten sie den Rost von den Eisenkugeln und füllten Pulverbeutel. Der Maure, ein geschickter Schiffszimmermann, baute eine Lafette mit Kerben für die Schildzapfen.

Als der Abend dämmerte, war das Geschütz oberhalb des Kriegsschiffs einsatzbereit. Hunter wartete, bis es fast völlig dunkel geworden war, und gab dann den Feuerbefehl. Die erste Kugel flog zu weit und schlug auf der Seeseite des spanischen Schiffes ins Wasser. Der zweite Schuss traf sein Ziel und ebenso der dritte. Und dann war es fast zu dunkel, um noch irgendetwas sehen zu können.

Eine Stunde lang feuerte das Falkonett eine Kugel nach der anderen auf das Kriegsschiff ab, und auf einmal sahen sie in der Finsternis, wie weiße Segel entrollt wurden.

»Sie nehmen Reißaus!«, rief Enders heiser.

Die Männer am Geschütz jubelten. Weitere Schüsse begleiteten das Kriegsschiff, als seine Segel sich blähten und es langsam vom Ankerplatz wegtrieb. Selbst als es im Dunkeln nicht mehr zu sehen war, ließ Hunter den Dauerbeschuss aufrechterhalten. Das Krachen des Falkonetts riss die ganze Nacht nicht ab.

Als der Tag anbrach, spähten Hunter und seine Leute durch das Dämmerlicht, um die Früchte ihrer Arbeit zu sehen. Das Kriegsschiff lag wieder vor Anker, etwa eine Viertelmeile weiter von der Küste entfernt, als schwarze Silhouette vor der aufgehenden Sonne. Schäden waren nicht zu erkennen. Sie wussten, dass sie es beschädigt hatten, konnten aber nicht abschätzen, wie schwer.

Hunter war enttäuscht. Allein an der Art, wie das Schiff da vor Anker dümpelte, sah er, dass sich die Schäden in Grenzen hielten. Mit sehr viel Glück hatten die Spanier es geschafft, in der Nacht weder mit Korallen zusammenzustoßen noch auf Grund zu laufen.

Eine der Toppsegelspieren war gebrochen und baumelte lose herab. Die Takelage war zum Teil zerfetzt, und am Bug war das Holz gesplittert. Aber das waren Kleinigkeiten: Bosquets Kriegsschiff lag sicher im sonnenbeschienenen Wasser vor der Küste. Hunter empfand eine gewaltige Erschöpfung und eine gewaltige Mutlosigkeit. Er beobachtete das Schiff noch eine Weile länger und bemerkte, wie es sich bewegte.

»Allmächtiger«, sagte er leise.

Auch Enders, der neben ihm stand, hatte es bemerkt. »Ziemlich langer Wellenschlag«, sagte er.

»Der Wind ist günstig«, sagte Hunter.

»Aye. Vielleicht noch ein, zwei Tage.«

Hunter betrachtete die lange, träge Dünung, die das spanische Kriegsschiff vor Anker hin und her wiegte. Er fluchte. »Wo kommt er her?«

»Ich würde schätzen«, sagte Enders, »um diese Jahreszeit kommt er geradewegs aus Süden.«

Sie wussten alle, dass in den Spätsommermonaten mit Hurrikanen zu rechnen war. Und als Vollblutseefahrer konnten sie die Ankunft dieser fürchterlichen Stürme bereits zwei Tage im Voraus vorhersagen. Die ersten Warnzeichen waren bereits an der Meeresoberfläche zu erkennen, denn die Wellen, die von hundert Meilen pro Stunde schnellen Sturmböen vorwärtsgedrückt wurden, veränderten sich schon in weiter Ferne.

Hunter blickte zum nach wie vor wolkenlosen Himmel hinauf. »Was schätzt Ihr, wie lange noch?«

Enders schüttelte den Kopf. »Spätestens morgen Abend.«

»Verdammt!«, sagte Hunter. Er warf einen Blick nach hinten zur Galeone in der Monkey Bay. Sie trieb friedlich vor Anker. Die Flut war gekommen, und sie war ungewöhnlich hoch. »Verdammt!«, sagte er wieder und kehrte zur El Trinidad zurück.

Er war schlechter Stimmung und tigerte in der heißen Mittagssonne an Deck seines Schiffes auf und ab wie ein Mann in einer Kerkerzelle. Ihm stand nicht der Sinn nach höflichem Geplauder, und Lady Sarah Almont hatte das Pech, ihn ausgerechnet in diesem Augenblick anzusprechen. Sie bat darum, von einem Beiboot mit Besatzung an Land gebracht zu werden.

»Zu welchem Zweck?«, fragte er unwirsch. Er wunderte sich insgeheim, dass sie nicht von ihm wissen wollte, warum er sie in der Nacht zuvor nicht in ihrer Kajüte aufgesucht hatte.

»Zu welchem Zweck? Nun, um Früchte und Gemüse für mich zu sammeln. Ihr habt nichts dergleichen an Bord.«

»Eure Bitte ist gänzlich unerfüllbar«, sagte er und wandte sich von ihr ab.

»Captain«, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf, »damit Ihr es wisst, die Sache ist für mich von großer Wichtigkeit. Ich bin Vegetarierin und esse kein Fleisch.«

Er drehte sich ihr wieder zu. »Madam«, sagte er, »ich schere mich keinen Deut um Eure Absonderlichkeiten und ich habe weder die Zeit noch die Geduld, auf sie Rücksicht zu nehmen.«

»Absonderlichkeiten?«, sagte sie und lief rot an. »Damit Ihr es wisst, die größten Denker der Geschichte waren Vegetarier, von Ptolemäus bis zu Leonardo da Vinci, und Ihr sollt noch etwas wissen, Sir, dass Ihr nämlich ein gewöhnlicher Hohlkopf seid und ein Grobian.«

Hunters Wutausbruch stand ihrem in nichts nach. »Madam«, sagte er und deutete aufs Meer, »ist Euch in Eurer gewaltigen Ahnungslosigkeit eigentlich klar, dass die See sich verändert hat?«

Sie schwieg verdutzt, unfähig, den leichten Wellenschlag mit Hunters offensichtlicher Beunruhigung darüber in Verbindung zu bringen. »Für ein so großes Schiff wie das Eure scheint mir das belanglos.«

»Ist es auch. Vorläufig.«

»Und der Himmel ist klar.«

»Vorläufig.«

»Ich bin kein Seemann, Captain«, sagte sie.

»Madam«, sagte Hunter, »die Dünungen sind lang gezogen und tief. Das kann nur eines bedeuten. In weniger als zwei Tagen stecken wir mitten in einem Hurrikan. Könnt Ihr mir folgen?«

»Ein Hurrikan ist ein heftiger Sturm«, sagte sie, als würde sie etwas auswendig Gelerntes aufsagen.

»Ein sehr heftiger Sturm«, sagte er. »Sollten wir noch in dieser verdammten Bucht feststecken, wenn der Hurrikan kommt, dann werden wir zerschmettert. Könnt Ihr mir folgen?«

Er starrte sie bitterböse an und sah die Wahrheit – dass sie ihn nicht verstand. Ihr Gesicht war arglos. Sie hatte noch nie einen Hurrikan erlebt und konnte sich daher nur vorstellen, dass er irgendwie stärker war als andere Meeresstürme.

Hunter wusste, dass ein Hurrikan mit einem heftigen Sturm ebenso vergleichbar war wie ein Wolf mit einem Schoßhund.

Ehe sie auf seinen Ausbruch etwas erwidern konnte, drehte er sich um und stützte sich auf die Reling. Er wusste, dass er zu hart war. Seine Sorgen waren weiß Gott nicht die ihren, und er hatte allen Grund, nachsichtig zu ihr zu sein. Sie war die ganze Nacht aufgeblieben, um die Seeleute zu verarzten, die Brandwunden davongetragen hatten, ein äußerst ungewöhnliches Verhalten für eine hochwohlgeborene Frau. Er wandte sich ihr wieder zu.

»Verzeiht mir«, sagte er ruhiger. »Wendet Euch an Enders, er wird Euch an Land bringen lassen, damit Ihr die noble Tradition von Ptolemäus und da Vinci fortsetzen könnt.«

Er stockte.

»Captain?«

Er starrte ins Leere.

»Captain, seid Ihr wohlauf?«

Jählings ließ er sie stehen. »Don Diego!«, rief er. »Holt mir Don Diego!«


Als Don Diego Hunters Kajüte betrat, sah er den Captain wie wild auf Zetteln kritzeln. Sein Schreibtisch war übersät mit Skizzen.

»Ich weiß nicht, ob das gelingt«, sagte Hunter. »Ich habe nur davon gehört. Der Florentiner, da Vinci, hat den Vorschlag gemacht, aber es hat niemand auf ihn gehört.«

»Soldaten lassen sich nicht von Künstlern raten«, sagte Don Diego.

Hunter bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Was vielleicht nicht immer klug ist«, sagte er.

Don Diego sah sich die Skizzen an. Jede zeigte einen Schiffsrumpf von oben betrachtet, mit Linien, die auf beiden Seiten abstrahlten. Hunter zeichnete wieder eine.

»Die Idee ist ganz einfach«, sagte er. »Auf einem gewöhnlichen Schiff gibt es für jede Kanone einen Geschützführer, der für das Abfeuern dieser einzelnen Kanone verantwortlich ist.«

»Ja …«

»Nachdem die Kanone geladen und ausgefahren ist, geht der Geschützführer hinter dem Rohr in die Hocke und nimmt das Ziel ins Visier. Er lässt seine Männer die Kanone mit Handspaken und Seitentauen nach seinen Anweisungen ausrichten. Dann befiehlt er, den Keil zu verschieben, um die Höhe einzustellen – wieder nach seinem Augenmaß. Dann feuert er. Dieser Ablauf ist bei jeder Kanone gleich.«

»Ja …«, sagte der Jude. Don Diego hatte zwar noch nie gesehen, wie eine große Kanone abgefeuert wurde, wusste aber im Großen und Ganzen, wie sie bedient wurde. Jede Kanone wurde einzeln ausgerichtet, und ein guter Geschützführer, ein Mann, der den richtigen Winkel und die richtige Höhe seiner Kanone genau bestimmen konnte, war hoch angesehen. Und eine Seltenheit.

»Also«, sagte Hunter, »die gewöhnliche Taktik ist Parallelbeschuss.« Er zeichnete parallele Linien, die von den Seiten des Schiffs ausgingen, aufs Papier. »Jede Kanone feuert, und jeder Geschützführer betet, dass seine Kugel trifft. Doch in Wahrheit verfehlen viele Kugeln ihr Ziel, bis die beiden Schiffe einander so nah sind, dass fast jeder Winkel oder jede Höheneinstellung zu einem Treffer führt. Sagen wir, wenn die Schiffe höchstens fünfhundert Yards auseinander sind. Richtig?«

Don Diego nickte langsam.

»Nun hat dieser Florentiner folgenden Vorschlag gemacht«, sagte Hunter und zeichnete ein neues Schiff. »Er sagte, lasst die Kanonen nicht vor jeder Salve von den Geschützführern einzeln ausrichten. Richtet stattdessen alle Kanonen im Voraus aus. Und damit erreicht Ihr das hier.«

Er zeichnete vom Rumpf aus Schusslinien, die sich an einem einzigen Punkt im Wasser trafen.

»Seht Ihr? Die Schüsse werden an einer Stelle gebündelt. Alle Kugeln treffen das Ziel am selben Punkt und verursachen eine gewaltige Zerstörung.«

»Ja«, sagte Don Diego, »oder alle Kugeln verfehlen das Ziel und plumpsen am selben Punkt ins Meer. Oder alle Kugeln treffen den Bugspriet oder irgendeinen anderen unwichtigen Teil des Schiffs. Ich muss gestehen, mir leuchtet nicht ein, welchen Nutzen Euer Plan haben soll.«

»Der Nutzen«, sagte Hunter und tippte auf die Skizze, »liegt in der Art und Weise, wie diese Kanonen abgefeuert werden. Überlegt doch mal: Wenn sie vorher ausgerichtet werden, brauche ich zum Abfeuern einer Salve nur einen Mann für jede Kanone – vielleicht sogar nur einen Mann für zwei Kanonen. Und wenn mein Ziel in Reichweite ist, weiß ich, dass ich mit jeder Kanone einen Treffer erziele.«

Der Jude, der wusste, dass Hunters Mannschaft zu klein war, klatschte in die Hände. »Natürlich«, sagte er. Dann runzelte er die Stirn. »Aber was passiert nach der ersten Salve?«

»Die Kanonen schnellen vom Rückstoß zurück. Dann vereine ich alle Männer zu einer einzigen Geschützbesatzung, die von Kanone zu Kanone eilt, sie lädt und wieder auf das festgelegte Ziel ausrichtet. Das kann einigermaßen schnell vonstattengehen. Wenn die Männer vorher eingeübt werden, könnte ich binnen zehn Minuten eine zweite Salve abfeuern.«

»Bis dahin hat das andere Schiff seine Position verändert.«

»Ja«, sagte Hunter. »Es wird näher gekommen sein, etwas näher an meinen Zielpunkt. Die Treffer fallen dann zwar verstreuter aus, müssten aber immer noch recht dicht beieinanderliegen. Seht Ihr?«

»Und nach der zweiten Salve?«

Hunter seufzte. »Ich bezweifle, dass wir mehr als zwei Chancen bekommen werden. Wenn ich das Kriegsschiff nicht mit zwei Salven versenkt oder außer Gefecht gesetzt habe, werden wir den Kampf mit Sicherheit verlieren.«

»Tja«, sagte der Jude schließlich, »es ist besser als nichts.« Sein Tonfall klang nicht optimistisch. In einer Seeschlacht fiel die Entscheidung für gewöhnlich erst nach fünfzig Breitseiten oder mehr. Zwei gleich starke Schiffe mit disziplinierten Besatzungen kämpften mitunter gut einen Tag lang, wobei sie über hundert Breitseiten aufeinander abschossen. Zwei Salven wirkten dagegen belanglos.

»Richtig«, sagte Hunter, »es sei denn, wir treffen das Heckkastell oder den Pulverraum.«

Das waren die einzigen wirklich verwundbaren Punkte eines Kriegsschiffs. Im Heckkastell befanden sich sämtliche Schiffsoffiziere, der Steuermann und das Ruder. Würde es schwer getroffen, wäre das Schiff ohne Führung. Ein Treffer im Pulverraum am Bug würde das Kriegsschiff in die Luft jagen.

Keines der Ziele war leicht zu treffen. Eine auf Bug oder Heck ausgerichtete Salve erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kugeln verfehlten.

»Das Problem ist unsere Treffsicherheit«, sagte der Jude. »Ihr wollt die Kanonen mithilfe von Schießübungen ausrichten, hier in der Bucht?«

Hunter nickte.

»Aber wie wollt Ihr draußen auf See zielen?«

»Genau dafür habe ich Euch kommen lassen. Ich brauche ein Instrument zum Anvisieren, um das Schiff auf den Feind auszurichten. Das ist eine Frage der Geometrie, und ich habe alles auf dem Gebiet vergessen.«

Mit seiner fast fingerlosen linken Hand kratzte der Jude sich die Nase. »Lasst mich nachdenken«, sagte er und verließ die Kajüte.


Enders, der unerschütterliche Meereskünstler, verlor, was selten bei ihm vorkam, die Fassung. »Ihr wollt was?«, sagte er.

»Ich will alle zweiunddreißig Kanonen auf der Backbordseite aufstellen«, wiederholte Hunter.

»Die Galeone wird Schlagseite kriegen wie eine trächtige Sau«, sagte Enders. Schon allein der Gedanke schien sein Gefühl für Anstand und gute Seemannskunst zu beleidigen.

»Sie wird ganz sicher plump und ungelenk«, sagte Hunter. »Könnt Ihr sie trotzdem noch segeln?«

»Mehr schlecht als recht«, sagte Enders. »Ich könnte den Sarg des Papstes mit der Serviette von Mylady segeln. Mehr schlecht als recht«, seufzte er. »Natürlich«, fügte er hinzu, »versetzt Ihr die Kanonen erst, wenn wir auf offenem Wasser sind.«

»Nein«, sagte Hunter. »Ich versetze sie hier, in der Bucht.«

Enders seufzte erneut. »Ihr wollt mit Eurer trächtigen Sau durch das Riff?«

»Ja.«

»Das heißt, die Ladung muss an Deck«, sagte Enders, der ins Leere blickte. »Wir schaffen die Kisten nach oben und zurren sie an der Steuerbordreling fest. Das wird eine kleine Hilfe sein, aber dann sind wir kopflastig und noch dazu aus dem Trimm. Sie wird wie ein Korken auf den Wellen hüpfen. Wir nehmen dem Teufel die Arbeit ab, um diese Kanonen abzufeuern.«

»Ich frage Euch nur, ob Ihr die Galeone segeln könnt.«

Langes Schweigen trat ein. »Ich kann sie segeln«, sagte Enders schließlich. »Ich kann sie so anständig segeln, wie Ihr das wünscht. Aber ich rate Euch, sie wieder in Trimm zu bringen, bevor der Sturm kommt. Bei schlechtem Wetter wird sie keine zehn Minuten durchhalten.«

»Das weiß ich«, sagte Hunter.

Die beiden Männer sahen einander an. Plötzlich hörten sie ein hallendes Rumpeln über ihren Köpfen. Die erste Steuerbordkanone wurde auf die Backbordseite geschafft.

»Unsere Chancen stehen schlecht«, sagte Enders.

»Besser schlechte Chancen als gar keine«, erwiderte Hunter.

Das Schießen begann am frühen Nachmittag. Ein Stück weißes Segeltuch war in fünfhundert Yards Entfernung an Land aufgespannt worden, und die Kanonen wurden einzeln abgefeuert, bis sie das Ziel trafen. Die Positionen wurden mit einem Messer auf den Planken eingeritzt. Es war ein langer, schwieriger und mühevoller Vorgang, und als es zu dunkel wurde, ersetzten sie das weiße Segeltuch durch ein kleines Feuer. Doch gegen Mitternacht waren alle zweiunddreißig Kanonen exakt ausgerichtet, geladen und ausgefahren. Die Ladung war an Deck geschafft und an der Steuerbordreling festgezurrt worden, was die Neigung nach backbord teilweise ausglich. Enders erklärte sich zufrieden mit der Trimmlage des Schiffs, zog aber dennoch ein unglückliches Gesicht.

Hunter befahl allen Männern, sich für ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, und erklärte, dass sie mit der Flut am Morgen auslaufen würden. Kurz bevor er selbst in den Schlaf sank, fragte er sich, was Bosquet sich wohl für einen Reim auf das bis tief in die Nacht anhaltende Kanonenfeuer in der Bucht gemacht hatte. Würde er sich denken können, was es mit den Schüssen auf sich hatte? Und wenn ja, was würde er tun?

Hunter grübelte nicht weiter über die Frage nach. Die Antwort würde er noch früh genug erfahren, dachte er, und schloss die Augen.


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