Zehn

Das Wetter spielte völlig verrückt. Das Gestöber feuerte kurze Schneesalven ab, dann legte sich der Wind und vom Himmel segelten große Schneeflocken, ganz wie zu Weihnachten, nieder - die schon im nächsten Augenblick winzigem Eisgraupel und einem die Straße in eine Rutschbahn verwandelnden Schneetreiben wichen. Die Pferde trabten gleichmäßig einher, der Schlitten glitt sanft über den Weg und schaukelte beruhigend. Die Hinterbank des Schlittens, mit Pelz bezogen, erinnerte an ein kleines Sofa, für die Füße gab es am Boden eine Art Fellsack. Obwohl ich bisher noch nie mit einem Schlitten gefahren war, hatte ich mit weit weniger Komfort gerechnet.

Das Hotel lag bereits drei Kilometer hinter uns, die tristen Ziegelsteinbauten zogen sich immer noch endlos die Uferstraße dahin, und nirgends war eine lebende Seele in Sicht. Kotja und ich hätten vielleicht alt ausgesehen, wenn wir versucht hätten, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen!

»Ich heiße Kirill!«, stellte ich mich mit einiger Verspätung vor. »Und das ist mein Freund Konstantin. Wir sind aus Moskau.«

»Sehr erfreut«, erwiderte Felix, ohne sonderliche Begeisterung an den Tag zu legen.

Hartnäckig versuchte ich, ein Gespräch in Gang zu bringen: »Warum wohnt hier niemand, Felix?«

»Das ist unser Fabrikviertel«, gab Felix knapp Auskunft. »Das Industriegebiet. Und jetzt sind Feiertage.«

»Trotzdem«, ließ ich nicht locker. »Warum ist hier absolut niemand?«

Felix zog die Zügel an, um die Pferde zum Stehen zu bringen. Auch das war ein interessantes Erlebnis. In Autos hatte ich gelernt, dass ich im Nu bremsen konnte. Der Schlitten dagegen fuhr noch fünfzig Meter weiter, bevor er endgültig zum Halten kam.

»Willst du das wirklich wissen?«, fragte Felix.

Ich nickte. Felix’ Gesicht wirkte ernst, ja, sogar finster. Wenn er mir jetzt erklären würde, Aliens hätten die Stadt überfallen, Vampire sie in ihre Gewalt gebracht oder die Pest habe in ihr gewütet, hätte ich ihm das geglaubt.

»Sieh dich doch mal um. Welcher Idiot geht denn bei diesem Wetter gern auf der Uferstraße spazieren?«

Ich wollte etwas entgegnen, wusste jedoch nicht, was.

Felix grinste. In dem Moment spritzte es vom Meer her hoch auf, gleichsam als sei eine übergroße Welle ans Ufer gebrandet. Die Gischt schien das Lächeln förmlich von Felixens Gesicht zu waschen.

»Es gibt noch einen Grund!«, schrie er, während er hart mit den Zügeln auf die Pferde einpeitschte.

Die Tiere bedurften jedoch keines Ansporns. Sie galoppierten derart los, dass es Kotja und mich gegen die Rückwand der Sitzbank schleuderte. Ich spähte aus dem Schlitten - und sah, wie sich hinter der Straßenbrüstung, jenseits der Laternenkette, ein rundes, dunkles, phosphoreszierend funkelndes Schuppenwesen mit langen Tentakeln aus dem Wasser erhob und zur Straße schlingerte ...

Der Schlitten raste dicht an den Mauern der Fabriken entlang, so weit vom Meer weg wie nur möglich. Der Körper des gigantischen Kraken wälzte sich weit hinter uns.

»Keine Angst«, sagte Felix, ohne sich umzudrehen. »Sie fürchten das Licht und kriechen nie auf die Straße.«

Aus irgendeinem Grund hatte ich mit so etwas nicht gerechnet. Dazu ähnelte die fremde Welt der unseren zu stark. Tiger und Bären mochte es hier durchaus geben, aber doch wohl keine Drachen oder monströse Kraken.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich schließlich.

»Zu mir. Keine Sorge, wir sind fast da.«

Der Schlitten bog in eine breite Straße, die mit den schmalen, zwischen den Fabrikgebäuden verlaufenden Gassen nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Hier gab es Licht, gespendet von den gleichen Laternen, die auch die Uferstraße beleuchteten.

Vor uns krachte etwas. Donnerte geradezu. Und leuchtete mit grellen Scheinwerfern. Dieses Etwas kam uns entgegen. Metallisch war es, mit riesigen Rädern mit einem Durchmesser von zwei Metern, zwischen denen ein klobiger, bedrohlich wirkender gepanzerter Korpus mit mehreren Türmen saß, aus denen schmale Schäfte ragten, Maschinengewehre womöglich oder kleinkalibrige Kanonen.

Felix lenkte den Schlitten an den Straßenrand, die heulende, polternde Maschine schoss an uns vorbei. Sie brachte einen scharfen chemischen Geruch mit sich. Nicht den üblichen Benzingestank, sondern einen völlig anderen, etwas mit einem Hauch von Alkohol, einer Spur von Ammoniak.

»Früher oder später überfährt der noch jemanden«, knurrte Felix. Dann drehte er sich zu uns zurück. »Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen? Oder habt ihr noch nie einen Panzer gesehen?«

»Unsere Panzer sehen anders aus«, erklärte Kotja leise. »Außerdem brettern sie nicht durch die Stadt, sondern bleiben außerhalb. Sie fahren langsam und haben Raupenketten.«

»Bei euch kann man auch am Ufer spazieren gehen«, meinte Felix lächelnd.

Vom Strand her, zu dem dieser Panzer auf Rädern gejagt war, drang ein schnelles Rattern herüber, als arbeite jemand an einer überdimensionalen Nähmaschine.

Wir entfernten uns vom Ufer, und allmählich wurde es um uns herum lebendiger. Die Stadt verlor ihre triste geometrische Regelmäßigkeit. Die ersten ein- und zweistöckigen Häuser tauchten auf, zwar ebenfalls keine Wohnhäuser, aber immerhin schon keine Fabriken mehr. In einigen Fenstern brannte Licht. Von der Straße, durch die wir gekommen waren, zweigten in verschiedene Richtungen schmale Gassen ab.

Der Schnee ließ allmählich nach, ab und an knirschten die Kufen bereits auf blanken Steinen, dass es einem durch Mark und Bein ging. Wir bogen in eine Straße ein, die sich einen Berg hochschlängelte. Hier lagen, umgeben von Gärten, imposante Villen. In einem Fenster machte ich zu meiner Freude eine sich bewegende menschliche Silhouette aus, genauer eine Frau, die Tee einschenkte. Schlagartig wurde mir klar, was mir bisher gefehlt hatte: normale Menschen. Eine verrückte Alte namens Weiß, ihre debilen Angestellten, die schwarz gewandeten Mörder, selbst Felix, der so unverhofft aufgetaucht war - all sie waren keine Menschen, sondern Figuren des absurden Theaters. Letzten Endes ebenso seltsam wie das Monster, das mit seinen Tentakeln über das Ufer kratzte, oder der zu einem Rendezvous mit ihm eilende Rennpanzer - nur eben in menschlicher Gestalt.

Die Frau, die dort Tee trank, strahlte etwas Echtes aus. Etwas Vertrautes. Denn es sind die alltäglichen und banalen Dinge, die das echte Leben ausmachen. Und selbst dieser Gedanke ist ein echter - denn er ist unsagbar banal.

Seltsamerweise begegneten wir nun, ungeachtet der späten Stunde, immer mehr Menschen. Im Garten eines einstöckigen Anwesens veranstaltete eine lustige Gesellschaft von zehn Personen, Erwachsenen und Kindern, eine Schneeballschlacht. Sie winkten uns zu, bewarfen uns mit Schneebällen und riefen uns im Chor Glückwünsche zu, bei denen ich allerdings nicht genau verstand, worum es ging.

»Wir haben heute einen Feiertag«, sagte Felix noch einmal.

»Ich hätte auch nichts gegen eine Schneeballschlacht einzuwenden«, bemerkte Kotja finster.

»Euch wird gleich warm werden«, erriet Felix seine eigentliche Absicht. »Wir sind nämlich da.«

Der Schlitten hielt vor einem klotzigen Gebäude auf dem Gipfel des Hügels. Architektonisch erinnerte es an die alten russischen Anwesen, ein zweigeschossiger Mittelbau und zwei eingeschossige Flügel. Die Fläche vor dem Haus bedeckte festgestampfter Schnee, den zahlreiche Rad- und Kufenspuren durchzogen. Auch hier gab es die gleichen Laternen wie in den Straßen. In den Fenstern leuchtete helles Licht, hinter den Gardinen bewegten sich Schatten und spielte offenbar gedämpfte Musik. Man musste uns erwartet oder die Ankunft des Schlittens bemerkt haben, denn im entfernteren Flügel der Villa öffnete sich eine Tür und ein junger Mann kam auf den Schlitten zugerannt. Er trug ein offenes Hemd und leichte Schuhe, hatte aber um den Hals einen Schal gewickelt.

»Da bin ich wieder«, teilte Felix mit, indem er vom Schlitten sprang und dem Mann die Zügel zuwarf. »Ist alles in Ordnung?«

»Hm«, antwortete der Mann, der uns voller Neugier beäugte. »Soll ich abspannen?«

»Tu das.«

Wir folgten Felix und betraten das Hauptgebäude, während der Mann die Pferde zu einem großen Tor im rechten Flügel führte.

»Warum fahren hier keine Autos?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

»Weil wir kein Öl haben«, antwortete Felix.

Mit einem Mal konnte ich mich nicht länger des Eindrucks erwehren, Felix wüsste auf jede Frage eine bis zum Idiotismus richtige Antwort. Warum geht hier niemand spazieren? Weil es kalt ist. Warum haben Sie kein Auto? Weil es kein Benzin gibt.

»Worin besteht der Sinn des Lebens?«, fragte ich scheinheilig.

»Du machst dich über mich lustig ...«, brummte Felix. »Für uns besteht der Sinn des Lebens darin, guten Gewissens unsere Funktion zu erfüllen.«

»Das schmeckt mir nicht.«

»Du wirst dich daran gewöhnen.«

Bei dem Haus handelte es sich um ein Restaurant. Nicht so eins wie das Hotel, das im Stile eines europäischen Clubs gehalten war. Nein, dieses Restaurant kam ausgesprochen bombastisch daher, war trinkfreudiger Kaufleute und Parteifunktionäre würdig. Ein Disneyland der Gaumenfreuden! Mindestens genauso vulgär wie das Restaurant Prag am Neuen Arbat. Solche Restaurants existierten schon vor der Revolution, die NÖP-Zeit überlebten sie schadlos (möglicherweise amüsierte sich die diebische Alte Rosa Weiß ja damals in ähnlichen Etablissements), sie hielten sich unter Stalin, überstanden den Zweiten Weltkrieg, erstarkten und reiften in der Epoche des großen Maisanbaus unter Chruschtschow und der nachfolgenden Stagnation unter Breschnew, wechselten ein Dutzend Mal den Besitzer während der Perestroika, um schließlich triumphierend das dritte Jahrtausend zu begrüßen.

Geschmacklosigkeit ist einfach nicht totzukriegen.

Hier waren es Säulen. Und Kristalllüster. Und Gobelinteppiche an den Wänden. Und Statuen von nackten Jungfrauen mit den leeren Augen gekochter Fische. Und weiße gestärkte Tischdecken. Und Kristall, Porzellan und silbernes Tafelbesteck. Und Kellner in schwarzen Smokings und weißen Hemden, mit hochnäsig-aufmerksamen Gesichtern.

Behauptet da etwa jemand, das müsse so sein, das sei ganz richtig so, denn ein Restaurant habe sich von einer Cafeteria oder einem kleinen Lokal mit nationaler Küche zu unterscheiden? Ja, gewiss, natürlich. Nur hatte man hier einfach zu viel des Guten getan. Kristall, Silber und Wäschestärke. Man hatte eine unsichtbare Grenze überschritten, worauf sich der glanzvolle Luxus in Geschmacklosigkeit verwandelt hatte.

Dementsprechend war das Publikum. Der freundliche Postbote fiel mir ein, der mir die Zollbestimmungen gebracht hatte. Er war gewissermaßen der Inbegriff eines feinen und distinguierten Herrn, eines Gentleman, der durch und durch dem Butler aus einem englischen Film entsprach.

Hier hingegen herrschte zügelloses Treiben. Gewiss, an einigen Tischen aßen und tranken Damen und Herren von aristokratischem Habitus. Man brauchte sie bloß anzusehen, um zu wissen: Das waren keine Russen. Die stammten von hier. Aus der Welt, in der es kein Öl gab und wo man in Schlitten fuhr, in der jedoch am Ufer Meeresungeheuer herumkrochen. Dafür verlustierte sich in der Saalmitte an einer langen Tafel eine Gesellschaft, wie ich sie auch in teuren Moskauer Restaurants ein paarmal beobachtet hatte. Wenn der Chef unbedingt zu Silvester einen ›Firmenabend‹ im Roten Platz oder Metropol organisieren musste, nur um ja keine Prämien auszuzahlen. Dort durfte ich ähnliche Gestalten beobachten, wenn sich diese kraftstrotzenden Individuen mit Schmerbäuchlein (das ließe sich auch umgekehrt formulieren: mit Schmerbäuchlein, aber kraftstrotzend), kurz geschnittenem Haar und dem angeklebten schiefen Lächeln versammelten. Zunächst führen sie sich noch recht anständig auf, mit zunehmendem Alkoholpegel vergessen sie ihre Manieren und verwandeln sich in diejenigen zurück, die sie noch vor zehn Jahren waren: in kleine Banditen. Nur dass sie jetzt keinen polnischen Napoleon, sondern teuren Kognak wie Camus herunterkippen, nicht ihre roten Jacketts, sondern ihre Brioni-Anzügen vollkotzen.

In ihrer Begleitung fanden sich die entsprechenden Damen. Langbeinige (was angenehm ist), schöne (was äußerst angenehm ist) Frauen, allerdings mit Augen, die so glasig und grell sind wie Spielzeug für den Tannenbaum. Freilich sind sie genau das, Spielzeug nämlich, was ihnen jedoch nicht das Geringste ausmacht. Aus lauter Langeweile eröffnen diese Damen Boutiquen (ein Geschäft - das ist profan, aber eine Boutique - das ist etwas für die Seele), bringen halbe Tage in Fitnessstudios zu, wo sie Kräutertee zu sich nehmen und sich an exotischen Geräten ertüchtigen, erhalten an teuren Privatunis eine höhere Bildung, die niemand braucht, wobei Abschlüsse in Management und Psychologie besonders hoch im Kurs stehen.

Wie immer man es drehte und wendete: Das da war eine russische Tischgesellschaft!

Felix geleitete uns durch den Saal, wobei mir nicht entging, wie die Kellner bei seinem Erscheinen eine noch strammere Haltung annahmen, selbst wenn das eigentlich kaum möglich zu sein schien. Es folgten Korridore, vorbei an der Küche, wo es schepperte, lärmte, wo aromatische Düfte wogten, es folgte eine Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte, das sich an die Wand drückende Personal ... Das Restaurant erinnerte an ein Kästchen mit doppeltem Boden, in dem viel mehr verborgen ist, als es äußerlich den Anschein erweckt.

Schließlich schloss Felix eine hohe Flügeltür auf und bat uns in sein Arbeitszimmer, das weit weniger pompös gehalten war als der Restaurantsaal. Ein mit Papieren überhäufter Schreibtisch, ein dazugehöriger Stuhl mit ungepolsterten Armstützen und hoher Rückenlehne. Allerdings hatten auch einige wuchtige Sessel im Empirestil, die sich um einen ovalen Tisch gruppierten, ihren Weg ins Arbeitszimmer gefunden.

»Setzt euch.« Felix deutete mit einer Kopfbewegung auf die Sessel. Dann betätigte er einen Knopf an seinem Schreibtisch. Schon im nächsten Moment schaute ein Kellner zur Tür herein. Mit Sicherheit hatte er vor dem Arbeitszimmer gewartet. »Bring den jungen Leuten etwas Anständiges zu essen. Cannelloni mit Pute, Hammelrippchen mit Bohnen ... Suppe ...« Aufmerksam betrachtete uns Felix, während er die Bestellung aufgab. »Zwiebelsuppe für beide. Und für uns alle Glühwein.«

»Der Glühwein ist schon unterwegs«, informierte uns der Kellner würdevoll. »Draußen ist es ja bitterkalt, Herr Direktor.«

»Morgen früh werden die Straßen verschneit sein«, pflichtete ihm Felix bei. »Wir haben den Kraken am Strand gesehen. Schick jemanden zur Polizei, vielleicht können wir die Tentakel kaufen.«

»Ich schicke Friedrich«, entschied der Kellner.

Offenbar handelte es sich bei ihm nicht um einen einfachen Mitarbeiter, sondern eher um den Oberkellner, den Maître de salle oder wie auch immer dieser Posten bei ihnen heißen mochte. Mir war bereits aufgefallen, dass er Kotja mit mehr oder weniger gleichgültigen Blicken bedachte, während er mich voller Respekt anschaute. Ob er wirklich etwas spürte?

Ein zweiter Kellner brachte uns den Glühwein, einen bauchigen Glasbecher für jeden und eine in ein Tuch gewickelte Kanne auf einem Tablett.

Als wir wieder unter uns waren, nippte ich genüsslich an dem Glühwein. Nach der zwanzigminütigen Schlittenfahrt hätte ich mir nichts Besseres vorstellen können. »Wer bist du, Felix?«, fragte ich nach einer Weile.

»Ein Funktional. Ein Gastronomenfunktional.«

»So eine Art Koch?«, mischte sich Kotja ein.

»Kochen kann ich auch«, bestätigte Felix schnippisch. »Nein, ich trage die Verantwortung für das gesamte Restaurant. Für die Innenausstattung, die Mitarbeiter, die Küche...«

»Die Innenausstattung«, bemerkte Kotja nachdenklich. »Verstehe.«

»Mein Geschmack ist es auch nicht«, gab Felix gelassen zu. »Aber sie gefällt den Gästen. Zu meinem größten Bedauern ... Gut, meine Herren, ich werde versuchen, auf alle eure Fragen zu antworten. Unsere verehrte Rosa neigt stets dazu, die Wahrheit schönzufärben ... Also, Kirill, du bist ein Funktional.«

»Das scheint mir eher ein Begriff aus der Mathematik zu sein«, sagte ich.

»Ja, und? Unser Wesen wird mit dem Wort ›Funktional‹ eben am besten beschrieben. Wir sind einer ganz bestimmten Funktion zugeordnet. Es gibt Verkäuferfunktionale. Oder Arztfunktionale. Hotelierfunktionale oder Gastronomenfunktionale.«

»Es sind Angestellte«, brachte Kotja unversehens hervor.

»Richtig.« Felix nickte. »Wenn du das als Beleidigung empfindest, kannst du dich Meister nennen. Viele bevorzugen das. Aber ich verstehe unter einem Meister einen Menschen, der aus eigener Kraft etwas erreicht hat. Unsere Situation sieht ein wenig anders aus. Unsere Fähigkeiten sind uns gegeben. Von wem, das frag mich nicht, denn das weiß ich nicht. Die Geschichte läuft aber immer nach dem gleichen Muster ab. Der Mensch gerät allmählich in Vergessenheit. Seine Papiere verschwinden. Seinen Platz in der Familie und bei der Arbeit nimmt jemand anders ein. Wenn dieser Mensch am Ende ist und nirgendwo mehr hinkann, kommt ein Bote zu ihm oder er erhält ein Telegramm. Kurz und gut, er wird zu einer bestimmten Adresse gebeten. Der Ort, zu dem er sich dann begibt, wird sein neuer Arbeitsplatz. Wir nennen das Funktionsort. Rosas Funktion ist ihr Hotel. Meine Funktion ist dieses Restaurant. Deine ist, soweit ich es verstanden habe, die Passierstelle zwischen den Welten.«

Ich nickte.

»Was bekommst du nun im Gegenzug?« Felix trank einen Schluck von dem Glühwein. »Du bekommst ein sehr langes Leben. Unsterblichkeit würde ich nicht sagen, denn obwohl du nicht alterst, kannst du sterben oder dir das Leben nehmen. Du bekommst eine gute Gesundheit und hervorragende Regenerationsfähigkeiten. Beachte jedoch, dass deine Fähigkeiten umso geringer sind, je weiter du dich von deiner Funktion entfernst! Auf deinem Territorium kannst du praktisch nicht getötet werden. Vermutlich würde dir sogar der Kopf nachwachsen, wenn man ihn dir abhacken würde. Hier ... hm, hier könnte man dich vermutlich mit einem Schuss ins Herz umbringen. Oder mit mehreren Schüssen.«

Schon komisch: Mein ganzes Leben lang war mir klar gewesen, dass ich durch einen Schuss ins Herz sterben könnte - und es hatte mir nicht das Geringste ausgemacht! Mit einem Mal wurmte es mich jedoch.

»Du bist in der Lage, Funktionale von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden ... warte, bevor du widersprichst. Das kommt nämlich erst mit der Zeit. Du verstehst jede x-beliebige Sprache, aber auch das nur in einem bestimmten Umkreis von deiner Funktion. Der Ort, an dem du lebst und arbeitest, wird sich schon sehr bald nach deinem Geschmack umgestalten. Das geschieht ganz automatisch! Luxusgegenstände wirst du leider nicht erhalten. Ebenso wenig wie Geld oder Edelsteine. Oder auch Lebensmittel. Atemberaubende Schönheiten werden dir, so leid es mir tut, ebenfalls nicht zur Verfügung gestellt. Das dürfte alles sein, was die allgemeinen Fähigkeiten anlangt. Jetzt zu den speziellen. Ich weiß zum Beispiel, wen ich mit welchen Speisen zu bewirten habe ... Da braucht ihr gar nicht zu lachen, ihr werdet euch gleich selbst davon überzeugen. Rosa hält ihr Hotel in idealem Zustand. Du dürftest vermutlich jeden Schmuggler wittern, dich im Notfall auf einen Kampf einlassen und ihn gewinnen können. Natürlich kannst du dich nicht mit einem Polizistenfunktional messen, aber dennoch ... Und welche Wunder erst ein Arztfunktional vollbringt! Das sind alle Vorteile, die mir einfallen ... Ach nein, halt! Du kannst natürlich auch von einer Welt in eine andere reisen. Wie viele Welten sind mit deiner Funktion verbunden?«

»Bislang zwei. Aber ich glaube, es werden fünf.«

»Hervorragend. Es steht dir also frei, dich in fünf Welten zu bewegen. Behalte jedoch im Hinterkopf, dass deine Fähigkeiten gegen Null tendieren, sobald du dich zehn, fünfzehn Kilometer von deiner Funktion entfernst. Du kannst übrigens auch andere Übergänge benutzen.«

»Wenn es Vorteile gibt, muss es auch Nachteile geben«, sagte ich.

»Richtig. Es gibt einen Nachteil, nämlich folgenden: Du wirst dich dein Lebtag mit ein und derselben Sache beschäftigen. Wenn du ein Faulpelz bist, wie er im Buche steht, wirst du deine Arbeit eventuell mit einem minimalen Aufwand erledigen, so wie es bei Rosa der Fall ist. Aber du wirst niemals ganz von ihr loskommen. Solltest du dich weit und für lange Zeit von deiner Funktion wegbegeben, wirst du zum normalen Menschen.«

»Das ist kein sonderlich schlimmer Nachteil«, brummte Kotja. »Schließlich sind wir sowieso alle Menschen. Aber hundert Jahre lang ein unverletzlicher Supermann zu sein und sich keine Sorgen um das täglich Brot zu machen ... das kriegt nicht jeder geboten ... Kann ich auch ein Funktional werden?«

»Das ist eine Lotterie.«

»Verstehe. Und wo gibt es die Lose zu kaufen?«

Felix grinste nur.

An der Tür klopfte es kurz, und ein Kellner mit einem Tablett trat ein.

»Den Hammel für ihn.« Felix nickte in meine Richtung. »Esst nur, meine jungen Freunde ...«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und vertiefte sich in seine Papiere. Wir machten uns über das Essen her.

Es schmeckte wirklich gut. Sehr gut sogar. Dabei hatte ich früher nie Zwiebelsuppe gegessen, ja, gekochte Zwiebeln geradezu gehasst! Und jetzt leerte ich eine ganz Schale auf einen Zug. Dann probierte ich die Hammelrippchen. Ehrlich gesagt, ließ ich mich nur selten zu Hammel verführen, denn ich hing der Überzeugung an, das Fleisch munde nicht. Nun zeigte sich, dass ich mich damit noch stärker geirrt hatte als bei den Zwiebeln.

Es gab auch Wein. Auch dieses Mal gab das Flaschenetikett in einer fremden Sprache Auskunft. Die Buchstaben erinnerten an lateinische, wenn auch leicht verschnörkelt. Den Sinn der Worte verstand ich dennoch. Der Wein stammte aus den Hochgebirgen Skans, gewonnen aus der einzigartigen Traubensorte Ruminer. Kotja betrachtete die Flasche allerdings auf eine Weise, die keinen Zweifel zuließ: Er vermochte kein Wort zu entziffern.

»Ihr könnt jederzeit zu mir kommen«, sagte Felix, ohne den Blick von seinen Papieren zu heben. »Ich freue mich immer, einen Kollegen empfangen zu dürfen. Bringt Freunde oder Freundinnen mit. Wir müssen einander doch helfen, nicht wahr?«

»Sind Sie aus Moskau, Felix?«

»Nein. Ich bin von hier.«

»Aber Sie sprechen doch Russisch«, ereiferte sich Kotja.

»Ja, und? Gewiss, ich bin Russe ...« Er zog eine Schreibtischschublade auf und holte ein zerlesenes Büchlein heraus. »Nehmt das. Ihr werdet vieles verstehen, wenn ihr das in eurer Freizeit lest.«

Begierig langte Kotja nach dem Buch. Seinem erfreuten Ausruf entnahm ich, dass er den Text verstand.

»Ein Geschichtslehrbuch für die fünfte Klasse, in der russischen Ausgabe!«, rief Kotja begeistert aus.

»Ich habe es meinem Sohn vor zwei Jahren abgenommen«, erklärte Felix. »Ich glaubte, früher oder später würde es mir zupass kommen. Es kommen nicht häufig neue Funktionale zu uns, aber man sollte auf alles vorbereitet sein ... Es hat sich so ergeben, dass ich gewissermaßen die Rolle des Chefs übernommen habe. Inoffiziell natürlich. Am letzten Freitag eines Monats treffen wir uns alle hier im Restaurant ... Komm doch auch. Schließlich sind wir Nachbarn.«

»Wer hat das Hotel überfallen, Felix?«, fragte ich.

»Wenn es Menschen gibt, die über etwas Einmaliges verfügen«, begann Felix seufzend, »dann wird bestimmt jemand versuchen, ihnen das zu entreißen. Gerüchte sind immer in Umlauf, Kirill. Über einen Arzt, der jede Krankheit zu heilen vermag. Über eine Lücke zwischen den Welten. Über unverwundbare Kämpfer. Und schließlich über Wünsche, die in Erfüllung gehen. Alle unsere bisherigen Verbindungen reißen ab, sobald wir zu einem Funktional werden. Aber früher oder später knüpfen wir neue. Funktionale heiraten. Sie bekommen Kinder. Gewinnen neue Freunde. Irgendwann bringt ein allzu ehrgeiziger Mensch etwas in Erfahrung, und dann geht es los ... Geheimorganisationen. Überfallkommandos. Angriffe auf Funktionale, von denen manche nur schwer aufzuklären sind, während es bei anderen das reinste Kinderspiel ist. In den meisten Fällen werden die Polizisten mit der Situation fertig. Aber manchmal ... manchmal sterben auch welche von uns. Das letzte Jahr war unruhig, ich selbst wurde zweimal überfallen ...«

»Aber normalerweise wissen die Menschen nichts von uns?«

»Diejenigen, die über uns Bescheid wissen müssen, tun das auch. Es ist besser, den Machthabern kleine Gefälligkeiten zu erweisen, als umfassend Widerstand zu leisten, meinst du nicht? Vergiss nicht, du musst dich schließlich ernähren und brauchst etwas zum Anziehen. Weißt du, wie das funktioniert?«

»Zu mir ist ein Postbote gekommen. Heute ... nein, gestern Morgen. Er hat mir ein Buch mit Zollbestimmungen gebracht ...« Ich ließ den Satz unbeendet.

»Ganz genau«, bestätigte Felix. »Du erhebst Steuern auf die Waren. Die kannst du restlos für dich einbehalten. Ich unterhalte ein teures Restaurant. Ein Arzt verlangt von seinen reichen und anonymen Patienten horrende Summen, wenn er sie von jeder denkbaren Krankheit heilt ... Glaub mir, wenn sich das Gerücht über ein neues Funktional erst einmal verbreitet hat, wirst du dich vor Grenzgängern nicht mehr retten können. Bereite deshalb schon vorab Schilder mit den Öffnungszeiten vor, die du an der Tür anbringst.«

Er machte mir nicht den Eindruck zu scherzen.

»Ich habe also«, schlussfolgerte ich, »eine gut bezahlte Arbeit erhalten und als Zugabe Gesundheit, ein langes Leben und Unverwundbarkeit. Sieht aus, als ob ich allen Grund zur Freude hätte.«

»Den hast du«, bekräftigte Felix. »Und das meine ich völlig ernst. Fang an, dein Leben zu genießen. In fünfzig Jahren wirst du dich langweilen, aber noch kannst du es einfach genießen. Du kannst sämtliche Freuden und Laster kennenlernen. Das heißt: Bleib lieber erst bei den Freuden, die Laster heb dir für später auf ... Übermorgen erwarte ich dich dann bei unserem kleinen Beisammensein der Funktionale Kimgims.« Mit einem Blick auf Kotja präzisierte er: »Allein, versteht sich.«

»Sagen Sie«, ging Kotja in die Offensive, »was würde denn eigentlich passieren, wenn ich über Sie einen Artikel in einer Zeitung veröffentliche?«

»Sind Sie Journalist?«

»Ja!«

»Unser Polizistenfunktional behält Sie im Auge.« Felix schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie von diesem Artikel lieber Abstand, junger Mann.«

»Es wird nichts Schlimmes passieren«, warf ich rasch ein, »selbst wenn er einen Artikel schreibt. Er verfasst ohnehin Sensationsmeldungen über allerlei Firlefanz, über Geheimgesellschaften, Übersinnliche, Meeresungeheuer ...«

Ich verstummte.

»Na bitte, da haben wir’s«, meinte Felix. »Besser vergisst er diese Story. Schreiben Sie über etwas anderes, junger Mann. Über etwas Romantisches. Über die Liebe. Oder über Tiere.«

»Über die Liebe zu Malteser Schäferhunden zum Beispiel!«, konnte ich mir die Stichelei nicht verkneifen und brach in Gelächter aus. Ich lachte, bis mir die Tränen kamen, ich mich verschluckte, mich im Sessel krümmte und Kotja, knallrot geworden, mir auf den Rücken klopfte.

»Ihr solltet jetzt zusehen, etwas zur Ruhe zu kommen«, sagte Felix, der mich aufmerksam ansah. »Wollt ihr hierbleiben? Ich kann euch ein Zimmer geben. Oder wollt ihr zu Rosa gehen? Oder nach Hause?«

»Nach Hause«, entschied ich. Nachdem ich meinen hysterischen Lachanfall überwunden hatte, fühlte ich mich verlegen - wie einem Menschen halt zumute ist, der coram publico eine Dummheit von sich gegeben hat.

»Das ist sehr vernünftig. Du solltest deine Funktion nicht so lange allein lassen. Vor allem, da du, soweit ich es verstanden habe, noch nicht einmal die anderen Moskauer Funktionale kennengelernt hast.«

»Das stimmt.«

»Moskau ist ja eine große Stadt«, sinnierte Felix. »Bei uns gibt es zehn Funktionale. In Moskau dürften es Hunderte sein ... Aber die werden dich nicht gleich heute oder morgen überfallen.«

»Kommission kommt übermorgen«, fiel es mir plötzlich wieder ein. »Ja ... sicher.«

»Du musst wissen, es war reiner Zufall, dass Rosa und ich dich in alles eingeweiht haben. Bei euch herrschen nämlich eure eigenen Regeln und Gesetze ... Möglicherweise wird man dir alles noch einmal genauer und besser erklären.«

Abermals betätigte Felix den Knopf an seinem Schreibtisch. »Ich werde Karl bitten, euch nach Hause zu fahren«, sagte er. »In seiner Anwesenheit könnt ihr ganz offen miteinander sprechen.«

»Darf ich ein Foto von dir machen?«, fragte ich.

»Suchst du nach einem Beweis für dich selbst?« Der Restaurantbesitzer lächelte. »Nur zu. Aber dann hätte ich auch gern eins von euch.«

Daran, dass wir den Turm nicht wiederfinden könnten, dachte ich erst, als wir an der Weißen Rose vorbeifuhren. Der Stein, den ich auf die Kaimauer gelegt hatte, nützte mir nicht mehr als jene Brotkrumen, die Hänsel und Gretel im Wald fallen ließen, denn in den letzten Stunden hatte es viel zu stark geschneit. Von Kotja brauchte ich keine Hilfe zu erwarten: Er las, die Seiten mit dem Display seines Handys beleuchtend, in dem Geschichtslehrbuch.

Das Problem löste sich überraschend unkompliziert. Irgendwann, als ich die an uns vorbeiziehenden Straßen betrachtete, spürte ich: Wir müssen hier lang. Das Gefühl glich jenem, mit dem ich Kotja unbekannte Ausdrücke erklärte oder mich mit den Gangstern geprügelt hatte. Es war das reine Wissen, die Sicherheit, es müsse genau so gemacht werden.

Wir gelangten zu unserem Turm, den der junge Kellner mit unverhohlener Neugier betrachtete. Wie es wohl sein mochte, etwas von der Existenz einer anderen Welt zu wissen, aber nicht die Möglichkeit zu haben, sie auch zu besuchen?

»Schulden wir Ihnen etwas?«, fragte ich, einem plötzlichen Gefühlsaufwall folgend.

Wobei die Frage war, was ich ihm eigentlich geben konnte. Hiesiges Geld besaß ich nicht, Rubel nützten ihm nichts.

»Ich bitte Sie!« Abermals staunte der junge Mann den Turm an. »Ich muss jetzt wieder fahren ... sonst erfriere ich noch.«

»Wollen Sie nicht vielleicht ... nur auf ein Schlückchen ...?« Ich ließ den Satz unbeendet.

Im nächsten Moment begriff ich, dass Menschen selbst in einer Parallelwelt Menschen bleiben.

»Wenn es denn wirklich nur auf ein Schlückchen ist.« Der Fahrer lächelte verlegen. »Der Meister lädt einen einfachen Menschen nicht oft ein.«

Mir ging durch den Kopf, dass das Funktional Felix nicht ganz ehrlich gewesen war, als er sich über Rosa Weiß lustig gemacht hat. Gewiss, er selbst legte auf diese hochtrabende Bezeichnung keinen Wert. Aber seine Untergebenen nannten ihn so - auch wenn er so tat, als bemerke er es nicht.

»Dieser Meister wird Sie mit Vergnügen bewirten«, sagte ich. »Treten Sie ein.«

Damit schien es dem Mann vollends die Sprache verschlagen zu haben! Ich öffnete bereits die Tür, während er mich immer noch schockiert ansah. Dann schüttelte er den Kopf. »Der Meister lädt mich ein?«, fragte er.

»Komm rein.« In vollendeter Gastfreundschaft hielt ich ihm die Tür weit auf.

Mit einem ähnlichen Gefühl dürfte ein gläubiger Katholik den Vatikan betreten. Der Mann klopfte sich lange den Schnee von den Beinen. Vorsichtig trat er ein - um die elektrischen Lampen genauso begeistert zu betrachten wie Kotja die Laternen an der Straßenbrüstung.

»Bring uns ein Gläschen«, bat ich Kotja. »Ja?«

»Okay«, meinte Kotja.

Er verschwand eine Minute und kam mit Kognak und drei Gläsern zurück. Der Kutscher kippte den Kognak wie Wasser hinunter. O nein, Alkohol interessierte ihn jetzt nicht im Mindesten.

»Meister ... könnte ich mir wohl einmal Ihre Welt ansehen?«

Ich suchte Kotjas Blick. Der zuckte mit den Schultern: Das entscheide mal schön selbst.

»Hm, vermutlich schon ...« Ich ging zur Tür, die nach Moskau führte. »Aber nur kurz!«

Hat schon mal jemand gesehen, wie einem Menschen beim Anblick von auf einen Schrottplatz platterndem Regen die Augen übergingen?

Es war bereits tiefe Nacht.

Die Aussicht war nicht besser als die durch die Tür nach Kimgim. Dunkelheit, Schmutz, verschwommene Silhouetten von Häusern, in einigen Fenstern ein schummriges Licht. Aus irgendeinem Grund brannten die Straßenlaternen noch nicht.

Des ungeachtet löste dieser schlichte Anblick bei dem Mann den gleichen Enthusiasmus aus wie die Brüder Lumière bei ihrem ersten Zuschauer. Widerwillig trat er nach einer Weile von der Tür zurück. »Vielen Dank, Meister.« Er legte die Hand aufs Herz. »Ich ... ich habe immer davon geträumt, fremde Welten zu sehen.«

Diese idiotische, geschraubte Floskel ging Kotja und mir durch und durch. Mit einem falschen Lächeln geleiteten wir den Mann zur Tür nach Kimgim. Wir winkten ihm sogar.

Sobald die Tür zu war, schien uns beiden ein unsichtbares Korsett abgenommen zu werden.

Ich sank gegen die Wand.

Kotja gestaltete es schlichter und ließ sich auf den Boden plumpsen. Dort machte er sich daran, seine Brille unnötig lange mit dem Stoff seines Ärmels zu putzen.

»Wie ... gefällt dir ihre Welt?«, fragte ich.

»Ihre Welt? Diese Freimaurer!«, antwortete Kotja in aller Entschiedenheit. »Eine Weltverschwörung. Monster. Himmel, Arsch und Zwirn, warum bin ich bloß hierhergekommen?!«

In seiner Stimme lag echte Qual.

»Was meinst du denn?«, fragte ich verständnislos.

»Na, was wohl! Du bist jetzt der Hüter zwischen den Welten, oder nicht? Du fängst fliegende Messer ab, deine Wunden verheilen, du erhebst Zölle... Und ich? Ich bin ein Niemand! Ich habe keinen Titel! Ich darf nicht mal ein Sterbenswörtchen darüber verlieren, denn dann kriege ich Besuch von einem Funktional, das kurzen Prozess mit mir macht!«

»Kotja ...«

Ich fühlte mich wirklich nicht wohl in meiner Haut. Ich hatte ein Los gezogen, das von wer weiß wem ins Spiel gebracht worden war. Außerdem hatte Kotja bereits vergessen, dass wir Freunde sind. Dennoch wurde ich dieses Schuldgefühl nicht los.

»Alles haben die unter ihre Kontrolle gebracht! Bei allem haben sie ihre Finger im Spiel«, fuhr Kotja unterdessen aufgebracht fort. »Überall haben die ihre Leute platziert. Sie haben ihre eigenen Zahnärzte und Friseure. Einfache Menschen müssen sich abmühen, aber ihr lebt wie die Maden im Speck!«

Das klang nun rundum absurd. Früher hatte ich es nie mit Klassenhass zu tun gehabt. Aber früher gab es auch keinen Unterschied zwischen Kotja und mir. Mit einem Mal verstand ich, was der bescheidene Krämer empfunden haben musste, als ihm im Oktober 1917 ein Matrose mit revolutionärer Gesinnung einen Besuch abstattete.

»Kotja ...«

»Ach, halt doch die Klappe!«, platzte Kotja heraus, was für ihn einem exquisiten Kraftausdruck gleichkam. »Das habt ihr euch schön ausgedacht, ihr Meister und Funktionale!«

Die letzten Worte stieß er mit derselben Verachtung aus, mit der ein eingeschworener Antisemit über die ›raffgierigen Juden‹ zetert.

»Hör mal, das ist doch nicht auf meinem Mist gewachsen ...«, setzte ich an.

Aber Kotja spielte, was bei ihm öfter vorkam, die beleidigte Leberwurst.

Mit einem Ruck erhob er sich, zog das Geschichtslehrbuch, das der Meister - oder das Funktional - Felix seinem Sohn abgenommen hatte, unter seinem Pullover hervor und schleuderte es auf den Fußboden. Daraufhin verließ er stolz den Turm und schlug die Tür laut hinter sich zu.

Er kehrte nach Moskau zurück.

»Glaubst du etwa, ich habe das gewollt?«, fragte ich den Turm. Ich rieb mir den Arm, in den das Messer eingedrungen war. »Habe ich mich etwa darum gerissen, ein Funktional zu werden? Damit ich Partisanen ausheben und Zollgebühren eintreiben kann?«

Im Turm blieb es still. Sehr still. Es gab niemanden, der mir hätte antworten können.

Einen hysterischen Anfall ganz ohne Zuschauer durchzuziehen ergibt jedoch überhaupt keinen Sinn.

So bückte ich mich nur und hob das Buch auf. Es war auf der ersten Seite aufgeschlagen, wo ich eine Karte der Welt erblickte, in der sich Kimgim befand.

Einige Sekunden lang lachte ich dümmlich vor mich hin.

Ob Kotja diese Karte auch entdeckt hatte? Ob er deswegen so aufgebracht war?

»Zu Hause ist anders«, fiel mir eine alte Soldatenweisheit wieder ein.

Dergestalt, mit dem Buch in den Händen, begab ich mich in den ersten Stock.

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