Sieben

Bereits in früher Kindheit, kaum dass ich meinen ersten Actionfilm gesehen, meinen ersten Krimi gelesen hatte, war ich zu der Überzeugung gelangt, es sei höchst schuftig, Menschen zu bestehlen, wohingegen es moralisch mehr als vertretbar sei, Banken oder Konzerne um ihr Geld zu bringen. Woher diese seltsamen Moralvorstellungen bei mir rührten, weiß ich nicht. Aber es ist etwas dran. Später traf ich sogar in Büchern wiederholt auf diese Sichtweise. Und auch im Leben. Denn einen Taschendieb möchte das Volk im Prinzip ja am liebsten auf der Stelle umbringen, aber einen geschickten Betrüger, der das Land um eine Milliarde erleichtert, duldet, ja, bewundert es sogar.

Wie auch immer, jedenfalls beschloss ich, das nächste größere Geschäft zu beklauen. Ein solches fand sich zehn Minuten zu Fuß von den Gleisen entfernt.

Zunächst wollte ich nur meine Lebensmittelvorräte aufstocken. Ich schlenderte durch den Supermarkt und lud mir den Wagen voll, mit Konserven, Räucherwurst, Zwieback, Selters und Saft, zwei weiteren Flaschen Kognak, diesmal teurem armenischen. Ich schätzte, die ganze Ware käme auf zwei-, dreitausend Rubel - zu wenig, als dass dem Personal deshalb ernsthafte Unannehmlichkeiten drohten.

Mit einem strahlenden Lächeln in Richtung Kassiererin schob ich den Einkaufswagen an der Kasse vorbei. Eine elektronische Sicherung gab es hier nicht, dazu war der Laden zu klein. Das Geheule blieb mir also erspart.

»Bürger!«, rief mir die Frau von der Kasse verärgert und zugleich irritiert hinterher.

Ich wartete kurz ab, bevor ich mich umdrehte. »Ja?«

Die Kassiererin, eine grell geschminkte junge Frau, bedachte mich mit einem missbilligenden Blick. »Und wie steht’s mit dem Bezahlen?«

In meiner Brust schlug mein Herz Alarm. »Wie bitte?«, gab ich mich dennoch aufgeräumt.

»Wolodja!«, rief die Kassiererin.

Prompt gesellte sich ein Mann vom Sicherheitsdienst zu uns.

»Der will nicht bezahlen!«

Ihren Augen entnahm ich keinerlei Hinweis auf eine Form von Gedächtnisschwund. Im Gegenteil: Ich hätte wetten können, dass die Frau mich in lebhafter Erinnerung behielt und es sich nicht nehmen ließe, heute Abend ihrer ganzen Familie von dem durchtriebenen Dieb zu erzählen.

»Was soll das heißen - ich will nicht?«, nahm ich ihr rasch den Wind aus den Segeln. »Ich wollte meine Einkäufe nur erst zusammenpacken.«

Eine dämlichere Ausrede hätte ich mir nicht einfallen lassen können.

»Und wer hätte die dann eingelesen?«, fragte die Frau, während sie mit dem Lesegerät für den Strichcode wie mit einem futuristischen Blaster fuchtelte. »Wie hätte ich denn den Preis der Waren ausrechnen sollen?«

»Oh, verzeihen Sie mir, ich war einfach so in Gedanken ...« Mit einem schiefen Lächeln legte ich meine Einkäufe aufs Band.

Der Wachmann schaute mich nachdenklich an. Schließlich unterbrach er die Kassiererin, die bereits das erste Produkt ans Lesegerät hielt, in ihrem Tun. »Wart mal, Tanka ... Haben Sie denn überhaupt Geld, junger Mann?«

Geld hatte ich keins. Lässig holte ich meine Kreditkarte heraus. »Sie akzeptieren doch Kreditkarten?«

»Ja.« Die Kassiererin besah sich die Karte. »Aber diese nicht«, meinte sie mit schadenfrohem Grinsen.

»Warum nicht?«

»Die gehört Ihnen nicht.«

Ich besah mir die Karte nicht einmal. »Oh«, stieß ich aus. »Ist es die von Natalja Iwanowa? Das ist meine Frau, wir haben die gleiche Bank ...«

»Fremde Karten nehme ich nicht«, verkündete die Kassiererin erleichtert.

»Da drüben gibt es einen Geldautomaten«, bemerkte der Wachmann hämisch. »Der ist heute Morgen aufgefüllt worden. Nimm dir, so viel du brauchst.«

Unter seinem unnachgiebigen Blick steuerte ich den Automaten an.

Was würde der Wachmann unternehmen, wenn ich einfach türmte? Er würde ja wohl kaum die Verfolgung aufnehmen. Auch die Miliz dürfte er vermutlich nicht holen. Dem Laden hatte ich keinen Schaden zugefügt, und dass ich nicht meine eigene Karte bei mir hatte, war nicht sein Problem.

Ich kehrte dem Wachmann den Rücken zu, schob die Karte in den Geldautomaten (der tatsächlich Natalja Iwanowa als Besitzerin auswies). Die hatten sie also auch manipuliert - womit ich im Grunde natürlich hätte rechnen müssen.

Aber ob sie auch die PIN-Nummer verändert hatten?

Und hatte die Bank die Karte der Toten schon gesperrt?

Langsam tippte ich die Zahlen 7739 ein. Dann bestätigte ich die Nummer.

Auf dem Bildschirm erschienen verschiedene Beträge zur Auswahl, die ich abheben konnte.

Erleichtert klickerte ich fünftausend Rubel an. Das überlegte ich mir jedoch gleich wieder und gab neuntausendsiebenhundert ein, fast alles, was noch auf der Karte drauf war.

Gleichmütig knisterte der Geldautomat mit den Scheinen und spuckte druckfrische Fünfhunderter und leicht zerknitterte Hunderter aus.

Damit kehrte ich zur Kasse zurück, das Geld demonstrativ in der Hand haltend. Der Wachmann trat mit unverhohlener Enttäuschung zur Seite. Schweigend packte die Kassiererin meine Einkäufe ein, ich bezahlte und hatte den Supermarkt schon im nächsten Moment verlassen. Draußen drehte ich mich noch einmal um: Die Kassiererin und der Wachmann sahen mir nach und unterhielten sich über etwas.

So ein Mist!

Noch gestern hatte man mich einfach ignoriert! Wo war meine Fähigkeit, völlig unbemerkt zu bleiben, hin? Ein Sehender im Land der Blinden war ich gewesen. Der Unsichtbare, der sich keine Sorgen darüber machen musste, ob er nackt und barfuß unterwegs war.

Und jetzt das.

Eine zarte Hoffnung räkelte sich unversehens in mir. Ich setzte mich auf eine Bank gegenüber dem Supermarkt und stellte die Einkaufstüten neben mich. Dann holte ich mein Handy heraus.

Freunde oder meine Eltern?

Meine Eltern.

Es läutete. Einmal. Noch einmal. Ein drittes Mal.

»Hallo!«, erklang durch das Handy die fröhliche Stimme meines Vaters. »Wer ist da?«

Ich schluckte einen Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. »Ich bin’s, Kirill«, antwortete ich.

»Ach, hallöchen!«, erwiderte mein Vater. Noch bevor ich frohlockte, schob er allerdings hinterher: »Kirill Andrejewitsch?«

»Nein, Kirill Danilowitsch.«

»Äh ... ja?«

»Ich bin dein Sohn!«, schrie ich ins Handy.

Die Pause dehnte sich einige Sekunden. »Das ist ein dummer Scherz ...«, sagte mein Vater nach einer Weile sehr unsicher.

»Ich bin dein Sohn«, wiederholte ich.

»Wie alt sind Sie?«, fragte mein Vater mit gesenkter Stimme.

»Sechsundzwanzig«, antwortete ich ungeachtet all meiner Irritation.

Täuschte ich mich oder schwang in der Stimme meines Vaters wirklich Erleichterung mit?

»Sie sollten sich diese Scherze verkneifen, junger Mann! Sie sind dumm und in keiner Weise witzig.«

Durch das Handy klang das Tuten, das mir das Ende des Gesprächs signalisierte. Betäubt wählte ich erneut, doch mein Vater hatte sein Handy offensichtlich abgeschaltet.

Und jetzt? Das Rad der Zeit ließ sich nicht zurückdrehen ... Weshalb aber hatte sich mein Vater nach meinem Alter erkundigt?

Nachdem ich kurz darüber gegrübelt hatte, fiel endlich der Groschen. Unwillkürlich kroch ein Grinsen auf mein Gesicht. Oho, Papa! Wer hätte das gedacht! Da könnte ich also noch einen Bruder haben, einen älteren oder jüngeren ...

Wie sollte ich mich allerdings darüber freuen, wenn ich selbst gar nicht mehr existierte?

Die Tür des Supermarkts ging auf, und der Wachmann trat heraus, um eine zu rauchen. Sobald er mich erblickte, schlich sich Misstrauen in seinen Blick.

Nein, auf eine neuerliche Begegnung mit der Miliz konnte ich verzichten. Dieses Mal würden sie mich nicht laufen lassen.

Ich schnappte mir meine Tüten und machte mich auf den Rückweg, zurück zu meinem Turm. Wenn er inzwischen verschwunden wäre oder sich in einen stinknormalen dreckigen Wasserturm verwandelt hätte, hätte mich das auch nicht erstaunt. Doch der Turm stand immer noch an Ort und Stelle, die Tür öffnete sich ohne Weiteres, im Innern war ebenfalls alles unverändert: die Wendeltreppe, die robusten Möbel im ersten Stock. Mineralwasser und Kognak fanden sich nach wie vor auf dem Tisch. Während ich meine Einkäufe auspackte, fiel mir prompt auf, dass ich vergessen hatte, mir wenigstens Plastikgeschirr und Besteck zu besorgen. Nun musste ich die Wurst abnagen. Das hinderte mich freilich nicht daran, mir ein Frühstück aus Wurst und Zwieback zuzubereiten, dazu Mineralwasser und anschließend ein Schlückchen Kognak zu trinken. Danach stellte ich mich ein Weilchen an das Fenster, das in die fremde Welt hinausging.

Schnee. Ein Gebäude aus rotem Ziegelstein. Eine hohe Sonne, auch wenn sich die Wolken schon zusammenzogen, fast, als wollte es wieder anfangen zu schneien.

Natürlich würde ich diese Welt erkunden müssen. Ich musste wenigstens etwas Licht in das Dunkel bringen. Aber als Allererstes brauchte ich warme Kleidung - und bei meinen finanziellen Möglichkeiten sollte ich die besser auf dem Markt kaufen.

Mein morgendlicher Frohsinn löste sich wie Rauch auf.

Das stimmte doch alles hinten und vorne nicht! Wenn es wirklich andere Welten gab, dann mussten sie Monster und schöne Prinzessinnen bevölkern. Erstere galt es zu töten, Letztere zu retten. Hier gab es jedoch nichts außer einer abgelegenen Gasse und verlassenen Gebäuden!

Eine Zeitlang starrte ich mürrisch zum Fenster hinaus. »Bringt nichts, hier rumzusitzen«, ermahnte ich mich selbst. »Alle Antworten sind da draußen zu finden. Dazu noch Monster und Prinzessinnen ...«

Selbstsicherheit hörte ich aus meiner Stimme nicht heraus. Trotzdem fasste ich mir ein Herz und verließ das Haus - in Richtung Moskau.

Am Ende konnte ich dann doch auf den Besuch des Marktes verzichten. Ich erinnerte mich an ein Geschäft in der Nähe der Metrostation ›Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft‹, das konfiszierte Imitate von Markenartikeln, nicht verkaufte Reste aus Modekollektionen und andere Waren zu verdächtig niedrigen Preisen vertrieb. Dort erstand ich eine warme Jacke, die arbeitseifrige Chinesen genäht hatten, eine Strickmütze unbekannter Herkunft (das Etikett »Design of Italia« überzeugte mich in keiner Weise, sondern schürte ganz im Gegenteil meine Zweifel) und Winterstiefel, die sich durch einen unwiderlegbaren Vorteil hervortaten: Sie waren trocken.

Möglicherweise fand manch einer sogar Gefallen an ihrer bemerkenswerten hellgrünen Farbe.

Meine Errungenschaften in einer großen Tüte verpackt, für die diese geschäftstüchtigen Vertreiber dubioser Produkte sich erdreisteten, mir fünf Rubel abzuknöpfen, verließ ich den Laden. Draußen klingelte prompt mein Handy.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Kirill?«, klang es durchs Handy.

Mir wurde warm ums Herz. »Ja! Kotja! Hallo!«

»Ähäm ...« Kotja hatte zweifelsohne nicht damit gerechnet, erkannt zu werden. »Wie heißt du mit Nachnamen?«

»Maximow.«

»Hm. Stimmt. Sag mal, vor zwei Tagen haben wir beide da ...«

»... Kognak getrunken«, ergänzte ich müde. »Alles klar. Du erinnerst dich an rein gar nichts, bist aber wieder auf deine Notiz gestoßen? Was macht der alte Filou, der Erzieher im Fache der Leibesertüchtigung? Hat er der Achtklässlerin beigebracht, im Spagat zu sitzen? Guck mal aufs Fensterbrett, da stehen zwei leere Flaschen. Ein Ararat ...«

»Dann stimmt das also alles?«, fragte Kotja mit brechender Stimme.

»Was hast du denn gedacht?«

»Dass Hacker am Werk sind ... sich Zugang zu meinem Computer verschafft und das geschrieben haben ...«

O ja, man musste schon Kotja sein, um an solche Hacker zu glauben.

»Verlange bitte keine Beweise von mir«, sagte ich müde. »Gestern sind wir zu deinem Bekannten gegangen, dem Schriftsteller. Danach hast du mich vergessen. Innerhalb von zehn Sekunden.«

»Und wo bist du jetzt?«, erkundigte sich Kotja nach kurzem Schweigen.

Ich zögerte. »Weshalb willst du das wissen?«

»Also ... mir ist mulmig. Das alles ist so seltsam ... Kannst du nicht herkommen?«

»Und womit soll das enden?«, fragte ich leicht amüsiert. »Ich komme. Ich werde dir des Langen und Breiten darlegen, dass wir uns kennen. Wir leeren zwei Flaschen. Gegen Morgen wirst du wieder nüchtern und glaubst mir kein Wort mehr. Weißt du was? Komm du besser hierher.«

»Wohin denn?«

»Zum Bahnhof Moskau-3. Das ist noch in der Stadt, nicht weit von der Metrostation Alexejewskaja ...«

»Das finde ich. Ich guck’s mir vorher auf der Karte an.« Kotja hatte anscheinend eine Entscheidung getroffen. In einer Stunde ... nein, in anderthalb bin ich da. Äh ... brauchst du was?«

»Nein, vielen Dank. Ich warte am Bahnhof neben dem Laden, der rund um die Uhr auf hat, auf dich. Wenn uns noch was fehlt, kaufen wir es gleich da. Allerdings«, konnte ich mir nicht verkneifen, »artet es bereits in Quartalssäuferei aus, wenn wir uns den dritten Tag hintereinander betrinken.«

»Und wie erkenne ich dich?«, wollte Kotja hilflos wissen.

»Ich werde dich erkennen.«

Nachdem ich das Telefon wieder weggesteckt hatte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Kotja und ich gut beraten gewesen wären, uns gemeinsam zu fotografieren. Gleich am ersten Abend, als alles anfing. Dann läge jetzt ein Beweis für unsere Freundschaft vor...

Bekanntlich bringt es jedoch nicht viel, den Kopf hängen zu lassen, wenn dir klar geworden ist, dass du einen Fehler gemacht hast. Viel sinnvoller ist es, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Deshalb kaufte ich in dem kleinen Laden für Fotobedarf in der Nähe der Metro einen Einwegfotoapparat, wie man ihn mit an den Strand nimmt. Aufgrund des nahenden Winters kostete er mich nur zweihundert Rubel. Für einen besseren Apparat wäre mir mein Geld auch zu schade gewesen - schließlich durfte ich keine Einkünfte erwarten.

Außerdem erstand ich noch ein Schweizer Taschenmesser. Dass seine Klinge kurz und nicht feststehend war, gefiel mir dabei am besten.

Obwohl ich nicht mit einem Hinterhalt rechnete, drückte ich mich vorsichtshalber in einiger Entfernung von dem Geschäft herum, auf halbem Wege zu meinem Turm. Ich kaufte mir eine Flasche Bier, die ich in aller Gemütlichkeit trank, dabei den Weg auf und ab schlendernd. Ein Mann, der auf seinen Zug wartet, und dabei ein Bierchen trinkt - was könnte es Unauffälligeres geben?

Kotja versetzte mich nicht und traf pünktlich ein. Er entstieg einem Taxi, rückte voller Tatendrang die Brille zurecht und sah sich aufmerksam um. Einige Minuten observierte ich die Umgebung, vermochte jedoch kein Kommando zu meiner Festnahme zu entdecken. Aber wer brauchte mich auch schon?

»Kotja!«, rief ich meinem einstigen Freund zu, während ich mich ihm näherte.

Kotja wirbelte herum und sah mich mit einem dermaßen quälenden Verlangen, mich wiederzuerkennen, an, dass ich befangen wurde.

»Ich bin’s«, beteuerte ich und warf die leere Flasche in einen Mülleimer. »Kirill Maximow. Dein alter ... äh ... Bekannter.«

»Ich habe dich nicht erkannt«, sagte Kotja bekümmert. Er holte einige zerknitterte Seiten eines Computerausdrucks aus seiner Tasche. Aufmerksam flog er mit den Augen über die Zeilen hinweg. Schließlich seufzte er und reichte mir die Blätter. »Stimmt alles. Wir sind per du?«

Kotja hatte es also nicht bei einem einzigen Gedächtnisprotokoll bewenden lassen. Bevor wir uns gestern anschickten, Melnikow aufzusuchen, hatte er noch ein paar Zeilen verfasst.

Gleich besuchen wir Melnikow. Er ist Fantasy- und SF-Schriftsteller. Vielleicht kann er uns einen Rat geben? Für den Fall, dass ich wieder alles vergessen sollte: Mein bedauernswerter Freund heißt Kirill Maximow. Er ist sechsundzwanzig Jahre. Er arbeitet als Manager in einer Computerfirma. Etwas größer als der Durchschnitt, normale Figur, allerdings mit kleinem Bäuchlein ...

»Was? Was für ein Bäuchlein?«, empörte ich mich. »Ich wiege kein Gramm zu viel.«

»Das ist ganz normal, schließlich übst du eine sitzende Tätigkeit aus«, parierte Kotja.

... Bäuchlein, ovales Gesicht, volle Wangen ...

»Wenn man dich so hört, könnte man meinen, ich sei der reinste Fettsack ...«, grummelte ich. »Achtzig Kilo bringe ich auf die Waage. Bei meiner Größe ist das absolut normal.«

... Wangen, braune Augen, dunkelbraunes Haar, gerade Nase, Ohren mit deutlich ausgebildeten Läppchen.

»Hast du vielleicht auch schon mal für die Miliz gearbeitet, Kotja?«, fragte ich. »Denen irgendwelche Personenbeschreibungen abgeliefert?«

Kotja grinste bloß.

Insgesamt ein freundliches und attraktives Gesicht. Er spricht schnell, die Stimme klingt leicht gedämpft, im Gespräch neigt er zu Kalauern und Spitzen gegenüber seinem Gesprächspartner. Wenn ich ohne ihn nach Hause komme und vergessen haben sollte, wer Maximow ist, dann werde ich diese Aufzeichnungen lesen und mich an alles erinnern. Etwas Merkwürdiges geht mit Kirill vor sich, und mir gefällt überhaupt nicht, dass ich in diese Geschichte verwickelt bin.

Danach folgte eine leere halbe Seite, schließlich noch einige Zeilen aus der Erzählung, in die Kotja diese Notiz für sich eingefügt hatte:

»So läuft der Hase!«, beendete Semjon Makarowitsch voller Heiterkeit den Einzelunterricht und wischte sich den Schweiß von Stirn. »Das nennt sich tantrisches Yoga und wurde vor Jahrtausenden von den Hetären im alten Griechenland ersonnen.«

»Vielen Dank!«, rief Julja und errötete.

Ich schaute Kotja an und zeigte ihm einen Vogel. »Was für Hetären?«

»Die im alten Griechenland!« Kotja schnappte sich die Blätter. »Dergleichen verlangt meine Arbeit halt ...«

»Mir ist bekannt, was deine Arbeit verlangt.«

»Was ist gestern bei Melnikow passiert?«, fragte Kotja.

»Hast du ihn deswegen etwa nicht schon angerufen?«, wollte ich wissen. »Woran erinnerst du dich denn selbst noch?«

»Doch, ich habe ihn angerufen«, antwortete Kotja würdevoll. »Er glaubt, ich sei allein bei ihm gewesen und wir hätten uns über Literatur unterhalten. Das deckt sich mit meiner Erinnerung. Und das war’s dann auch.«

»Und wie ich dich aufgehalten habe, als du aus dem Haus gehen wolltest?«

Kotja schüttelte den Kopf.

»Setzen wir uns, das wird ein langes Gespräch.«

Wir bewaffneten uns jeder mit einer Flasche Bier (Kotja zeigte sich entzückt, da ich daran gedacht hatte, ihm sein geliebtes Obolon zu besorgen, während ich mir ein normales Tuborg gekauft hatte), und ich fing mit meinem Bericht an. Ohne etwas auszulassen. Ich erzählte, wie ich das Messer gekauft und Natalja Iwanowa aufgelauert hatte, wie sie sich erdolcht hatte ...

»Bist du sicher, dass nicht du sie erstochen hast?«, konnte Kotja sich nicht verkneifen zu fragen.

»Ja. Ich stand mit dem Messer in der Hand da und wollte ihr das Klebeband aufschneiden ...«

»Man kann sich nicht so in ein Messer fallen lassen, dass man dabei stirbt!«, argwöhnte Kotja.

»Hast du es schon mal ausprobiert?«

Kotja hüllte sich in Schweigen.

Als ich zu der Episode mit der Miliz kam, die mich nach der Verhaftung auf freien Fuß gesetzt hatte, riss Kotja der Geduldsfaden: »Also wirklich, Kirill, so was ist absolut unmöglich!«

»Aber so ist es gewesen.«

»Ja, ja, schon gut ...« Kotja geriet ins Grübeln. »Du hast gesagt, sie haben dich geschlagen, nicht wahr?«

»Ich habe gedacht, die brechen mir ein paar Rippen. Ein paarmal haben die mit einer Wucht zugetreten ...«

»Und dein Nachbar hat dir eins aufs Auge gehauen?«

»Ja.«

»Hast du dich mal im Spiegel angeguckt?«

»Stimmt denn was nicht?«

Kotja griente. »Nein! Und genau das ist es ja. Du hast ein frisches und zufriedenes Gesicht. Als ob du eine Woche Urlaub gemacht hättest. Tun deine Rippen weh?«

Nach kurzem Nachdenken öffnete ich meine Jacke und hob den Pullover hoch.

»Keine Spuren«, konstatierte Kotja. »Du musst schon verzeihen, aber so was gibt es einfach nicht. Wenn dich jemand mit Füßen tritt, hast du am nächsten Morgen mindestens ein paar blaue Flecken.«

Dem ließ sich nur schwerlich etwas entgegensetzen.

»Gut, dann weiter«, ergriff ich wieder das Wort. »Damit sind die Wunder nämlich noch nicht zu Ende.«

»Nachdem dich die Bullen haben laufen lassen, kann es noch größere Wunder gar nicht geben«, wandte Kotja skeptisch ein.

Zehn Minuten später hatte ich die Geschichte von dem Turm beendet. »Wie steht’s?«, fragte ich hämisch. »Ist das noch erstaunlicher als die Sache mit den Bullen?«

»Wo ist dieser Turm?«, wollte Kotja wissen.

»Da drüben«, antwortete ich.

Kotja nahm die Brille ab, um sie zu putzen. »Das ist ein alter Wasserturm«, erklärte er dann.

»Ja, sicher. Äußerlich.«

»Kannst du mich da mit hinnehmen?«

»Klar.«

»Dann lass uns gehen.« Unternehmungslustig erhob er sich. »Obwohl ich hundertprozentig davon überzeugt bin, dass wir die Tür nicht aufkriegen und es im Innern des Turms nichts Seltsames zu entdecken gibt.«

Wenn ich ehrlich sein sollte, befürchtete ich genau das. Woher wollte ich wissen, ob ich jemanden mitbringen durfte? Vielleicht stand ja nur mir der Zugang zu anderen Welten offen? Im Grunde wäre das sogar logisch.

Doch die Tür des Turms ließ sich öffnen. Und innen drinnen war alles genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: Die Wendeltreppe zog sich hoch zum ersten Stock, auch die fünf Türen fehlten nicht.

»Mein lieber Schieber«, stieß Kotja aus, während er sich umschaute. »Siehst du das Gleiche wie ich? Alles ist ordentlich renoviert, eine Wendeltreppe führt nach oben ...«

»Stimmt.«

»Zeig mir diese Tür!«, verlangte Kotja. »Die nach Kylgym!«

»Kimgim«, verbesserte ich.

Ich trat an die Tür, und noch bevor ich sie öffnete, wusste ich, dass alles in Ordnung war: Die Metallklinke war eiskalt.

Es schneite. Eine dichte Wolkendecke hatte sich am Himmel zusammengezogen, auf unsere Köpfe segelten zarte weiße Flocken nieder. In den Fenstern der Fabriken (wie kam ich eigentlich darauf, dass es sich um Fabriken handelte?) brannte kein Licht, Geräusche drangen ebenfalls keine zu uns herüber. Die Spuren der Postkutsche waren längst unter dem Schnee begraben.

»Also, von da ist der Postbote gekommen«, sagte ich. »In einem Tilbury.«

»Interessant«, bemerkte Kotja und linste zu mir herüber. »In einem Tilbury, sagst du?«

Ich zuckte mit den Achseln. Ich riss die Zellophanhülle von dem Fotoapparat und machte einige Bilder. Ein winziges Lämpchen blitzte mehrmals hintereinander in dem Versuch auf, die Umgebung zu beleuchten. Immerhin war ein 400er-Film eingelegt, die Aufnahmen müssten also eigentlich gelingen.

»Alles deutet darauf hin, dass wir es mit einer Parallelwelt zu tun haben«, sagte Kotja. »Meinst du nicht auch? Eine, die nicht so weit entwickelt ist wie unsere. Oder nicht?«

»Hm ... scheint so.«

»Gehen wir wieder rein.« Schlagartig wurde Kotja ernst.

»Glaubst du mir jetzt?«, fragte ich, während ich den Riegel vorlegte.

»Ja, tu ich ...« Kotja rüttelte an den anderen Türen. »Durch die Bank verschlossen ... Mist verfluchter! Was hat das alles zu bedeuten?«

Er tigerte durchs Zimmer, presste das Ohr an die Türen und klopfte gegen sie. Fehlte bloß noch, dass er sie beschnuppert hätte. Danach untersuchte er sogar den Holzfußboden.

»Der ist über Nacht entstanden«, erklärte ich dermaßen stolz, als hätte ich höchstpersönlich in einer einzigen Nacht dreißig Quadratmeter mit massiven Dielen ausgelegt.

»Das ist Lärche«, teilte Kotja mir mit. »Es riecht nicht nach Lack. Und lackieren kann man es erst, nachdem es verlegt ist!«

»Das gleiche Mysterium wie in meiner Wohnung«, bestätigte ich. »Nirgends lassen sich Hinweise auf die Umbauarbeiten entdecken.«

»Die Realität hat sich geändert ...«, brachte Kotja aufgewühlt hervor. »Und mit der Realität hat sich auch alles andere verändert. Bloß du bist unverändert geblieben!«

»Wollen wir nach oben gehen?«, lud ich ihn gastfreundlich ein. »Da sieht es noch komischer aus.«

»Oder im Gegenteil«, spann Kotja seine Überlegungen weiter, während er mir folgte. »Die Realität ist unverändert geblieben, aber du hast dich verändert. Deshalb sind die normalen Dinge für dich jetzt ganz ungewohnt ...«

»Ist das eine euphemistische Umschreibung von: Ich habe den Verstand verloren?«, fragte ich. »Hast du etwa noch nicht davon gehört, dass jeder aufgegebene Wasserturm nach europäischem Standard modernisiert worden ist?«

Kotja seufzte nur.

Im ersten Stock untersuchte er ebenfalls erst einmal fünf Minuten lang das Interieur. Er starrte zu den Fenstern hinaus und besah sich die Möbel. Obwohl er sich dabei verbrannte, drehte er eine Glühbirne heraus und inspizierte ausführlich die Fassung. Anschließend wandte er sich den beiden mir zugesandten Büchern zu, die er voller Interesse durchblätterte.

Ich störte ihn nicht, sondern schenkte uns unterdessen einfach den gestern gekauften Kognak ein und schnitt Wurst und Käse auf. Ich fasste wieder ein wenig Mut. Mochte mein Freund mich auch vergessen haben - unsere Beziehung hatte sich deswegen nicht verändert. Vermutlich lag das daran, dass ich genau wusste, wie ich ihn nehmen musste, welche Worte ich sagen sollte und wie ich mich ihm gegenüber am besten verhielt.

»Etwas passt hier nicht zusammen ...« Kotja legte das Buch beiseite und sah mich nachdenklich an. Beiläufig griff er nach dem Kognak. »Nur um den Stress loszuwerden ...«, murmelte er.

»Und was passt nicht zusammen?«, fragte ich, während wir den Kognak tranken.

»Nichts passt zusammen. Was haben wir denn eigentlich in der Hand? Du bist ein durchschnittlicher junger Moskauer. Du gehst irgendeiner dämlichen Beschäftigung nach, lebst in einer Wohnung, die dir deine Eltern geschenkt haben, bist unverheiratet und hast keine Kinder. Besondere Talente hast du ebenfalls nicht vorzuweisen. Stimmt’s?«

»Ja«, bestätigte ich.

»In deiner Wohnung nistet sich ein unbekanntes Weib ein, all deine Dokumente lösen sich in Luft auf, deine Freunde und deine Eltern wissen nicht mehr, wer du bist. Du vermutest, hinter der ganzen Geschichte steckt böse Absicht, und nimmst dir die Schurkin, die dir deine Wohnung abspenstig gemacht hast, zum Verhör vor. Die jedoch bringt sich kurzerhand selbst um. Du wirst verhaftet, aber der Gedächtnisschwund der Bullen schreitet fort, und sie lassen dich wieder frei.«

»Das klingt wirklich idiotisch«, räumte ich ein.

»Eben nicht!« Kotjas Hand schoss in die Höhe. »Da irrst du dich gewaltig! Bis jetzt ergibt das alles nämlich noch eine ganz logische Kette! Irgendeine Kraft löscht dich aus unserer Realität aus. Was das für eine Kraft ist - Außerirdische, die Freimaurer oder der Herrgott - spielt vorerst gar keine Rolle. Schauen wir uns jetzt mal an, was weiter passiert. Jemand ruft dich an und lotst dich zu einem aufgegebenen Wasserturm. Im Innern ist der Turm zu einer Wohnung ausgebaut, über Nacht gewinnt das Ambiente sogar noch. Ferner gibt es in diesem Turm fünf Türen, wovon eine - und bislang ist es nur eine - in eine fremde Welt führt! Außerdem macht man dir unmissverständlich klar, dass du hier die Aufgabe des Zöllners zu übernehmen hast. Begreifst du jetzt, was hier nicht zusammenpasst?«

»Nein, das tu ich nicht! Da steckt doch genauso diese unbekannte Kraft dahinter wie bei den anderen Dingen!«

Kotja seufzte. Er goss jedem von uns noch ein Gläschen ein.

»Blödmann. Nimm doch mal einen x-beliebigen - na gut, lassen wir Männer mit Familie beiseite, die haben ihre eigenen Grillen -, also nimm einen x-beliebigen ledigen jungen Mann. Einen Hausmeister, Studenten oder erfolgreichen Mitarbeiter einer großen Firma, das ist einerlei. Nimm ihn und schlag ihm eine neue Arbeit vor: Zöllner an der Grenze zwischen zwei Welten!«

»Klingt doch ganz reizvoll«, gab ich zu.

»Ich würde das Angebot auf der Stelle annehmen!« Kotjas Brille funkelte wild. Natürlich rührte das von einer abrupten Drehung des Kopfes her. Gleichwohl sah es aus, als blitzten seine Augen in hitzigem Eifer. »Jeder würde so was annehmen! Du auch!«

»Hm, weißt du ...« Ich blickte zum Fenster hinaus. In der mysteriösen Stadt Kimgim schneite es nach wie vor. Außerdem dämmerte es dort bereits. Ein ruhiger, geheimnisvoller und sauberer Ort. Im anderen Fenster nieselte es, der Boden war zu einem matschigen Brei aufgeweicht. Schwarzen Rauch ausstoßend, fuhr ein schwerer Laster die Straße entlang. »Stimmt, ich würde es akzeptieren«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.

»Siehst du.« Kotja nickte. »Und jetzt denk doch mal nach: Wozu der ganze Aufwand? Wozu die Sache mit der Wohnung, den Papieren, wozu der Gedächtnisschwund deiner Freunde und dieses verrückte selbstmörderische Weib? Sie hätten doch einfach bei dir vorbeikommen und dir eine neue Arbeit anbieten können und damit basta. Und genau das lässt mir keine Ruhe, Kirill.«

»Du versuchst, die Logik der ...« Ich schluckte das Wort ›Außerirdischen‹ herunter und fuhr stattdessen fort: »... dieser unbekannten Kraft zu verstehen. Aber vielleicht handelt die gar nicht logisch.«

»Es gibt immer eine Logik!«, entgegnete Kotja scharf. »Wenn sie fehlt, heißt das nur, wir verstehen nicht, was vor sich geht. Und das macht mich nervös ... Außerdem ...«

Er langte nach einem der beiden Bücher, schlug es am Anfang auf und fuhr mit dem Finger über die Seite. »Was ist Asant?«

»Ein orientalisches Gewürz«, antwortete ich arglos. »Es ist Bestandteil des Currys. Man nennt es auch Hing oder Asa foetida.«

»Ich glaub dir ja«, beteuerte Kotja. Daraufhin schlug er das Buch etwas weiter hinten auf. »Und was ist ... äh ... Jouy?«

»Ein Stoff. Aus Baumwolle.«

»Und wodurch unterscheidet er sich von normalem Stoff?«

»Also ... das ist ein Stoff ... weiß oder beige, den eine einfarbige Zeichnung ziert. Idyllische Weiden, Schäfchen, kleine Bäume ...«

Ich verstummte.

»Ist der Groschen gefallen?«, fragte Kotja. »Als du den Tilbury erwähnt hast, hat mir sofort was geschwant. Oder hast du vielleicht mal als Koch in einer Stofffabrik gearbeitet?«

Ich schüttelte den Kopf.

Als besonders peinlich empfand ich den Umstand, dass mir diese neuen Kenntnissen überhaupt nicht bewusst waren. Was für Gewürze? Ich kenne nur zwei: Salz und Pfeffer! Und was bitte schön für Stoffe? Es gibt Naturfasern, und es gibt Synthetik. Letztere mied man besser. Vor allem in Form von Socken.

Aber als Kotja mich examiniert hatte, schlüpften mir die Antworten wie von selbst aus dem Mund. Vor meinem inneren Auge tauchten Asant (sogar der scharfe knoblauchartige Geruch war mir präsent) und ein dicker Ballen Toile de Jouy mit einer ländlichen Szene auf.

»Anscheinend offeriert man dir dieses Wissen zusammen mit deiner neuen Tätigkeit«, dachte Kotja laut nach. »Wie solltest du sonst auch deiner Arbeit nachgehen? Huch!«

Obwohl unser beider Nerven zum Zerreißen gespannt waren, erschreckte mich das Klopfen nicht im Geringsten - im Unterschied zu Kotja. Ich stand auf und begab mich nach unten.

»Halt!«, rief Kotja aufspringend. »Guck wenigstens erst durch den Spion!«

»Durch welchen Spion denn?«, verwunderte ich mich.

»Wie nachlässig! Kein Spion!« Kotja geriet in Panik, daran bestand kein Zweifel. »An welcher Tür klopft es? An welcher?«

»An unserer! An der Moskauer!«

»Frag erst, wer da ist!«

Das unterließ ich jedoch. Stattdessen öffnete ich einfach.

Etwas abseits stand, nicht auf der Straße, sondern am matschigen Rand, ein großer dunkelblauer Audi Allroad. Unmittelbar vor der Tür warteten drei Personen. Ein Mann um die fünfzig in einem teuren, wenn auch etwas altmodischen Kaschmirmantel und mit derart sauberen Schuhen, als hätte man ihn direkt vor der Tür abgesetzt. Ein Herr in Amt und Würden, das war auf den ersten Blick klar. Hinter ihm hielt sich eine zwanzigjährige Frau, die einen Nerzmantel trug und auch ansonsten stilvoll gekleidet war, eine attraktive Frau, aber mit einem derart angewiderten Gesichtsausdruck, als zwänge sie jemand, im Dreck zu wühlen. Hinter den beiden ragte ein kräftiger Kerl mit finsterer Miene auf, dem nur noch ein Plakat vor der Brust fehlte: ›Ich bin ein unglaublich entschlossener Bodyguard‹. Allerdings beäugte mich der Leibwächter nicht mit dem üblichen professionellen Misstrauen, sondern mit verängstigtem Trotz. Als hätte ich ihm erst kürzlich ungestraft ein paar Ohrfeigen verabreicht, ihm dann auf die Schulter geklopft und wohlwollend gesagt: »Braver Junge.«

Es ist ein erstaunliches Gefühl, wenn dir klar wird, dass jemand Angst vor dir hat.

»Guten Abend«, ergriff der Mann mit dem hochherrschaftlichen Gebaren das Wort. Prompt verkrampfte ich mich, denn mir fiel die Stimme aus dem Handy ein. Aber nein, das war nicht er gewesen. Sie ähnelten sich nur in der grundsätzlichen Selbstsicherheit. »Wir kommen jetzt herein.«

»Bitte schön.« Ich trat zur Seite.

Der Mann und die Frau betraten den Turm. Der Leibwächter blieb draußen stehen.

»Alles bleibt wie vereinbart, Vitja«, warf ihm der Mann noch zu, bevor er die Tür schloss.

Eine unangenehme Pause trat ein. Die Frau klopfte die Regentropfen von ihrem Pelz. An die hohen Absätze ihrer Stiefel schien sie nicht gewöhnt, denn sie stand recht unsicher auf ihnen da. Der Mann sah sich um. Mir lächelte er zu, für den auf der Treppe erstarrten Kotja hatte er ein Nicken übrig. Aus irgendeinem Grund nahm Kotja geschwind die Brille ab, die er in der Hand gepackt hielt.

»Wollen Sie zu mir?«, fragte ich.

Der Mann zog die Augenbrauen in die Höhe. »Nein. Wir wollen hier nur durchgehen.«

»Nach Kimgim?«, erkundigte sich Kotja mit vor Aufregung heiserer Stimme von der Treppe aus.

»Gibt es denn schon andere Möglichkeiten?«, wollte der Mann wissen.

»Nein«, antwortete ich.

»Dann nach Kimgim.«

»Wir hätten zur Metrostation Semjonowskaja fahren sollen ...«, mischte sich die Frau mit leiser Stimme ein.

»Und unterwegs eine Stunde im Stau stehen? Das hier geht schneller«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Können wir durch? Waren führen wir keine mit.«

Natürlich hätte ich eine Erklärung von ihnen erbitten müssen. Nein, nicht erbitten, einfordern hätte ich sie müssen. Aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht das Gefühl, diesen wie aus dem Ei gepellten Herrn um eine Erklärung zu ersuchen käme der Frage gleich, wie viele Zylinder sein Wagen hätte. Er würde es nicht wissen, denn es reichte ihm vollauf, mit dem Auto zu fahren.

Vielleicht ließ mich jedoch auch der Blick der Frau davon absehen? Der war nämlich ebenso verärgert wie ... flehend. Als ob sie jede Verzögerung tödlich fürchtete - und darüber in Rage geriet. Sowohl mir grollte als auch ihrem Begleiter.

»Gehen Sie durch diese Tür«, meinte ich mit einem Nicken.

Sie marschierten durch den Turm, Schmutzspuren auf dem Fußboden zurücklassend. Die Frau griff einmal mit der Hand nach dem Treppengeländer, als verlöre sie das Gleichgewicht. Der Mann schob selbstsicher den Riegel zurück, ließ der Frau den Vortritt und nickte mir zum Abschied höflich zu.

Ich ging zur Tür, um sie abzuschließen. Dabei bemerkte ich, dass in einiger Entfernung vom Turm eine Kutsche auf das Paar wartete. Eine vierrädrige, mit zurückklappbarem Verdeck.

»Was für eine Dame!«, rief Kotja hinter mir verzückt aus. »Nicht wahr? Oder was meinst du?«

»Ganz passabel«, antwortete ich und schlug die Tür zu.

»Was heißt hier passabel? Die Freundin dieses Stiesels ist einfach klasse!«

»Vielleicht ist es ja seine Tochter?«

»Pah!« Kotja schlug vor Empörung sogar die Hände über dem Kopf zusammen. »Mit dem Hintern? Also, manche Männer haben ein Glück ... Übrigens hätten wir sie ordentlich ausfragen sollen!«

»Ich glaube nicht, dass sie hinter dem Ganzen stecken«, erwiderte ich.

Etwas beschäftigte mich. Wie war das gewesen? Sie hatten den Turm betreten ... die Frau war gestolpert und hatte sich am Geländer festgehalten, kurz den Schritt verlangsamt...

»Aber etwas hätten sie uns bestimmt sagen können! Wer sie sind. Woher sie von dem Turm wissen. Wohin sie wollen ... Und hast du mitbekommen, dass es in Moskau noch mehr solche Türme gibt? Irgendwo an der Semjonowskaja steht noch einer! Hast du was gefunden, Kirill?«

Ich ging hinüber zur Treppe, hockte mich hin und hob ein winziges Stückchen Papier vom Boden auf, das ich sogleich entfaltete.

»Eine Nachricht?« Aufgeregt lugte Kotja mir über die Schulter. »Wo kommt die her?«

»Die Frau hat sie fallen lassen«, erklärte ich. »Als sie an der Treppe vorbeigegangen ist.«

Kotjas Augen huschten über das Papier. »Scheiße«, stieß er nach ein paar Sekunden mit leiser Stimme aus. »Was sollen wir jetzt machen?«

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