Ein Mann und eine Frau, die sich noch kaum kennen, sich aber von einander angezogen fühlen, erleben bei uns früher oder später einen seltsamen Moment: »Ich habe plötzlich ...« Oder er tritt eben nicht ein, aber dann endet die Beziehung, noch ehe sie angefangen hat.
Dieser Moment besteht darin, dass es in der Wohnung der Frau (meistens) oder des Mannes (seltener) an der Tür klingelt. Oder das Telefon läutet. Und derjenige, der da kommt, wird sagen: »Ich habe plötzlich beschlossen, bei dir vorbeizuschauen.« Manchmal fügt er hinzu: »Ich hatte so ein Gefühl, als ob du auf mich warten würdest«, aber das hängt bereits davon ab, ob es in seiner Seele eine romantische Ader gibt. Ausschlaggebend ist das Wörtchen »plötzlich«.
Plötzlich habe ich beschlossen, bei dir vorbeizukommen. Plötzlich habe ich beschlossen, dich anzurufen.
Entschuldige, üblich ist das ja nicht, und ich weiß selber nicht, was wir jetzt machen wollen ... Du musst entschuldigen, aber ich war gerade in der Gegend, und da habe ich plötzlich gedacht ...
Der Zufälligkeit oder gar Absurdität des Auftritts kommt bei diesen Szenen entscheidende Bedeutung zu. Die Liebe ist per se unlogisch, deshalb können die Menschen, die versehentlich als Menschen und nicht als Computer geboren worden sind, ihr so wenig abgewinnen.
Ein Ereignis »Ich habe plötzlich ...« garantiert noch nichts. Vielleicht trinken die beiden nur zusammen Tee und gehen anschließend wieder ihrer Wege. Vielleicht landen sie im Bett, trennen sich danach aber trotzdem.
Unterbleibt dieses »Ich habe plötzlich ...« jedoch, kann von Liebe keine Rede sein. Möglicherweise geht es dann um Freundschaft, Leidenschaft, Anhänglichkeit - es gibt ja eine breite Palette schöner Dinge und Gefühle. Aber um Liebe geht es dann nicht.
Die heldenhafte junge Untergrundkämpferin Nastja Tarassowa wohnte in Preobrashenskoje, sicherlich nicht gerade der beste Bezirk. Dafür aber in einem freundlichen Neubau auf einem überwachten Gelände, in einem Studioapartment im obersten Stockwerk, das ihr vermutlich der gute Geschäftsmann Mischa gekauft hatte. Ich kannte ihre Adresse, weil Nastja meine Zollstelle passiert hatte. Eine weitere Fähigkeit eines Zöllners, die in mir gewachsen war.
Wo Mischa wohnte, wusste ich auch. Auf der Rubljowka, wie es sich für einen so gewichtigen Mann gehörte.
Mit der Wache am Eingang des Geländes gab es keine Probleme. Höflich nannte ich ihm Nastjas Wohnungsnummer und ihren Nachnamen, doch als der Wachmann mich bat, ihm meine Papiere vorzuzeigen, schüttelte ich nur den Kopf. Mich ganz wie Stalins Protegé, der parapsychologisch begabte und gerade ungehindert zur Lubjanka herausspazierende Wolf Messing, oder wie der seine imperialen Mannen betörende Obi-Wan Kenobe fühlend, erklärte ich: »Du brauchst meine Papiere gar nicht.«
»Stimmt«, pflichtete mir der Objektschützer bei und öffnete die innere Tür. »Alles Gute.«
Ein wenig enttäuscht von dem Fehlen schöner visueller Effekte durchquerte ich das gepflegte Grundstück, auf dem entlang der mit Steinen ausgelegten Wege Laternen brannten, während unfrohe Mieter ihre reinrassigen Vierbeiner im Regen über das Hundegelände Gassi führten.
Auch die Videogegensprechanlage am Hauseingang bereitete mir keinerlei Problem. Ohne auf die Zahlen zu sehen, tippte ich den Code ein, worauf die Tür sich öffnete. Im Foyer saß eine gestrenge Concierge in ihrem Glashäuschen wie in einem Aquarium, doch stellte sie mir keine Fragen.
Ein anständiges Haus. Die Eingangshalle strahlte vor Sauberkeit, Blumentöpfe und Bäumchen in Fässern standen hier, es roch nach einer kaum zu entschlüsselnden Mischung von Parfüms, offenbar der Gesamtheit aller Düfte der Damen und Herren, die in diesem Haus ein und aus gingen. Der Aufzug, wenn auch nicht marmorverkleidet, glitt sanft nach oben, die Spiegel funkelten, eine leise Musik spielte.
Auf dem Treppenabsatz im obersten Stockwerk wartete allerdings eine Überraschung auf mich. Und diese Überraschung hieß Vitja, war einen Meter und neunzig groß und extrem breitschultrig. Ich erinnerte mich vom Besuch Michails und Nastjas, als die beiden nach Antik zum Konzert wollten, her an ihn.
Der Leibwächter erkannte mich ebenfalls wieder. Er stieß sich von der Wand ab, sah mich irritiert an und linste dann zur Wohnungstür hinüber, die er zu bewachen hatte.
»Guten Abend, Vitja«, begrüßte ich ihn.
»Ich darf niemanden durchlassen«, erwiderte Vitja mit gepresster Stimme.
»Mich schon.«
Vitja schüttelte den Kopf.
Vielleicht konzentrierte ich mich nicht stark genug, um wirklich überzeugend zu wirken, oder in dem schlichten Gemüt des Leibwächters gab es nur für einen Herrn Platz. »Ich darf niemanden durchlassen«, wiederholte er mit schmerzerfüllter Stimme. »Ohne Wenn und Aber, es geht nicht.«
»Und wie willst du mich aufhalten?«, wollte ich wissen.
Vitjas Miene verfinsterte sich. Er wusste ganz genau, dass ihm all seine antrainierten Muskeln und die professionelle Vorbereitung bei einem absolut harmlos wirkenden Funktional nichts nutzten.
»Verpassen Sie mir wenigstens ein blaues Auge!«, verlangte er. »Ein Veilchen ...«
»Das bringst du selber fertig«, tadelte ich ihn. »Bist doch ein Mann!«
Ich ließ Vitja, der voller Gram auf seine gewaltige Faust blickte, stehen und ging zur Tür. Als ich klingeln wollte, bemerkte ich, dass die Tür offen war.
»Poch, poch«, sagte ich beim Eintreten.
Die Anwesenden hörten mich nicht. Sie stritten sich gerade.
Gemessen an den Maßstäben dieses Haus war die Wohnung nicht sehr groß, vielleicht fünfzig Quadratmeter. Eine Freifläche mit zwei Stützpfeilern, die mit Wandborden und mit einem unbeholfenen Gemälde verziert waren, wie man es auf dem Kunsthandwerksmarkt in Ismailowskoje feilbietet. Vor einer Wand stand ein imposantes rundes Bett, an der Wand gegenüber gruppierten sich ein Flachbildfernseher, ein Zeitungstisch und mehrere Sessel. Ein Tresen trennte die Küchenzeile ab. Sogar das Bad war nur durch eine halbtransparente Wand aus Buntglasquadern abgeteilt. Gewiss, das Ganze wirkte schon ansprechend. Mit neunzehn Jahren gefallen dir solche Wohnungen ungeheuer. Mit fünfundzwanzig wecken sie in dir freilich nur noch Rührung und den leisen Verdacht, deine Jugend sei vorüber.
Nastja und Michail standen an der Bar. In ihren Händen bemerkte ich hohe Gläser mit irgendeinem Drink. Allerdings verlangte es sie so gar nicht nach einem Cocktail. Anscheinend hatte ihre Beherrschung nur bis zu dem Zeitpunkt gereicht, an dem sie sich ihre Gläser eingeschenkt hatten - danach musste ihr Streit angefangen haben. Michail trug einen offenen Mantel, Nastja einen kurzen Hausmantel.
»Nicht einen Finger hast du gekrümmt!«, schrie Nastja. »Du hättest mich verrecken lassen!«
»Warum hast du dich auch mit denen eingelassen? Man hat mir nämlich alles erzählt!«, konterte Michail im selben Ton. »Du Idiotin!«
»Du hast mich im Stich gelassen!«
»Ich hätte etwas arrangiert und dich dann geholt«, widersprach Michail scharf. Ich hatte nicht den Eindruck, er lüge. »In dem Moment waren mir die Hände gebunden! Später hätte ich dich aber geholt!«
»Nachdem mich das ganze Dorf gevögelt hätte?« Nastja stimmte das Versprechen natürlich nicht um.
Daraufhin beging Michail eine Riesendummheit: »Als ob das etwas Neues für dich wäre! Hast du etwa nicht mit dem Zöllner geschlafen?«
Nastja schluckte und sagte kein Wort. Die Frage schien sie in der Tat zu kränken.
»Nein«, sagte ich genau in der Sekunde, als Nastja Michail eine Ohrfeige verpasste. »Sie hat nicht mit mir geschlafen.«
Sich die Wange reibend, drehte sich Michail zu mir um. Als ich seinen Blick auffing, wusste ich, dass ich mich gerade noch rechtzeitig eingemischt hatte - sonst hätte Nastja ihrerseits eine runtergehauen bekommen.
»Was machen Sie hier?«, fragte Michail kalt.
»Bin ich Ihnen etwa Rechenschaft schuldig?«, verwunderte ich mich. Ohne meine Schuhe auszuziehen, marschierte ich über den weichen Teppichboden und nahm in einem der Sessel Platz. Ich schnupperte, denn es roch nach Essen und sehr appetitanregend obendrein. Warum verspürte ich nur ständig solchen Hunger? Ob das eine Folge der Verwundung war? »Nastja, ich bin ... plötzlich mal eben so vorbeigekommen. Du hast doch nichts dagegen?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie völlig locker. »Soll ich dir einen Drink mixen?«
»Einen Gin and Tonic«, bat ich.
»Sapphire, Beefeater oder Gordon’s?«, fragte sie ganz wie ein erfahrener Barkeeper.
»Die Namen sagen mir alle nichts«, meinte ich zögernd. »Sie klingen aber durchweg verlockend ... Wozu würden Sie mir raten, Michail?«
Im Gesicht des Geschäftsmannes mahlten die Muskeln an den Schläfen. Plötzlich erinnerte er mich ungeheuer an Ippolit Matwejewitsch aus Ironie des Schicksals, als dieser gerade feststellte, dass Doktor Shenja seine, Ippolits, Rasierklinge benutzte.
»Sapphire natürlich«, erwiderte Michail. »Alles Gute, Herr Zöllner. Alles Gute, Nastja.«
»Tschüs«, brachte Nastja mit eisiger Stimme hervor. Sie öffnete die Kühlschranktür und lärmte mit den Flaschen.
Michail stellte sein Glas ab. Er machte auf dem Absatz kehrt und begab sich zum Ausgang. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Ich würde dich bitten, mich in Zukunft nicht mehr anzurufen«, sagte er kalt. »Mit ... mit Terroristen möchte ich nichts zu schaffen haben. Mir sind die Augen aufgegangen: Du hast mich bloß benutzt!«
Die Tür schlug zu. Ich zuckte mit den Achseln. Gut. War er also weg. Mit einem mehr oder weniger respektablen Abgang. Etwas wie »Nutte« oder »hysterisches Weibsbild« hätte nur dumm und deplatziert geklungen. So enthielten seine Worte jedoch einen Funken Wahrheit.
»Ich werde die Wohnung wohl aufgeben müssen«, sinnierte Nastja. »Sie läuft auf Michails Namen ... Außerdem könnte ich mir die Miete sowieso nicht leisten. Ich hätte ihn benutzt! Hast du Töne!«
»Nimm’s mir nicht übel, aber so unrecht hat er nicht«, hielt ich ihr entgegen. »Hast du ihn benutzt?«
Nastja schielte zu mir hinüber. Sie gab Eis ins Glas. »Was geht dich das eigentlich an?«
»Vielleicht möchte ich wissen, ob du ihn geliebt hast oder nicht.«
»Hat er mich etwa nicht benutzt?« Nastja hielt mir das Glas hin. Sie setzte sich auf einen hohen Barhocker. »Weshalb bist du gekommen?«
»Hab ich doch schon gesagt. Ich hatte plötzlich Lust, mal reinzuschauen. Ich war gerade in der Gegend ...«
»Ja, ja.« Nastja nickte.
»Ich habe meine Eltern besucht«, gestand ich zu meiner eigenen Überraschung. »Sie haben mich nicht mehr erkannt. Sie sind jetzt allein ... Ich war ihr einziges Kind. Mein Vater ist sehr alt geworden.«
Nastja stellte ihr Glas ab und sah mich unerwartet verständnisvoll an. »Nimm’s nicht zu schwer, Kirill.«
»Versuch ich ja.«
»Immerhin leben sie noch. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Mein Vater trinkt. Ich kann daran gar nichts ändern, er hört nicht auf mich ... Mischa hat mir immer wieder versprochen, er würde mit einem Arztfunktional reden ... aber irgendwas kam immer dazwischen. Und jetzt wird es erst recht nicht mehr klappen.«
»Er wird zurückkommen«, sagte ich mit gespielter Überzeugung. »Ganz bestimmt.«
»Nein, Kirill. Er hat Angst bekommen. Man hat ihm gesteckt, dass ich mit dem Untergrund zu tun habe, der in verschiedenen Welten gegen Funktionale kämpft.« Nastja schnaubte. »Es ist natürlich höchst schmeichelhaft, so für voll genommen zu werden.«
»Illan ist in Moskau«, fiel mir plötzlich ein. »Sie ist bei einem Freund von mir.«
»Ich weiß, sie hat mich angerufen ... Kirill, was wird jetzt mit uns?«
»Wie meinst du das?«
»Sie werden uns finden. Die Funktionale.«
»Das werden sie.« Dem konnte ich nicht widersprechen. »Nastja, ich glaube, wenn ihr beide, du und Illan, euren Ideen abschwört ...«
»Ja?«
»Dann wird man euch in Ruhe lassen. Ich hatte da ein Gespräch ... übrigens über dich. Aber ich glaube, Illan würde auch niemand etwas zuleide tun.«
Nastja nickte, sage aber kein Wort.
»Illan und du, ihr habt recht, was Erde-1 angeht«, fuhr ich fort. »Ich bin da gewesen.«
»Die fünfte Tür?« Das interessierte sie schon mehr.
»Ja. Es ist die Welt, aus der die Funktionale gekommen sind. Alle anderen Welten sind nur ihre Experimentierfelder. Was passiert, wenn wir eine theokratische Welt schaffen? Was in einer Sklavenhaltergesellschaft? Was in einer Welt mit hoch entwickelter Technik oder in einer ohne Staaten? Das wollen sie wissen. Ansonsten haben sie es aber nicht auf uns abgesehen. Insofern können wir ganz unbesorgt sein. Wir können die Erde wählen, die uns gefällt, und dorthin ziehen.«
»Das ist doch irgendwie unwürdig.« Nastja lächelte linkisch.
»Das ist dein altersbedingter Maximalismus«, befand ich. »Ein Experimentierfeld, was soll denn daran so schlimm sein? Die Freiheit ist ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendein kluger Kopf hat einmal gesagt, man könne nicht in einer Gesellschaft leben und gleichzeitig frei von ihr sein.«
»Das war Lenin.«
»Und recht hatte er. Robinson war auch nur so lange frei, bis Freitag aufgetaucht ist.« Ich trank einen Schluck Gin and Tonic. »Nein, natürlich hast du recht! Mich fuchst das ja selbst ohne Ende. Außerdem haben die von Erde-1 auf mich geschossen! Ich bin verwundet worden. Und wäre beinah abgekratzt.«
»Ach ja?« Nastja musterte mich skeptisch.
»Bei uns heilt alles sehr schnell. Jedenfalls habe ich mit den Dreckskerlen noch eine Rechnung zu begleichen ... Und ich habe mit Sicherheit nicht vor, ihnen in den Hintern zu kriechen. Aber wir können denen nicht den Krieg erklären. Wozu haben eure kindischen Angriffe denn geführt? Doch wohl nur dazu, dass ich diese Grünschnäbel umgebracht habe. Und selbst wenn ihr mich gekriegt hättet, oder Felix oder Zei ... oder sonst wen ... Was hättet ihr davon? Es würden doch bloß die Funktionale von Erde-1 kommen und neue Polizisten erschaffen. Sie würden euch Mores lehren. Die einen nach Nirwana schicken, die anderen ganz aus dem Verkehr ziehen.«
Mit einer kindlichen Geste rieb Nastja sich das Knie. »Also wirst du nicht an unserer Seite kämpfen?«, fragte sie.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Tut mir leid, da passe ich. Ich werde lieber meiner Arbeit in der Zollstelle nachgehen. Aus dem Fenster nach Erde-1 werde ich die Küchenreste kippen und denen obszöne Gesten machen - so lange, bis sie genug haben und den Turm von oben bis unten einbetonieren. Falls ... falls du willst ... kannst du zu mir ziehen.«
»Ein sehr taktvolles Angebot, mich als deine Geliebte aushalten zu lassen«, schnaubte Nastja. »Was soll das? Sehe ich etwa wie eine Nutte aus?«
»Nein. Du gefällst mir.«
»Vielen Dank für das Kompliment. Nein!«
»Was, nein?«
»Meine Antwort lautet nein! Ich habe nicht vor, wie das Kaninchen vor der Schlange zu hocken! Egal, ob Illan und ich uns durchsetzen können oder nicht, wir werden kämpfen! Besser aufrecht stehend sterben, als auf Knien leben!«
Das klang komisch, naiv, aber durch und durch aufrichtig. Ich seufzte. Es würde vermutlich nichts nützen, ihr zu widersprechen ... In dem Moment vernahm ich von der Tür: »Das sollten Sie nicht sagen, junge Frau.«
Ich hatte den Fehler wiederholt, den vor mir Nastja und Michail begangen hatten. Die Tür stand noch offen, was sich unser ungebetener Gast zunutze gemacht hatte.
Der Mann war um die vierzig und sah absolut harmlos aus. Ein korpulenter Mensch, mit einer dicken Brille und deutlicher Glatze. In seinen Händen presste er linkisch einen nassen Hut zusammen. Wann hatte ich eigentlich zuletzt einen Mann mit Hut auf unseren Straßen gesehen? Ein schlichter grauer Anzug mit Regenspritzern, schmutzbefleckte Stiefel und eine schlecht gebundene Krawatte vervollständigten das Bild. So sehen die Schullehrer unter den eingefleischten Junggesellen aus, die noch bei ihrer Mutter wohnen und ihren Schützlingen mit monotoner Stimme etwas über die Bedeutung von Basarow aus Turgenjews Väter und Söhne oder Gontscharows Oblomow herunterleiern.
Nur war der hier ein Funktional.
»Wer sind Sie nun schon wieder?«, rief Nastja aus, während sie vom Hocker sprang. »Ist hier heute Tag der offenen Tür?«
Ich stand ebenfalls auf und baute mich zwischen der Frau und dem ›Lehrer‹ auf.
»Das ist ein Polizistenfunktional«, sagte ich. »Einer von hier, aus Moskau.«
»Ganz recht, Kirill«, bestätigte der Polizist. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich so ungefragt hereingeschneit bin ... Das ist nun einmal meine Arbeit. Dafür müssen Sie schon Verständnis haben. Ich heiße Andrej. Ich freue mich nebenbei bemerkt sehr, Sie kennenzulernen!«
»Sie hätten mich auch besuchen können«, erwiderte ich. »Der Turm an der Metrostation Alexejewskaja. Es ist rund um die Uhr geöffnet.«
»Das wird bedauerlicherweise nicht möglich sein. Es wäre ein bisschen zu weit für mich, ich müsste mich von meiner Funktion losreißen. Ich arbeite eigentlich im Südwesten, aber da man mich um Hilfe gebeten hat ...« Andrej lächelte schuldbewusst. »Ehrlich gesagt, missfällt mir die entstandene Situation in höchsten Maßen, ja, in gewisser Weise widert sie mich sogar an ...«
Ich schielte zu Nastja hinüber. Oho. Ihre Lippen zitterten. Anscheinend hatte sie kapiert!
»Was haben Sie vor?«, fragte ich.
»Ich muss die Sache mit der jungen Dame klären.« Entschuldigend breitete er die Arme aus.
»Felix hat mir versprochen, sie könne bei mir bleiben«, brachte ich wie aus der Pistole geschossen vor. »Kennen Sie Felix?«
»Nein, aber das spielt auch gar keine Rolle. Ihr Felix hat natürlich recht. Sie müssen wissen, ich persönlich habe nicht das Geringste dagegen, wenn eine schöne junge Frau mit ... mit Ihnen zusammenlebt. Man hat mich mit der Bitte hierhergeschickt, mit ihr zu reden und sie zu vernünftigerem Tun anzuhalten. Leider habe ich ihre Ansichten jedoch mitangehört. Es klang ja höchst poetisch, das mit dem Kaninchen vor der Schlange, dem Leben auf Knien ...«
»Wollen wir nicht versuchen, die Situation zu retten?« Ich lächelte ihn gutmütig an. »Gehen Sie doch einfach noch einmal vor die Tür, kommen noch einmal herein, und ich werde Nastja noch einmal dieselbe Frage stellen.«
Der Mann dachte kurz nach. Dann zuckte er die Achseln. »Warum eigentlich nicht?«, zeigte er sich begeistert. »Sie müssen wissen, mir gefällt diese Arbeit in keiner Weise! Ich bin von Beruf Historiker, eine Archivratte, wenn man so will. Ich sitze in einem staubigen Kämmerchen, blättere alte Dokumente durch und finde daran ein ungeheures Vergnügen. Ich habe übrigens eine Unzahl interessanter Entdeckungen gemacht! Allerdings gelingt mir keine einzige Veröffentlichung. In den Zeitschriften hat man mich sofort vergessen, Briefe kommen nicht mehr an, Dateien löschen sich selbst. Nun gut, Sie kennen das, unsere üblichen Probleme. Doch schert mich das nicht, da die wissenschaftliche Suche an sich mir Lohn genug ist! Diese Arbeit hingegen ist doch im Grunde für Menschen mit ganz anderer charakterlicher Veranlagung ... Dann werde ich mal!«
Und er ging hinaus.
Ich sah Nastja an.
»Was für ein Clown«, sagte Nastja leise.
»Das ist ein Polizistenfunktional«, betonte ich. »Der kann aus uns beiden Hackfleisch machen. Ist dir das klar?«
An der Tür klopfte es, worauf der Polizist erneut eintrat. Er putzte seine Brille mit dem Ärmel des Jacketts.
»Nastja!«, sagte ich laut. »Warum pfeifen wir nicht auf die selbstgefälligen Snobs von Erde-1? Gib all diese kindischen Spiele im Untergrund auf und komm mit zu mir! Ich habe das Meer vor der Tür. Und ein gutes Restaurant in der Nähe.«
Andrej strahlte, kniff halb blind die Augen zusammen und nickte. Schließlich setzte er die Brille wieder auf und sah Nastja erwartungsvoll an.
»Ich habe dir das doch schon gesagt«, sagte Nastja mit leiser Stimme. »Nein. Ich werde mich mit der Okkupation nicht abfinden.«
»Na bitte«, stieß Andrej bitter aus. Er stülpte sich den nassen Hut auf den Kopf. »Warum muss die Jugend nur immer so dumm und radikal sein? Wozu mutet man mir diesen ganzen Schmutz zu, dieses miserable Wetter, diese widerwärtigen Maßnahmen ...«
Er näherte sich Nastja - gemessenen Schrittes, die Hände an der Vorderseite seines Jacketts abwischend, als schwitze er plötzlich. Allerdings war genau das der Eindruck, den er machte: feucht und glitschig, entweder vom Regen oder vom Schweiß.
»Bleiben Sie stehen«, verlangte ich. »Andrej, hören Sie auf! Sie sind doch ein erwachsener kluger Mann! Sie redet doch nur dummes Zeug! Ich nehme sie jetzt mit, sie wird bei mir leben und zur Besinnung kommen!«
»Das kann ich nicht«, erwiderte er niedergeschlagen. »Das ist meine Funktion. Hindern Sie mich nicht, Ki...«
Er bezog von mir einen Schlag in den Magen. Im Sprung, mit dem Fuß, wie es nur die Helden in asiatischen Kampffilmen tun.
Andrej flog rückwärts zur Tür. Er strauchelte, verlor das Gleichgewicht jedoch nicht. Ich hatte mich bereits in eine Position gestellt, von der ich nicht einmal wusste, wie sie hieß. Vermutlich hatten die weisen Japaner oder Chinesen für sie einen Namen wie »besoffener Kranich«, »scheißender Bär« oder »dummes Funktional«.
»Du bist im Unrecht!«, maulte Andrej beleidigt. »Was machst du denn da? Wir müssen doch zusammenhalten! Wir sind Funktionale, wir müssen einander helfen!«
»Hau ab«, zischte ich. »Sieh zu, dass du Land gewinnst. Ich werde sie nicht ...«
Diesmal war ich es, dem die Gelegenheit, einen Satz zu beenden, versagt blieb. Die nächsten zehn Sekunden kreisten wir zwischen den Pfeilern umher, unablässig aufeinander einschlagend. Ich kriegte einige sehr heftige Schläge gegen die Brust ab, wobei mich der unangenehme Verdacht beschlich, der Polizist wolle mir die Rippen unterm Herz brechen. Im Gegenzug verwandelte sich Andrejs Brille in winzige, aus dem Gesicht herausstakende Glassplitter, während die Finger seiner rechten Hand einen in unnatürlichen Winkeln gespreizten Fächer bildeten.
Schmerzen empfanden wir anscheinend beide nicht.
Irgendwann bemerkte ich, dass wir vor einem großen französischen Fenster standen, uns gegenseitig fest bei den Armen packten und versuchten, den anderen gegen die Scheibe zu schleudern.
Glücken wollte das keinem von uns beiden.
»Das ist eine vertrackte Situation, Kollege!«, bemerkte Andrej blinzelnd. Aus seinem rechten Lid ragte ein Splitter seiner Brille heraus, der, wie ich schaudernd begriff, bei jeder Bewegung über den Augapfel kratzte. »Ich bin sehr weit von meiner Funktion entfernt und deshalb entschieden schwächer, als ich sein sollte. Hier kann keiner gewinnen, wir haben ein Patt!«
»Hau ab«, befahl ich. »Hau ab und lass uns in Ruhe.«
»Aber das kann ich nicht, das musst du doch verstehen!«
»Ich muss überhaupt nichts.«
Kummer spiegelte sich auf Andrejs Gesicht wider. »Dann werden wir also so lange kämpfen, bis sich ein Dritter einmischt. Stimmt’s?«
»Ja«, sagte Nastja hinter Andrej und zog ihm mit voller Wucht einen gusseisernen Wok über den Kopf.
Ein Wok aus Gusseisen (von mir auch aus Aluminium) ist keine Teflonpfanne mit patentiertem mehrschichtigem Boden. Ein Wok ist die Geheimwaffe der Asiaten, der zuverlässige Kriegskamerad der Mongolen und Tataren, ein unersetzlicher Gefährte sowohl des anspruchslosen Touristen als auch des städtischen Liebhabers von gutem Essen. Er braucht keinen Spritzschutz dubiosen Ursprungs und keine Spülmittel, die das Fett selbst in kaltem Wasser lösen, keine Topfkratzer und Bürsten. Bei einem häufig gebrauchten Wok setzen sich Rückstände in sämtlichen Poren ab und bilden eine glatte, glänzende schwarze Oberfläche, die alle Aromen der Pilaws, des fritierten Fleischs, der Hammeleintöpfe und aller Köstlichkeiten bewahren, die der Wok in seinem Leben bereits aufgenommen hat. In einem guten alten Stück gerät das einfachste Essen zu einem Mahl aus Tausendundeiner Nacht. Der Topf selbst wird mit den Jahren schwerer und schwerer, die Oberfläche trägt die anthrazitfarbenen Spuren der Geschichte.
Dieser Wok blickte auf eine ruhmreiche Geschichte zurück und war randvoll mit Pilaw. Und so, wie er frei und krümelnd vom Sesamöl dunkelrot gefärbten Reis, golden funkelnde Möhrenschnitzel, appetitanregende aromatische Knoblauchknollen und fette Brocken Hammelfleisch in der Luft verteilte, musste es ein sehr gutes Pilaw sein. Was sage ich da? Es musste ein Pilaw gewesen sein, wie es im Buche steht.
Andrej verdrehte die Augen, seine Knie gaben nach, und er sackte zu Boden.
Ich sah Nastja an, sie mich.
»Ich kenne einen Schwarzen«, sagte ich. »Der liebt es, mit Bierkrügen zu schmeißen. Du solltest mal gegen ihn antreten ... im Ring.«
»Habe ich dir geholfen?«, erkundigte sich Nastja.
»Und ob«, bestätigte ich. »Angefangen in dem Moment, als du gesagt hast, du würdest dich nicht mit der Okkupation abfinden.«
»Ich wollte nicht lügen«, beharrte Nastja. Sie drehte sich um und stellte den Wok auf dem Tresen ab. Ich gab Andrej einen leichten Schubs. Der Historiker lag reglos da. Dann ging ich ebenfalls zum Tresen und langte mit der Hand in den Topf.
An einem Eckchen kratzte ich mir vom Boden die Reste des Reises und der Mohrrüben ab, drückte sie mit allen fünf Fingern zusammen, formte daraus ein Kügelchen und bugsierte das Pilaw, mir die Fingerspitzen am noch heißen Fleisch verbrennend, in den Mund. Ich verschluckte mich am Aroma und an meiner Spucke, die wer weiß woher kam und meinen ganzen Mund ertränkte. »Außerordentlich schmackhaft!«, brachte ich mit einigen Schwierigkeiten heraus. Voller Bedauern betrachtete ich die überall auf dem Boden verteilten Pilawreste. »Wo hast du gelernt, so ein gutes Pilaw zu kochen?«
»Mein Vater ist in einem Dorf in Usbekistan aufgewachsen. Die weißbärtigen Alten dort haben ihm beigebracht, Pilaw zuzubereiten.«
»Und mit Woks loszuprügeln? Ist das eine nationale usbekische Kampfsportart?«
»Eine nationale weibliche.«
Ich sah auf die Uhr. »Ich gebe dir drei Minuten, um deine Sachen zu packen. Dann verdünnisieren wir uns.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Dann gehe ich allein«, sagte ich ehrlich. »Dass wir den Polizisten ausgeschaltet haben, ist ein Wunder. Ein Zufall.«
Auf jedes weitere Wortgefecht verzichtete Nastja. Sie öffnete die Tür des Kleiderschranks, zog eine kleine Leinentasche heraus und machte sich daran, ein paar Sachen hineinzustopfen. Diese Tätigkeit unterbrach sie kurz, um mir ein Knäuel Nylonschnur zuzuwerfen. »Nimm das!«
»Wozu?«
Nastja zögerte. »Willst du ihn etwa ein für alle Mal erledigen?«, fragte sie schließlich.
Ich musterte den unglückseligen Historiker. Ehrlich gesagt, hegte ich ihm gegenüber keinerlei Groll. Noch vor zwei Minuten hätte ich ihm kurzerhand das Genick gebrochen, sofern sich mir die Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber jetzt ...
Ich hockte mich hin und fesselte Andrejs Hände mit der Schnur auf dem Rücken. Anschließend band ich ihm damit auch noch die Beine zusammen. Nylon ist für diesen Zweck nicht gerade das optimale Material, da es zu glatt ist. Ich gab mir jedoch alle Mühe, die Knoten möglichst festzuziehen.
»Ich bin so weit«, verkündete Nastja. »Nein, warte ...«
Ohne viel Federlesens ließ sie den Hausmantel fallen und schlüpfte in eine Jeanshose. Schnaubend sah ich demonstrativ auf die Uhr. »Du hast noch zwanzig Sekunden.«
»Ein normaler Mann hätte mich jetzt gebeten, mir alle Zeit der Welt zu nehmen«, parierte Nastja.
»Ich bin ein normaler Mann. Aber ich will leben.«
Während ich bei Nastja gewesen war, hatte sich das Wetter unvorstellbar verschlechtert. Ein kalter Regen platterte, obendrein wehte starker Wind. Wundersamerweise brach dennoch ein Lichtstreif durch die Wolken, in dem ein riesiger Vollmond prangte. Es waren kaum noch Menschen unterwegs, selbst in der Ferne, am Eingang zur Metro, war niemand mehr zu sehen. Die Autofahrer vergaßen unter diesen Umständen endgültig jede Form der Höflichkeit und bretterten durch die Pfützen, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.
»Halt eine Taxe an!«, befahl ich Nastja. »Sag, du willst zur Alexejewskaja. Schau nicht aufs Geld.«
»Hast du kein Auto?«, wunderte sie sich. Sie versuchte, den Regenschirm aufzuspannen, der jedoch von den Windböen sofort umgestülpt wurde.
»Ich kann noch nicht mal fahren! Und was ist mit dir? Hast du etwa auch keins?«
»Mischa hat mir immer einen Wagen geschickt.«
»Es ist ja nicht verboten, ein Luxusleben zu führen ...« Ich sah mich um. Gut, noch war alles ruhig. Neue Polizisten waren nirgends zu sehen.
Ein alter Shiguli hielt an. Der Fahrer erkundigte sich nicht einmal, wohin wir wollten und wie viel wir zahlen würden, sondern brummte nur: »Steigen Sie ein!«, um gleich darauf davonzurasen. Ich hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen und beäugte ihn argwöhnisch. Und wenn er ...
Nein, er schien ein Mensch zu sein. Ein ganz normaler, angespannter und müder Mann in mittleren Jahren.
»Dass es Sie nicht weggespült hat«, meinte er. »Die Himmelsschleusen sind auf. Gegen Morgen soll es noch Schnee geben, schauen Sie doch mal, wie rot der Himmel ist ... Und Sie, Mädchen, könnte man direkt auswringen! Sie sind nicht für dieses Wetter angezogen.«
»Hmm«, antwortete Nastja munter. »Das hat sich so ergeben, wir mussten von einer Party fliehen ...«
»Von einer Sekunde auf die nächste?«
»So ein Sturkopf hat sich betrunken und kriegte dann seine Finger einfach nicht mehr von mir weg«, erklärte Nastja. »Petja hat ihn mit Müh und Not zur Vernunft gebracht ... aber die Stimmung war danach natürlich den Bach runter.«
Schon wieder dieses Verschwörerspiel ... Ich murmelte etwas Tapferes, das zum heldenhaften Petja passte.
»Ich habe schon gesehen, dass Ihnen ein Veilchen wächst«, sagte der Fahrer mit kurzem Blick auf mich.
Ich rieb mir über die Schläfe.
»Nein, links. Spüren Sie das denn nicht? Das gibt einen schönen blauen Fleck. Haben Sie sich mit einem Boxer angelegt?«
»Sie werden lachen: mit einem Historiker.«
Der Fahrer brach tatsächlich in schallendes Gelächter aus. »Die Geschichte ist eine schreckliche Kraft. Aber dass Historiker handgreiflich werden, hört man selten. Normalerweise bewaffnen sie sich ja eher mit Feder und Stift ... Legen Sie sich ein Stück rohes Fleisch darauf, das hilft.«
»Ich werde ihm die Stelle küssen, das hilft noch besser«, versprach Nastja.
Wir tauschten im Rückspiegel einen Blick. Nastja lächelte.
Hm, nach wie vor lag doch etwas Primitives in den Beziehungen von Mann und Frau. Kaum prügelst du dich wegen einer Frau ...
»Wohin soll ich Sie denn bringen?«, fragte der Fahrer.
»Nach Hause«, antwortete ich. »Zur Metrostation Alexejewskaja ...«