Achtzehn

Unbesonnenheit besitzt ihren eigenen Zauber. Aus dem Haus zu gehen, um Brot zu kaufen, und dann in einer anderen Stadt zu landen; morgens eine Frau kennenzulernen und abends auf dem Standesamt zu erscheinen. Unbedingt die Tür zu dem dunklen Raum zu öffnen, aus dem verdächtige Geräusche dringen. In das Gehege eines Flusspferds zu klettern und dem Tier auf das dicke Hinterteil zu klatschen. Nach Thailand zu fahren und ohne Präser Sex zu haben. Das Angebot eines geheimnisvollen Unbekannten zu akzeptieren und mit Blut ein jungfräulich weißes Blatt Papier zu unterzeichnen - kurzum, sich Hals über Kopf in ein Abenteuer zu stürzen ist höchst verführerisch.

Vor allem wenn du zwanzig bist und noch nie ein echtes Abenteuer erlebt hast.

Echte Abenteuer verlangen nach Unbesonnenheit. Ach, wie viele spannende Abenteuer wären der Menschheit entgangen, wenn die Menschen zunächst in Ruhe über alles nachdenken und sich entsprechend hätten vorbereiten wollen! Dann hätten Polarexpeditionen ihr Petroleum nicht in gelöteten Zinnkanistern aufbewahrt oder auf Ponys als Transportmittel vertraut, Erfinder wären mit ihren Flügeln zunächst von der Scheune und erst danach vom Eiffelturm gesprungen, die Empfänger von E-Mails würden Post mit dem Betreff »Nice game!« nicht öffnen und nigerianischen Prinzen nicht behilflich sein, zwei Millionen Dollar zu erben. Mit anderen Worten: Eine ganze Menge Dinge wären nicht passiert. Komische Dinge, traurige Dinge, zumeist jedoch tragische Dinge.

Denn echte Abenteuer verlangen nach Opfern.

Noch vor einem Monat wäre ich kurzweg aus dem Turm in eine neue Welt gestürmt. Weder das Wetter noch die Eingeborenen oder die absolute Unkenntnis der Gegebenheiten vor Ort hätten mich davon abhalten können.

Inzwischen hatte ich mich jedoch geändert. Seit dem Tag, als ich der Welt mutterseelenallein gegenüberstand, dachte ich zunächst nach. Nicht sehr lange, aber immerhin.

Ich verließ den Turm in Richtung ›meines‹ Moskaus, hielt ein Auto an und ließ mich zum Supermarkt fahren. Das dicke Bündel Geldscheine musste unter die Leute gebracht werden. Zu meinem Glück bot man Sommerkleidung gerade zu günstigen Ausverkaufspreisen an. Im Camel-Trophy-Shop erwarb ich etwas, das als lange Shorts oder kurze Hose durchging, ein Polohemd, eine Windjacke mit Kapuze und abknöpfbaren Ärmeln (»mit einem einfachen Griff verwandelt sie sich ...«), eine Schirmmütze und bequeme Sandalen. Als ich erklärte, ich würde in den Süden fahren, schlich sich in die neugierigen Blicke der Verkäufer die Traurigkeit der Menschen, die ihren Urlaub gerade hinter sich haben.

Wieder in meinem Turm, befestigte ich an meinem Gürtel den Dolch, den Wassilissa mir geschenkt hatte. Die Waffe würde ich wohl kaum brauchen. Abgesehen davon war ich gefährlicher als jede Pistole! Aber das menschenleere Grün vor meinem Fenster, durch das frech die Spitze des Fernsehturms lugte, schrie zusammen mit meiner Tropenkluft regelrecht nach den entsprechenden Accessoires: nach einer Machete, einem Tropenhelm, einer Waffe zur Elefantenjagd. Der Dolch, immerhin griffbereit, stellte einen würdigen Kompromiss dar. An Proviant nahm ich eine Tafel Schokolade und eine Flasche Kognak mit. Mit Wasserknappheit brauchte ich vermutlich nicht zu rechnen. Auf Medizin konnte ich inzwischen anscheinend grundsätzlich verzichten. Wenn mein Organismus es fertigbrachte, über Nacht gebrochene Rippen zusammenwachsen zu lassen, in null Komma nix Psychedelika neutralisierte und keinen Kater mehr kannte, dürften mir Durchfall und Erkältung nichts anhaben können.

Schließlich schnappte ich mir noch die Unterlagen, die ich von Felix erhalten hatte, blätterte sie durch und informierte mich gründlich über die Welten, in denen es menschliche Zivilisationen gab.

Erst nach all diesen Vorbereitungen ging ich hinunter und verließ den Turm in Richtung ... hm, angesichts des Fernsehturms von Ostankino schien es mir gerechtfertigt, diese Welt vorerst als Moskau-2 zu bezeichnen.

Aus irgendeinem Grund nahm ich als Erstes das taubenetzte Gras wahr. Meine Füße waren sofort feucht, was jedoch angenehm war, mich an ein noch aus meiner Kindheit bekanntes Gefühl erinnerte, wenn ich barfuß in der Datscha herumtollte. Es war warm, aber nicht heiß. Die Luft war sauber, süß und in keiner Weise mit der städtischen zu vergleichen. In meinen Ohren hallte Vogelgezwitscher wider, nicht das Krächzen der Krähen, nicht das Tschilpen der Spatzen, sondern der Gesang von Vögeln, deren Namen ich nicht einmal kannte.

Die Gegend stellte sich aber als doch nicht so unbewohnt heraus, wie ich zunächst geglaubt hatte. Zwischen den Bäumen schlängelte sich ein Pfad entlang, der sehr akkurat angelegt war und an dessen Biegungen umsichtig Markierungssteine aufgestellt waren. Er führte einen Hügel hinauf, um meinen Turm herum und verlor sich dann wieder im Wald. Bei Letzterem handelte es sich weniger um einen Wald als vielmehr um einen großen Waldpark. Damit erhob sich die Frage, wohin ich mich wenden sollte. Der Pfad führte in Richtung Fernsehturm.

Mein eigener Turm hatte sich in dieser Welt übrigens auch verändert. Zu einem Ziegelbau war er geworden, und bis anderthalb Meter überm Boden zog sich eine Verkleidung aus braunen Platten. Etwa auf der Höhe des zweiten Stocks gab es einen weiteren Streifen aus Platten, in die ein Flachrelief gehauen war. Ich trat ein wenig vom Turm zurück, um das Kunstwerk besser betrachten zu können, und umrundete den Bau.

Am ehesten erinnerten diese Reliefs an die sowjetische Propagandaskulpturen unter Stalin. Auf jeder Platte war ein Mensch dargestellt, der mit glücklichem Gesichtsausdruck einer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit nachging. Ein Arbeiter fertigte etwas an der Werkbank, ein Bauer hielt in den ausgestreckten Händen eine Ährengarbe, eine Ärztin hörte mit einem Stethoskop einen Kranken ab, ein Fußballer trat den Ball, ein älterer Herr schrieb Formeln an die Tafel (bei genauerem Hinsehen konnte ich sogar die allerheiligste Gleichung E = mc2 erkennen). Selbst die Kinder auf einem der Reliefs ließen keine Papierflugzeuge steigen, sondern säuberten einen Kaninchenstall.

Hielt ich mir vor Augen, dass in jeder Welt das Äußere des Turms seiner Umwelt entsprach, taten sich äußerst interessante Perspektiven auf. Vielleicht war das gar nicht Arkan mit seinem Vorsprung von rund fünfunddreißig Jahren? Vielleicht war das eine bislang völlig unbekannte Welt, die fünfzig Jahre hinter unserer zurücklag?

Nun, das würde ich herausfinden.

Ich folgte dem Pfad. Der Weg stieg leicht an, und über den weichen Boden zu gehen war angenehm und erschöpfte mich nicht. Außerdem nahm ich voller Freude das Ausbleiben unangemessener euphorischer Zustände zur Kenntnis. Was ich empfand, war das normale Vergnügen, das ein Waldspaziergang bei schönem Wetter bereitet.

Ach, wenn es doch nur in meinem Moskau einen solchen Sommer und derart gesunde, nicht zugemüllte Parks gäbe!

Nachdem ich eine Viertelstunde gewandert war und rund anderthalb Kilometer zurückgelegt hatte, schlugen mir ausgelassene Stimmen entgegen. Da nahte er, der lang ersehnte Kontakte mit den Eingeborenen.

Indem ich meinen Schritt ein wenig zügelte und eine möglichst unschuldige und entspannte Miene aufsetzte, versuchte ich, etwas zu verstehen. Durch die Bäume hindurch konnte ich noch niemanden ausmachen, die Geräusche mussten also entweder extrem gut durch die Luft herangetragen werden, oder mein Gehör hatte sich inzwischen geschärft.

Was ich hörte, war ein Lied. Nein, besser sollte ich von einem Liedchen sprechen. Ein hymnisches Lied, das volle Kinderstimmen zwar nicht allzu rein, dafür aber inbrünstig vortrugen:




Hoch oben im Flugzeug möchte ich fliegen

Und das wunderschöne Moskau erblicken

Denn nur so kann ich gleichzeitig

Meiner lieben Freundesschar

Der ganzen Freundesschar

Der ganzen Freundesschar

Zuwinken.

Auf einem Dampfer möchte ich fahren

Und das wunderschöne Moskau erblicken

Denn nur so kann ich all die Gesichter

Meiner lieben Freundesschar

Der ganzen Freundesschar

Der ganzen Freundesschar

Betrachten.

Wandern möchte ich durch Wald und Flur

Und das wunderschöne Moskau erblicken

Denn nur so kann ich die Hand

Meiner lieben Freundesschar

Der ganzen Freundesschar

Der ganze Freundesschar

Drücken.




Freilich, es gibt unterschiedliche Lieder, von Liedchen ganz zu schweigen. Zu dem einen oder anderen Jubiläum der Hauptstadt hatten Poeten und Komponisten auf Kosten der Stadt schon Schlimmeres verzapft. Aber hier gesellten sich gleich zwei Merkwürdigkeiten zueinander.

Erstens sangen die Kleinen absolut aufrichtig. Von Herzen. Mit Gefühl. So dürften die Pioniere in den frühen sowjetischen Kinderfilmen losgeschmettert haben, wenn sie sich aufmachten, Alteisen zu sammeln.

Zweitens - und das schlug dem Fass den Boden aus - klang das Lied rhythmisch! Gereimt! Das hörte ich ganz genau, obwohl die Worte weder ein Versmaß beachteten noch einem Reim folgten.

Kaum entdeckte ich die Sangesspatzen (das Lied ging gerade zu Ende und ein munteres, vielstimmiges Zwitschern setzte ein, das sich aufs Harmonischste mit dem Vogelgetschilpe verband), verstand ich, wo der Hase im Pfeffer lag.

Sie hatten nicht auf Russisch gesungen. Die Fähigkeiten eines Funktionals hatten mich die fremde Sprache wie meine eigene verstehen lassen, dabei aber nicht für eine poetische Übersetzung gesorgt.

Und dass sie auf Russisch sangen ... war von einem Dutzend schwarzhäutiger Jungen und Mädchen wohl kaum zu erwarten. Die Kinder mochten zwischen sieben und zwölf sein. Die Jungen trugen Shorts, die Mädchen Shorts und ein Hemd, alle liefen barfuß umher. Bei uns geht man nicht einmal im Dorf derart sorglos ohne Schuhe aus dem Haus, denn allzu schnell träte man auf einen rostigen Nagel oder eine zerschlagene Flasche. Einige der Kinder waren heller, andere dunkel bis ins Violett, aber durch die Bank handelte es sich bei ihnen um hundertprozentige Neger.

Die Kinder unterstanden der Aufsicht einer jungen Frau, ebenfalls eine Schwarze, mit wulstigen Lippen, die jedoch ein leichtes geblümtes Kattunkleid trug, das man eher an einem Mädchen aus der tiefsten russischen Provinz erwartet hätte. In der Hand hielt sie einen Blumenstrauß, der mit seinen vier in Zellophan gehüllten purpurroten Rosen höchst offiziell wirkte.

Noch immer stand ich wie angewurzelt da.

Was war das für eine Welt? Ein von Schwarzen bewohntes Russland? Oho, was für eine überraschende und radikale nationale Idee!

Als die Frau mich erblickte, winkte sie mir freundlich zu. »Kinder!«, rief sie anschließend. »Eins, zwei, drei!«

Die Kinder stellten sowohl ihr Geschnatter wie auch ihre Rennerei im Kreis ein. Was für eine ausgesprochen eigentümliche Art der Fortbewegung: Während die Erzieherin den Pfad hinuntergeschritten war, waren die Kinder im Kreis um sie herumgetrudelt, als seien sie wahnsinnige Planeten, die unbedingt von ihrer Umlaufbahn abkommen wollten, trotzdem aber nach wie vor dieselbe Richtung beibehielten. Jetzt erstarrten sie jedoch zu einem mehr oder weniger reglosen Klumpen, um mit einem Lächeln ihrer weißen Zähne eine vielstimmige Begrüßung zu intonieren.

»Guttentag!«

»Guten Tag!«

»’n Tag!«

»Guntag!«

Und sogar: »Tach!«

Das jüngste Mädchen stimmte zwar nicht in diesen Chor ein, brachte dafür aber ein weitaus klareres »Hallo!« zustande.

Ich rang mir ein etwas gezwungenes Lächeln ab. »Hallo! Guten Tag!«, rief ich.

Damit schien dem Begrüßungsritual Genüge getan, denn die Kinder stoben in alle Richtungen auseinander. Die Frau blieb stehen, anscheinend wartete sie auf mich. Ich trat näher heran.

»Guten Tag!«, begrüßte mich die Schwarze in klarem, wenn auch akzentgeprägtem Russisch. »Wir stören doch nicht, oder? Sind wir zu laut?«

»Aber nein, keine Sorge«, widersprach ich eifrig. »Das sind doch Kinder! Wie könnten Kinder denn stören! Ich habe Kinder wirklich gern!«

»Oh, das sind keine Kinder, sondern Ungeheuer.« Die Frau wischte sich mit theatralischer Geste den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn und lachte. »Mascha. Marianna Seilassi.«

»Kirill.«

»Sie sind von der Elfenbeinküste«, erklärte Marianna mit leicht gesenkter Stimme. »Vor einer Woche sind sie angekommen.«

»Ah!« Nach Ansicht der Frau sollte ich mit dieser Information wohl etwas anfangen können. »Natürlich. Und? Wie gefällt ihnen Moskau?«

»Sie sind selbstverständlich begeistert. Wir üben gerade ein Liedchen über Moskau. Sprechen Sie Französisch?«

»Dann war das also Französisch?«, staunte ich. »Na ja ... ein bisschen was habe ich verstanden. Der ganzen Freundesschar, der ganzen Freundesschar! Ein schönes Lied.«

Marianna nickte. »Für uns wird es Zeit.« Sie schielte zu ihren Schützlingen hinüber. »Auf Wiedersehen, Kirill! Kinder, eins, zwei, drei!«

»Auwietersehn!«

»Fiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

»Auwwidderzehen!«

Nur das jüngste Mädchen scherte erneut aus, indem es klar »Tschüs« sagte.

Vielleicht mochte es sich bei der jungen Dame ja nicht um das sprachbegabteste Kind handeln - das originellste kleine Persönchen war sie auf alle Fälle.

Die Prozession entfernte sich in Richtung meines Turms, während ich dastand und ihnen neugierig nachsah.

Waren das Touristen? Von der Elfenbeinküste? Unsinn!

Flüchtlinge? Das hörte sich schon wahrscheinlicher an.

Was war das für ein Russland, was für ein Moskau, dass Flüchtlinge aus den heruntergekommensten afrikanischen Ländern aufgenommen wurden?

Es wurde immer interessanter.

Gedankenversunken schlenderte ich weiter. Wenn mir jetzt eine Gruppe alter Japaner oder schwangerer Polynesierinnen entgegengekommen wäre, hätte mich auch das nicht gewundert. Ich begegnete jedoch niemandem mehr. Dafür verwandelte sich der Trampelpfad erst in einen ordentlichen Sandweg, dann in einen gepflasterten und nach weiteren hundert Metern in eine kleine asphaltierte Straße. Diese säumten vereinzelte Laternen auf gedrungenen Pfählen. Sie waren grob gearbeitet, aus Gusseisen, aber mit geputzter und intakter Glaskugel.

Oho. Das war mit Sicherheit nicht mein Moskau.

Schließlich gelangte ich zu einer Straße, einem geraden zweispurigen Betonstreifen. Vom Park trennte sie ein eher niedriges, hüfthohes Drahtgitter, das vermutlich verhindern sollte, dass Tiere vor die Autos liefen. Auf der Gegenseite standen Betonpfeiler, wie man sie auch bei Gebirgsstraßen findet. In dem Gitter war für Menschen eine Pforte mit einer Klinke eingelassen, hinter der ein Zebrastreifen über die Fahrbahn zu einer kleinen, sauberen asphaltierten Aussichtsplattform mit grünen Holzbänken, massiven Mülleimern aus Stein, einer kleinen Mauer und einem auf einem Ständer montierten Fernrohr führte. Ein ganz normaler Aussichtspunkt. Dergleichen hatte ich schon gesehen. Allerdings noch nie in Russland.

Wie in Trance öffnete ich die Pforte, trat hinaus, schloss das Türchen hinter mir achtsam zu und überquerte die Straße, auf der keine Autos fuhren (obwohl ich ein sich entfernendes Motorengeräusch vernahm).

Unmittelbar hinter der Aussichtsplattform lag ein Abhang. Und Moskau.

Was war das für ein Ort? Die Sperlingsberge? Nein, das konnte nicht sein, die sahen anders aus ... eher ... Ich orientierte mich an der Spitze des Fernsehturms von Ostankino und der klar erkennbaren Silhouette des Kremls. Hol mich der Teufel und schmeiß mich von diesem Hügel (von wegen Hügelchen, ein Riesending war das!) in den zwanzig Meter weiter unten fließenden Fluss - aber wenn ich den Weg in unserer Welt zurückgelegt hätte, stünde ich jetzt genau an derselben Stelle! Also irgendwo in der Nähe der Metrostation Alexejewskaja.

Unsinn!

Offenbar stimmte die geografische Lage meines Turms in den beiden Welten überein. Deswegen zermarterte ich mir allerdings auch nicht den Kopf. Dergleichen konnte schon mal vorkommen.

Etwas anderes beschäftigte mich. Moskau sah hier teilweise genau wie mein Moskau aus. Dennoch unterschied sich das Landschaftsrelief grundlegend. Mal ganz ehrlich, ist es ein Wunder, wenn mancherorts die Luft nicht zum Atmen taugt und am Himmel kein Mond steht? Eben! Hier hingegen lagen die Dinge anders. Wie konnte an einem völlig anderen Ort eine beinahe identische Stadt entstehen? Wie konnte es im Zentrum von Moskau einen gigantischen Hügel geben - und gleichzeitig den Kreml oder den Fernsehturm von Ostankino? Die ihnen zum Verwechseln ähnlich sahen? Und an derselben Stelle lagen?

So etwas war unmöglich! Warum hätte Großfürst Dmitri Donskoi den Befehl erteilen sollen, den Kreml, die wichtigste Festung des Fürstentums, am Fuße eines solchen Hügels zu erbauen - quasi am Fuße eines Berges. Genau hier hätte er ihn errichten müssen, hier wo ich jetzt stand, sämtlichen Tataren und Mongolen zum Schrecken.

Auch Breschnew war nicht schon in jungen Jahren dem seligmachenden Altersschwachsinn anheimgefallen. In allen Welten thronen die pompösen Fernsehtürme auf Hügeln - wenn diese sich denn schon einmal in der Hauptstadt erheben.

Nein, all das war seltsam ...

Ich gab die Rätselei auf und ging zu dem Fernrohr. Was das wohl für eins war? Es gibt welche, die lassen sich nicht schwenken, ehe man eine Münze eingeworfen hat. In dem Fall kannst du einen Punkt so lange anstarren, bis es dir zum Hals raushängt. Allerdings existieren auch noch fiesere, bei denen das Fernglas selbst von innen verblendet ist.

Für dieses Fernrohr brauchte man nichts zu bezahlen. Ich fand noch nicht einmal Schlitze für Münzen. Ich beugte mich zum Okular vor und verschaffte mir begierig einen Überblick über die Stadt.

Der Kreml. Anscheinend nicht weiter auffällig. Das heißt ... Was haben wir denn da auf den Türmen? Na, na ... Sterne. Rote Sterne, rubinrote. Da hätten wir also eine Arbeitshypothese ... Ich suchte nach der Staatsfahne - womit die Hypothese hinfällig wurde.

Weiß-Blau-Rot. WeBeR, wie sich faule Schüler die Reihenfolge der Farbstreifen merkten. Aber keine roten Fahnen mit Hammer und Sichel.

Eigentlich schade! Ich war nämlich schon drauf und dran gewesen zu glauben, in einer kommunistischen Utopie gelandet zu sein, die entgegen jeder historischen Logik überlebt hatte.

Na gut, schauen wir mal weiter! Der Manegeplatz ... Was war denn das? War der bei uns so grün? Mit Blumen und Sonnenschirmen vor Straßencafés? Und das mitten in der Stadt?

Oh, oh ... Wo stand bei uns ... hm, sagen wir das Denkmal von Peter dem Großen, das eigentlich als Denkmal für den Herrn Kolumbus geplant gewesen war? Ich tastete mit dem Fernrohr die Moskwa ab, vermochte jedoch nichts Erschreckendes zu entdecken. Wo ist das Schaschlik? Ich ortete den Tischinskaja-Platz. Daraufhin nahm ich sogar kurz das Auge von der Linse, um zum Himmel hinaufzublicken und innig auszustoßen: »Ich danke dir, mein Herrgott!«

Dieses Moskau fing an, mir ungemein zu gefallen!

Gierig flog mein Blick durch die Straßen Moskaus, die mir seit meiner Kindheit vertraut waren. Das Bolschoi-Theater. Alles in Ordnung. Da war das Kaufhaus ZUM ... Nein, hier war nicht alles in Ordnung! Die oberste Etage war durch und durch aus Glas, eine Art Restaurant mit Aussichtsfläche. Die Basilius-Kathedrale stand am altvertrauten Ort. Aber was war das für eine Kirche? Offensichtlich eine alte. Aber in meiner Welt erhob sich an der Stelle dieser Kirche irgendein grässlicher Ministerialbau ...

Nein, so kam ich nicht weiter. Ich gab die Suche nach bekannten Gebäuden auf und machte mich stattdessen daran, die Hauptstraßen unter die Lupe zu nehmen.

Schon bald erfasste ich die wesentlichen Unterschiede. Es gab mehr alte Bauten, sowohl Kirchen und Paläste als auch völlig gewöhnliche alte Häuser im Zentrum. Aber auch einiges von dem, was als Stalin-Architektur bekannt geworden ist. Sofern es überhaut Neubauten gab, fügten sie sich gut ins sonstige Bild. Der Stadtrand schien überhaupt nicht sehr verändert zu sein. Auch hier erstreckten sich die Schlafbezirke mit ihren öden Plattenbauten. Vielleicht gab es etwas mehr Grün und etwas bessere Straßen. Überall machte ich winzige Parks und überraschende Lücken aus, die zwar nicht so groß wie der Ground Zero in New York, aber immerhin auch nicht ganz ohne waren. Es gab viele Autos und wenig Staus. Sehr viele Boulevards und Fußgängerzonen. Kurzum, es handelte sich hier nicht um den Wirklichkeit gewordenen kommunistischen Traum, war mir aber insgesamt sehr sympathisch.

Seufzend trat ich von dem Fernrohr zurück. Ich kramte die Zigaretten heraus und steckte mir eine an.

Etwas stimmte hier nicht. Wie brachte ich diesen Hügel unter? Die Stadt, die ich sah, hatte den sich in ihrem Zentrum hochschießenden Hügel quasi ignoriert. Den hochschießenden?

Abermals beugte ich mich zu dem Okular hinunter, um die Landschaft um den Hügel herum zu studieren.

Ja, genau so war es. Der Hügel, auf dem ich stand, schien gewissermaßen mit brachialer Gewalt aus dem Boden herausgebrochen - herausgebrochen, herausgerissen, nach oben gezerrt. Und das erst vor relativ kurzer Zeit, selbst wenn die Stadt die Wunden geheilt hatte und die aufgerissenen Straßen nun entweder um das Hindernis herumführten oder an Stellen endeten, die ein Architekt mit Sicherheit nicht vorgesehen hatte. Ferner ließ sich nicht übersehen, dass einige Gebäude in der Nähe des Hügels restauriert worden waren, während andere allzu neu wirkten und erst nach der Katastrophe entstanden sein konnten. An der Stelle von Ruinen? Vermutlich schon.

Und der kleine Fluss, der sich am Fuße des Hügels dahinschlängelte? Sollte das die Jausa sein? Nein, da stimmte die Entfernung nicht. Allem Anschein nach existierte dieser Fluss in meiner Welt überhaupt nicht.

»Ein Erdbeben«, vermutete ich. »Wahrscheinlich.«

Und dieses »wahrscheinlich« bildete den Haken an der Sache. Noch nie hatte ich von einem Erdbeben dieser Stärke gehört, das ein derart großes Stück aus der Erde nach oben treiben, es mit einer Schlucht umgeben und ringsherum einen neuen Fluss entstehen lassen würde.

Ob es eine Übungsaufgabe der Städtebauer gewesen war? Eine Vorbereitung auf die Umlenkung der Flüsse in Sibirien Richtung Süden, bei der sie im Zentrum von Moskau einen Park anlegen sollten? Eine Hypothese, nicht schlechter als andere.

Schluss jetzt, das Spekulieren half mir nicht weiter. Ich würde den Hügel hinabsteigen müssen, offensichtlich gab es ja sogar einen Weg. Dann würde ich mich in die Stadt begeben und dort in Erfahrung bringen, wohin ich geraten war und was hier vorging.

Der Abstieg per Fuß blieb mir dann allerdings erspart. Von der Straße drang das gedämpfte Brummen eines Motors heran. Schon in der nächsten Minute tauchte hinter den Bäumen, die eine Kurve verdeckten, ein Autobus auf und näherte sich der Aussichtsplattform. Der Bus war nur kurz und lediglich mit zwei Türen ausgestattet, dafür jedoch sehr hoch und mit einer riesigen, über die ganze Fahrerkabine reichenden Windschutzscheibe versehen, die sogar einen Blick auf die Füße des Fahrers und die Pedale ermöglichte! Das Modell kannte ich nicht, es wirkte wie »geleckt«, altmodisch - und russisch. Keine Ahnung, woher ich Letzteres nahm. Aber so wie du normalerweise französische Autos von deutschen, japanischen oder amerikanischen unterscheiden kannst, gab es auch bei dem Bus etwas, das mir ohne jedes Wort signalisierte: Ich bin wie du, ein Einheimischer, ich bin hier gemacht worden. Übrigens riefen von den russischen Autos allenfalls der Niwa oder Pobeda bei mir dieses Gefühl der Verbundenheit hervor.

Der Autobus hielt sanft gegenüber der Aussichtsplattform. Die Türen öffneten sich, und ein Dutzend Menschen stieg aus. Schwarze waren nicht darunter, es handelte sich ausnahmslos um Russen, allenfalls Europäer. Jeder Einzelne von ihnen hielt es augenscheinlich für seine Pflicht, mir freundlich zuzulächeln, ein älterer Herr mit einem Stock und im Anzug tippte kurz gegen seinen hellen Strohhut.

Der Strohhut gab mir den Rest. In Moskau trug man solche Hüte nicht. Nicht einmal im Hochsommer. Selbst Alte nicht - sofern sie der Altersschwachsinn nicht gepackt hatte.

Darüber hinaus hatten alle Blumensträuße dabei. Einige Rosen, andere Nelken oder Tulpen. Und alle Sträuße setzten sich aus der obligatorischen geraden Zahl von Blumen zusammen. Wohin wollten sie? Was gab es dort, auf der Spitze des Hügels, wo hinaufzusteigen ich mir nicht die Mühe gemacht hatte? Einen Friedhof? Eine Gedenkstätte? Die Totengruft eines hiesigen Führers?

Der Autobus summte sehr leise und höflich. Hinter der Scheibe winkte mir der Fahrer zu: Willst du mitfahren?

Ich schlug alle Zweifel in den Wind und stieg ein. Im Innern herrschte gähnende Leere. Offenbar waren alle an der Plattform ausgestiegen - um mit ihren Blumensträußen durch den Wald zu verschwinden.

Ich durchquerte das Innere des Busses. Auch hier wirkte alles leicht altmodisch, untypisch für eine Welt, die der unseren fünfunddreißig Jahre voraus sein sollte, dafür aber gemütlich und angenehm, die braunen Bezüge der Sitzbänke aus Lederimitat waren abgenutzt, aber sauber und nirgends eingerissen oder aufgeschlitzt, die Decke sprenkelten bauchige Lampen, auf Hochglanz polierte Kupferschilder wiesen die ›Plätze für Kinder‹, ›Plätze für Schwerbeschädigte‹, ›Plätze für Damen in anderen Umständen‹ und ›Plätze für erschöpfte Personen‹ aus. Das Schild für die Schwangeren überzeugte mich endgültig davon, dass ich es hier nicht mit dem Sieg des Kommunismus in einem Sechstel der Welt zu tun hatte. Dagegen ließ mich das Schild für die erschöpften Personen wieder zweifeln.

Was zum Teufel war das für eine Welt? In der Liste, die ich vor meinem Aufbruch flüchtig durchgeblättert hatte, war unter den fünf bewohnten Welten keine aufgeführt, die sich mit dieser vergleichen ließ. Erde-2 war meine Heimat, in Erde-3 lagen Kimgim und Tausende von weiteren Stadtstaaten, dort gab es kein Öl, und die Entwicklung der Technik hinkte nach. Erde-4 war Antik, eine sehr seltsame Welt (als ob es welche gäbe, die nicht seltsam wären), die nun schon seit Jahrtausenden auf dem antiken Entwicklungsstand verharrte, dafür war aber der Grad dieser Antike bis zum Äußersten, bis aufs Glanzvollste verfeinert, mit ihren in der Schlichtheit genialen Mechanismen und eigentümlichen gesellschaftlichen Abhängigkeiten (Sklaverei war erlaubt, aber die Sklaven besaßen ein verbrieftes Recht zum Aufstand, das zweimal im Jahr angewendet werden durfte, dann wurden an die Rebellen Waffen ausgegeben und ihnen erlaubt, einen Aufstand zu initiieren, während den Herrschenden nur die Möglichkeit blieb, sich zu verteidigen). Bei Erde-5 handelte es sich um eine strenge Theokratie, die eine pervertierte, etwas krankhafte Variante des Christentums verkörperte, in der entwickelte Biotechnologien bei gleichzeitiger Ignoranz jeglicher Elektrizität existierten, die Herrschenden über Funktionale Bescheid wussten und versuchten, diese aufzuspüren. Erde-6 war eine im Grunde recht freundliche und angenehme Welt, die in ihrer Entwicklung weiter als Kimgim war und bald Zugang zum Kosmos haben würde, allerdings eine Besonderheit aufwies, die ihren gesellschaftlichen Aufbau zu einem vertrackten Rätsel machte: Sexuelle Bedürfnisse meldeten sich bei den Einheimischen nur einmal pro Jahr, im Frühling, ganz wie bei Tieren.

Wo war ich bloß gelandet? In Arkan? Oder auf Erde-1?

Ich stellte mich neben die Fahrerkabine, die von den Plätzen für die Fahrgäste durch eine halbhohe Glaswand getrennt war, über der der kurz geschnittene Kopf des Fahrers aufragte. Er beachtete mich nicht, sondern richtete den Blick aufmerksam auf die Straße. Wir fuhren übrigens nicht nach unten. Die Straße schlängelte sich wie eine Spirale den Hügel hinauf. Wir kamen in die Nähe des Gartenrings ... fuhren an der Sklifossowski-Klinik vorbei ...

An der Glaswand, die die Fahrerkabine abteilte, gab es, ganz wie ich erhofft hatte, einige Schilder. Ein kupfernes nannte das Herstellerwerk. Demzufolge fuhr ich in einem Autobus der Marke SchtschAS, der 1968 in der Schtschukinsker Automobilfabrik vom Band gegangen war. Alle Achtung! Ein stattliches Alter, aber noch in erstaunlich gutem Zustand! Zwei Blätter, die in Plastikhalterungen steckten, informierten mich über die Regeln zur Benutzung des Autobusses (im Grunde nichts Besonderes, sah man von dem etwas geschraubten Ton und dem ersten Satz ab: »Verehrte Fahrgäste! In den Autobussen Moskaus gehört es zum guten Ton, für die Fahrt wenn möglich zu bezahlen ...«). Eingehend studierte ich den Fahrplan der »Strecke der Erinnerung«. Bedauerlicherweise war darauf nur ein Ausschnitt Moskaus zu sehen. Immerhin erfuhr ich, dass ich mich auf einem Hügel mit verdächtig gleichmäßiger Kontur befand, der aussah, als hätte man einen gigantischen Zirkel in den Boden gepikt und damit einen Halbkreis mit einem Durchmesser von vier Kilometern gezogen. Mein Turm stand ganz in der Nähe von dem Punkt, an dem der Zirkel angesetzt worden sein musste. Die mir weitgehend vertrauten Moskauer Straßen zogen sich um den Hügel herum, als habe man in ein Netz aus weichem Draht einen schweren Kern fallen lassen, der alles zerriss und verbog. Der gesamte Hügel war grün schraffiert, darunter stand »Hügel der Erinnerung«.

Etwas musste hier passiert sein. Vor gar nicht allzu langer Zeit ... Konzentriert musterte ich die Bäume, die links am Autobus vorbeihuschten. Die Katastrophe dürfte nicht länger als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, danach war der Hügel mit Bäumen bepflanzt und der Park angelegt worden. Zum Gedenken an die Opfer? Vermutlich.

Inzwischen hatte der Autobus zwei weitere Aussichtsplattformen angefahren, an denen jedoch niemand wartete. Beide Male hatte sich der Fahrer nach mir umgesehen, doch ich hatte nur den Kopf geschüttelt. Laut Karte sollte die Straße durch den Wald führen und mich quasi direkt zu meinem Turm zurückbringen. Dort, an der Basis des Halbkreises, lag auch die Endhaltestelle. Und, dem Preobrashenskaja-Platz zugekehrt, anscheinend eine weitere Aussichtsstelle.

So war es denn auch. Der Autobus bog ab, fuhr eine Zeitlang durch den Park (die Zweige der Bäume bildeten über uns gewissermaßen ein Dach). Uns kam ein Autobus desselben Typs entgegen, der gerammelt voll war. Die beiden Fahrer hupten einander zu.

Schließlich fuhr der Bus auf eine riesige Aussichtsplattform, deren Größe die der ersten weit übertraf und die mit Steinplatten ausgelegt war. Hier gab es Sonnenschirme und einen Parkplatz (zwei Autobusse, ein Dutzend Personenkraftwagen), ein kleines Restaurant mit Tischen drinnen und draußen und eine kleinere Holzkapelle, ein freundlicher heller Bau mit einem funkelnden vergoldeten Kreuz. Außerdem noch eine hohe Stele aus rotem Granit, ganz am Rand der Schlucht, neben den Ruinen eines kleinen Ziegelbaus. Auf der schwarzen Platte vor der Stele lagen im bunten malerischen Durcheinander unzählige Blumen.

»Hier ist Schluss«, teilte mir der Fahrer mit, während er den Motor abstellte. »Eine halbe Stunde Aufenthalt. Wenn Sie sich beeilen, der blaue Bus da drüben fährt bald los.«

Er lächelte mir mit den weißen Zähnen eines gesunden Mannes zu, der nie geraucht hatte, sich regelmäßig die Zähne putzte und den Zahnarzt aufsuchte. Mein Altersgenosse wirkte ein wenig schlicht, dabei jedoch sympathisch. An einem Finger saß ein Trauring, hinter der runden Scheibe des Tachometers klemmte ein kleines Farbfoto von einer Frau mit einem Kind auf dem Arm.

»Vielen Dank«, sagte ich aufrichtig. »Ich werde ... mich hier ein Weilchen umsehen.«

Nachdem ich ausgestiegen war, wandte ich mich sofort dem Denkmal zu - genauer den Ruinen des Ziegelbaus. Sie erinnerten mich an etwas.

An etwas, das mir schmerzlich vertraut war.

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