Einundzwanzig

Feinde werden viel seltener zu Freunden als Freunde zu Feinden.

Das ist ein Naturgesetz. Alles auf der Welt strebt vom Komplizierten zum Einfachen. Leben stirbt, Felsen zerfallen zu Staub, kunstvoll gemusterte Schneeflocken schmelzen und verwandeln sich in Wassertropfen. Ein Feuer verbrennt innerhalb von Minuten einen Baum, der über Jahrzehnte gewachsen ist. Eine Flasche mit Säure in den Händen eines Wahnsinnigen löst innerhalb von drei Sekunden die Farben eines Gemäldes auf, dem der Künstler sein halbes Leben gewidmet hat. Eine Kugel beendet binnen einer Sekunde das Leben eines Jungen, den seine Mutter erst neun Monate und dann noch einmal achtzehn Jahre aufgezogen hat. Ein einziges Wort verwandelt, kaum verhallt, alte Freunde in eingeschworene Feinde. Ein Asteroid, dessen Weg die Umlaufbahn eines Planeten kreuzt, löscht alles Leben aus. Die explodierende Supernova verbrennt ihre Planeten. Materie und Energie driften unerbittlich in den Raum, wo sie das lebendige und blühende Universum in ein regloses Nichts verwandeln.

Zerfall, Zerstörung, Tod - das sind höchst simple Vorgänge. Nur das Leben steht dem Einfachen gegenüber, lehnt sich gegen die Naturgesetze auf. Tod und Verwesung ignorierend, gedeihen Pflanzen und Tiere. Tod und Verwesung vergessend, leben die Menschen. Und den einfachen und bequemen Naturgesetzen zum Trotz gestalten die Menschen ihre Beziehungen, die weitaus komplizierter sind als sämtliche von den Menschen erfundenen Maschinen und Mechanismen. Was ist schon ein Verbrennungsmotor im Vergleich zum Feuer der menschlichen Leidenschaft? Welcher Fotoapparat vermöchte einen Sonnenaufgang stimmungsvoller einzufangen als der Pinsel eines Malers oder die Worte eines Dichters? Ist die Explosion einer Atombombe wirklich verheerender als die Wut Dschingis Khans und der Wahnsinn Hitlers?

Es gehört zum Menschen, sich der Zerstörung zu widersetzen. Der eigentliche Sinn der menschlichen Existenz besteht in diesem ewigen, wütenden Kampf, der nicht zu gewinnen ist - und dem du dich trotzdem stellen musst.

Dennoch bleibt es sehr schwer, sich aus einem ehemaligen Feind zu einem Freund zu wandeln. Noch schwieriger ist es freilich, einen ehemaligen Feind als Freund zu akzeptieren.

Ich erzählte Illan alles, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Ich fing mit dem Politiker und seiner Bitte, Arkan zu finden, an. In knappen Worten berichtete ich ihr vom Zugang nach Nirwana. Zunächst hörte Illan recht unbeteiligt zu, dann wurde sie jedoch hellhörig, als die Rede auf Nastja kam. Aber letzten Endes interessierte sie Erde-1 eben wesentlich stärker.

»Genau wie wir angenommen haben«, sagte sie, nachdem sie sich alles angehört hatte. »Es muss jemanden geben, der von der Sache profitiert. Denn es gibt immer jemanden, der am Ende profitiert!«

Ich sah das Ganze etwas anders. Am Ende bleibt immer bloß der Dumme übrig. Aber ich legte es nicht auf einen Streit an.

»Was willst du jetzt unternehmen, Zöllner?«, fragte Illan. »Hast du dir darüber schon einmal Gedanken gemacht?«

Ja, selbstverständlich hatte ich darüber schon nachgedacht. »Alles, nur keinen offenen Krieg! Und keinen Partisanenkampf! Wir müssen das alles den anderen Funktionalen mitteilen, Illan. Wir müssen ihnen klarmachen, dass unsere Welten nur Dritten als Experimentierfelder dienen.«

»Ach ja?« Illan runzelte die Stirn. »Und wozu sollte das gut sein?«

»Gemeinsam sind wir in der Lage, etwas gegen die Funktionale von Erde-1 auszurichten. Schließlich verfügen wir über dieselben Möglichkeiten wie sie.«

»Nein, das tun wir nicht. Sie können nämlich Menschen in Funktionale verwandeln.«

»Gut, vielleicht haben sie uns das voraus. Aber unsere Welten sind für sie nur als Objekte zum Experiment interessant. Nimm doch nur mal Antik. Dort wird mit einer Gesellschaftsform experimentiert, zu der Sklaverei gehört. Das ist doch richtig, oder? Wenn diese Möglichkeit wegfällt, werden sie sich nicht mehr für diese Welt interessieren. Bei euch interessiert sie das Fehlen von großen Staaten ...«

»Es geht aber immer auch um den technischen Fortschritt. In Antik ist er auf dem Niveau der Mechanik stecken geblieben. In Feste regiert die Kirche, hier liegt ihr Augenmerk auf den biologischen Forschungen.«

»Siehst du!« Ich nickte. »Genau deshalb ist auch eine Zollstelle nötig. Damit keine verbotenen technischen Geräte von einer Welt in eine andere gelangen. Wenn Antik an Dampfmaschinen und Schienen käme, eure Welt an elektrische Geräte und Verbrennungsmotoren ...«

»Vergiss es, schließlich haben wir kein Öl.«

»Gut, dann gehen wir halt nur von elektrischen Geräten und Elektromotoren aus. Trotzdem wäre keine Welt mehr für Erde-1 von Nutzen, sobald die Reinheit des Experiments nicht mehr gewährleistet wäre und sich die einzelnen Welten verändern würden. Dann müssten uns die Funktionale von Erde-1 in Ruhe lassen. Sie müssten sich andere Objekte suchen, die sie erforschen könnten.«

»Bist du sicher, dass sie sie suchen?«, fragte Illan. »Vielleicht erschaffen sie uns ja auch.«

Ich erschauderte. »Ja, ich bin mir sicher«, meinte ich. »Wie sollte man eine Welt ohne Öl erschaffen? Man kann ja wohl schlecht die geologischen Prozesse, die sich vor einer Million Jahren abgespielt haben, manipulieren, oder? Schließlich können sie keine Zeitreisen unternehmen. Und selbst wenn sie das vollbrächten, wären sie noch längst nicht imstande, Berge zu versetzen oder die Atmosphäre zu beeinflussen. Sie suchen, Illan. Vermutlich haben sich ihre Zöllner besser im Griff und finden neue Welten, die genau zu den Vorstellungen der Funktionale von Erde-1 passen. Oder sie haben sehr viele Zöllner, sodass sie in viel mehr Welten gelangen. Kirill Alexandrowitsch hat sich verplappert und erwähnt, sie würden weitaus mehr bewohnte Welten kennen als wir.«

»Du schlägst also vor, wir sollten die Technologien der verschiedenen Welten mixen?«

»Ich schlage vor, die Reinheit des Experiments zu zerstören.« Ich grinste. »Stell dir doch mal vor, du würdest verschiedene chemische Experimente durchführen. Über deinem Bunsenbrenner köcheln und kochen in aller Ruhe reine Lösungen. Und plötzlich kommt jemand und vermengt nach und nach die Flüssigkeiten aus den fünf Reagenzgläsern. Was dann?«

»Erstens könnte eines der Reagenzgläser explodieren«, antwortete Illan. »Zweitens gießt der Chemiker die verunreinigten Lösungen weg und spült die Reagenzgläser aus.«

Es trat Stille ein.

»Woher haben sie diese Möglichkeiten?«, fragte Kotja leise. Er wirkte völlig niedergeschmettert. »Würden sie wirklich ... einen Atomkrieg bei uns anzetteln?«

»Warum denn nicht?«, fragte ich achselzuckend. »Woher wollen wir wissen, welchen Einfluss sie auf unsere Politiker ausüben? Jemand könnte sich damit einverstanden erklären, einen Krieg anzufangen, sofern er dafür Asyl in einer anderen Welt, genauer auf Erde-1, gewährt bekommt.«

»Ich habe im Grunde ja nichts gegen deinen Plan einzuwenden, Kirill«, meinte Illan seufzend. »Er ist wirklich nicht dumm. Aber allein kannst du einfach nichts ausrichten. Die Mehrheit der Funktionale müsste dich unterstützen. Sie müssten einen Krieg gegen Erde-1 anfangen.«

»Und du glaubst, sie ließen sich darauf nicht ein?«

»Weshalb sollten sie das, Kirill? Ein Krieg käme einem Erdbeben gleich - und zwar in allen Welten. Und wer wollte schon, dass das bequeme Leben zusammenbricht und alles um einen herum in Aufruhr gerät? Doch wohl nur diejenigen, die nichts zu verlieren haben. Aber die Funktionale haben etwas zu verlieren. Eine ganze Menge sogar.«

»Aber was ist denn das für ein Leben - als Versuchskaninchen?«

Zum ersten Mal schenkte Illan mir einen freundschaftlichen Blick. »Eben, das sehe ich ganz genauso. Aber ich fürchte, die meisten ahnen das ohnehin. Und sie ändern nichts daran, sondern nehmen es einfach hin.«

»Gut.« Ich nickte. »Und was schlägst du vor? Hast du einen Plan?«

Eine Sekunde lang glaubte ich, sie würde etwas sagen. Doch Illan schüttelte nur den Kopf.

»Ich gehe zu Felix«, erklärte ich.

»Das wird nichts nützen. Ich habe dir doch schon gesagt, wie er ...«

»Damals hat er nichts von Erde-1 gewusst.«

»Bist du dir da sicher?«

Ich ließ mir die Frage kurz durch den Kopf gehen und musste zugeben, dass es mit meiner Überzeugung nicht weit her war.

»Dann werde ich zunächst mit allen anderen Funktionalen sprechen«, schlug ich unsicher vor. »Sie werden mich unterstützen. Danach gehen wir zu Felix ...«

»Wieso glaubst du, sie würden dich, einen Frischling, unterstützen? Felix ist eine Autoritätsperson, genießt Respekt ...«

»Na klar, schließlich bewirtet er alle mit vorzüglichem Essen.«

»Das kommt hinzu. Aber wenn du damit anfängst, das Volk aufzurütteln, wird dir bestimmt niemand glauben. Und Felix wird dir diesen Schritt verübeln.«

»Dann gehe ich halt doch zu ihm.«

»Bist du wirklich so dumm?! Was, wenn er selbst von Erde-1 stammt? Wenn er die Situation hier in Kimgim kontrolliert?«

»Stopp!« Kotja, der uns alarmiert ansah, erhob sich. »Stopp! Stopp! Jetzt keinen Streit! Schließlich habt ihr das gleiche Ziel, oder habt ihr das schon vergessen? Ihr wollt der Manipulation unseres Lebens ein Ende machen ...«

»Wir streiten uns nicht.« Illan senkte umgehend die Stimme. Wie ich zu meiner übergroßen Verwunderung feststellen musste, verfing Kotjas Charme bei ihr genauso gut wie bei einer siebzehnjährigen Studentin aus der Provinz. »Aber du musst verstehen, Kotja ...«

»Ich will aber nichts verstehen! Wenn wir uns gegenseitig anschreien, bringt das überhaupt nichts!« Stolz warf Kotja den Kopf in den Nacken und ließ seine Brille funkeln. »Wir dürfen auf gar keinen Fall etwas überstürzen.« Seiner Stimme nahm einen geradezu lehrhaften Ton an. »Wir müssen das Für und Wider einer jeden Entscheidung abwägen. Wir müssen inoffiziell mit den Funktionalen sprechen! Erst dann können wir an ein Gespräch mit Felix denken und Partisanen spielen!«

»Einverstanden«, versicherte ich erleichtert. Nichts hätte mir in dieser Situation mehr missfallen, als wenn jemand erklärt hätte, wir müssten unverzüglich militärische Aktionen einleiten. Denn dem Sterben hatte ich so gar nichts abgewinnen können.

Illan nickte widerwillig.

»Du solltest all das vergessen, Kirill«, schlug Kotja vor. »Du musst wieder zu Kräften kommen. Nimm von mir aus deine Arbeit als Zöllner wieder auf! Man rennt dir vermutlich die Tür ein, während du in fremden Welten herumstreifst!«

»Ich muss meine Umgebung kennenlernen!«, konterte ich. »Insofern ist das eine berufliche Notwendigkeit.«

»Trotzdem müssen wir eine Auszeit nehmen«, fuhr Kotja fort. »Zu Kräften kommen. Illan und ich fahren jetzt zu mir und werden uns ein paar Tage erholen. Versprichst du, bis dahin nichts zu unternehmen?«

Ich sah die beiden an und unterdrückte eine giftige Bemerkung. »Versprochen.«

Gegen Abend trudelte Kundschaft ein.

Drei Männer aus Moskau wollten durch die Bank nach Kimgim. Zwei von ihnen kannte ich nicht, der dritte war ein bekannter Fernsehjournalist. Eine junge Frau aus Moskau wollte ins Reservat. Sie zog sich splitterfasernackt aus, badete im Meer, trank direkt aus der Flasche teuren Champagner und ging wieder nach Hause.

Auf der Kimgimer Seite gaben sich die Besucher ebenfalls die Klinke in die Hand. Ein älteres Ehepaar besuchte Moskau, wobei es sich höflich bei mir erkundigte, welches Kino in der Nähe ich empfehlen könnte. Ich nannte ihnen das Kosmos an der Metrostation ›Errungenschaften‹. Ein schüchterner, gebildet wirkender junger Mann - wobei sich mir im Zusammenhang mit Kimgim das Wort ›aristokratisch‹ aufdrängte - wollte nach Scheremetjewo-2. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der Ausdruck, man habe einen Menschen getroffen, der nicht von dieser Welt sei, weitaus zutreffender war, als die Menschen, die ihn gebrauchten, ahnten.

Aus Nirwana und Arkan kam natürlich niemand. Einen Moment lang rechnete ich mit Wassilissa. Ich hatte sogar das unerschütterliche Gefühl, sie grüble gerade darüber nach, ob sie zu mir kommen sollte oder nicht. Dann legte sich das Vorgefühl, sie statte mir einen Besuch ab, jedoch wieder.

Sie musste es sich anders überlegt haben.

In Moskau fing es an zu regnen, in Kimgim setzte ein Schneesturm ein. Ich stellte mir meine leere und traurige Wohnung vor. Die Moskauer Straßen, durch die die letzten Bürger nach Hause eilten. Die gemütlichen Gehöfte Kimgims und das Plätschern der kalten Wellen, in denen sich die gigantischen Kraken verbargen.

Ob ich doch zu Felix gehen sollte? Nicht um mit ihm zu reden, sondern einfach um etwas zu essen und zu trinken ... Nein, lieber nicht. Ich würde es nicht aushalten. Ich würde ein Gespräch anfangen.

Allerdings stand mir noch eine weitere Möglichkeit offen, an einem angenehmen Ort in interessanter Gesellschaft zu speisen ... Mit einem Anflug von Schadenfreude kramte ich die Visitenkarte des Politikers Dima heraus und wählte die Nummer.

»Ja?« Als er - überraschenderweise - selbst an den Apparat ging, wurde mir klar, dass mir die Ehre zuteil geworden war, seine Privatnummer erhalten zu haben.

»Hier ist Kirill«, sagte ich. »Von der Zollstelle.«

Eine Pause. Dann die vorsichtige Frage: »Ist die Ware ... schon eingetroffen?«

»Ja, und bereits verzollt«, ließ ich mich voller Vergnügen auf das Verschwörerspiel ein. »Es sind aber gewisse Komplikationen aufgetreten. Insofern wäre es gut, wenn wir uns treffen könnten. Wenn möglich, in einem Restaurant.«

»Ich schicke Ihnen einen Wagen«, sagte Dima. »Sobald Sie vor die Tür kommen sollen, rufe ich an.«

Ich ging nach oben und trank ein Glas Kognak. Ich schaute auf den Turm von Ostankino, der in Arkan von Scheinwerfern angestrahlt wurde - ganz wie bei uns. Dann stand ich vor dem Fenster zum Reservat und atmete die frische Meeresluft ein. Über Nacht sollte ich ungedingt dieses Fenster auflassen.

Der Politiker rief sogar schneller zurück, als ich erwartet hatte.

»Das Auto wartet«, erklärte er. »Der Fahrer wird Ihnen meine Visitenkarte zeigen.«

Das konspirative Spiel ging weiter. Die armen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die nicht in das Geheimnis der Funktionale eingeweiht waren. Sie würden alles daransetzen herauszubekommen, mit wem Dima sprach und wem er seinen Wagen schickte. Und reineweg gar nichts würden sie in Erfahrung bringen ...

Ich ging nach unten und trat aus dem Turm. Mit ernster Miene prüfte ich die Visitenkarte, die mir der Fahrer entgegenhielt. Von leichtem Neid erfüllt starrte ich zu ein paar jungen Leuten hinüber, die ungeachtet der Kälte und des Regens die Straße entlangliefen. Selbst wenn sie jetzt saures Bier in einem billigen Café trinken würden - sie hatten bestimmt mehr Spaß als ich. Sie wussten nicht, dass unsere Welt nur ein Experimentierfeld ist.

Wie viel angenehmer wäre es, den Spion und nicht den Verschwörer zu mimen. Ein Spion arbeitet in einem fremden Land, ein Verschwörer in seinem eigenen - das okkupiert ist.

Aber natürlich hatte ich keine andere Wahl.

Für unser Treffen hatte der Politiker ein Restaurant gewählt, das die Küche eines nicht existierenden Landes anbot: die tibetische. Die Besitzer des Restaurants teilten die diesbezügliche Position des chinesischen Herrschers indes offenkundig nicht, zierten die Räumlichkeiten doch die tibetische Flagge und andere Attribute der Staatlichkeit. Unwillkürlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, in dieser Wahl liege ein symbolischer Sinn.

Ein Leibwächter brachte mich in ein kleines Hinterzimmer und ging, die Tür fest hinter sich zuziehend, hinaus. Dima saß bereits am Tisch.

»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sein Lächeln wirkte angespannt, aber freundlich. »Bedienen Sie sich. Die tibetische Küche ist ganz exquisit. Ich empfehle Tigergarnelen im Teigmantel. Außerdem gibt es hier einen ganz unverwechselbaren Wein.«

»Tigergarnelen?« Kurz rief ich mir mein Geografielehrbuch in Erinnerung. »Wie originell. Und Trauben wachsen auch in Tibet?«

»Ich bin noch nicht da gewesen«, meinte Dima achselzuckend. »Es ist eine Mischung aus Wein und Sake. Wenn dort Trauben wachsen, dann nur in sehr geringer Menge. Essen Sie, Kirill.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mir kam es zwar weniger auf das Essen als vielmehr auf die Gesellschaft an, aber die Garnelen stellten sich in der Tat als schmackhaft heraus. Vermutlich hätte sogar Felix sie gelobt ... Und der Wein, nun ja, eine gewisse Originalität musste man ihm fraglos bescheinigen. Der Politiker machte sich ebenfalls übers Essen her, schaffte es dabei jedoch, mir nebenbei von der heutigen Sitzung der Duma zu berichten, auf der seine Fraktion gegen ein volksfeindliches Gesetz Front gemacht, es am Ende aber dennoch nicht zu verhindern vermochte hatte. Mit einem mir fremden Zynismus und voller Müdigkeit sann ich darüber nach, dass die Oppositionsfraktion es sich durchaus erlauben konnte, gegen volksfeindliche Gesetze zu wettern. Im Grunde blieb keiner Fraktion in der Opposition etwas anderes übrig. Sie brauchte jedoch bloß an die Macht zu gelangen, und schon sah die Sache ganz anders aus ...

»Ich habe die Tür nach Arkan geöffnet«, setzte ich ihn ins Bild, während ich eine Garnele an dem nicht vom Teigmantel umhüllten Schwanz packte. »Das Essen hier ist wirklich lecker! Ich habe also diese Tür geöffnet. Wer hatte Ihnen eigentlich vorgelogen, Arkan sei unserer Welt um fünfunddreißig Jahre voraus?«

»Nicht genau fünfunddreißig. Plus, minus ...«

»Es bleibt hinter uns zurück.«

»Was?« Dima erstarrte. Er nippte an seinem Wein und schaute durch mich hindurch ins Nirgendwo.

Mir entging nicht, dass sein Gehirn jetzt auf Hochtouren lief. Leute mit langer Leitung kriegen in der Politik keinen Fuß in die Tür, vor allem nicht in unserer. Darüber hinaus bietet die Politik für Altruismus keinen Raum. Momentan versuchte Dima zu entscheiden, welchen Nutzen er aus Arkan ziehen konnte.

»Es ist wertlos«, meinte ich. »Arkan können wir vergessen. Haben Sie schon einmal etwas von Erde-1 gehört?«

»Eine hypothetische Welt, aus der die ersten Funktionale gekommen sind«, antwortete Dima, ohne zu überlegen. »Seine Existenz wird abgestritten ...«

Er sah mir in die Auge.

»Richtig«, erklärte ich. »Genau das ist Arkan. Sie können es nicht als Experimentierfeld benutzen, weil wir selbst das Experimentierfeld sind. Erde-1 führt ihre Experimente in allen Welten durch, die sie findet. Irgendwie gelingt es ihr, die Entwicklung dieser Welten in die eine oder andere Richtung zu lenken. Soweit ich es verstanden habe, wird bei uns die Existenz von Supermächten erprobt.«

Im Grunde war mir dieser Gedanke eben erst in den Sinn gekommen. Doch als ich sah, wie der Politiker darauf ansprang, baute ich ihn prompt weiter aus: »Anfangs haben sie beobachtet, was bei einem Gleichgewicht der Kräfte von zwei antagonistischen Supermächten passiert. Anscheinend haben sie alles in Erfahrung gebracht, was diese Variante hergibt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion experimentieren sie nun mit Amerika, der einzigen verbliebenen Supermacht. Außerdem treiben sie vermutlich bei uns die Entwicklung der Technik voran.«

»Tolle Entwicklung«, legte der Politiker Widerspruch ein. »Die Raumfahrt haben wir fast abgewickelt.«

»Die brauchen sie halt nicht. Wenn es tatsächlich außerirdische Zivilisationen gäbe, wären sie womöglich imstande, sich der Kontrolle von Erde-1 zu entziehen. Aber allerlei Elektronik ...«

»Weißt du das sicher?«, erkundigte sich Dima.

»Nein, das ist nur eine Vermutung. Vielleicht irre ich mich auch.«

»Und was sagen ... deine Leute? Wie sehen sie das, dass man mit ihnen herumexperimentiert?«

»Die Funktionale?« Ich breitete die Arme aus. »Ich habe keine Ahnung. Aber ich fürchte, es wird ihnen egal sein. Wer hat sie denn zu Meistern gemacht? Diejenigen von Erde-1. Also sind sie ihnen dankbar. Abgesehen davon fürchten sie sie. Wer jemanden zum Funktional machen kann, kann ihm diese Gabe auch wieder wegnehmen.«

»Teufel auch, alles genau wie bei uns, in der Politik!« Theatralisch schlug Dima die Hände überm Kopf zusammen und lachte leicht gequält. »Gut. Was sollen wir jetzt machen? Diese Kräfte, die dürfen wir doch nicht einfach ungenutzt lassen. Mich selbst interessiert dabei nur eins: Wie wir eure Möglichkeiten zugunsten unseres Landes einsetzen können.«

Ich murmelte etwas Unverständliches.

»Du glaubst mir nicht?« Der Politiker lehnte sich im Sessel zurück, um mich aufmerksam zu betrachten. »Das ist ein Fehler. Gewiss, die Macht ist ein Glücksspiel ohne Regeln. Aber im Unterschied zum Geld ist die Macht nicht an sich interessant, sondern nur im Zusammenspiel mit der Reaktion der anderen. Macht ist Geltungssucht. Einen Politiker muss man entweder lieben oder fürchten. Aber jedenfalls respektieren und vergöttern! Weshalb solltest du nach Macht streben, wenn du genau weißt, dass du in die Geschichte als feiger Trittbrettfahrer, Versager, Duckmäuser und Schwächling eingehst?! Wenn man sich an dich nicht wegen etwas erinnert, das du vollbracht, sondern wegen etwas, das du heruntergebracht hast? Das ist uninteressant! Dir schmeckt dein Essen besser und du schläfst ruhiger, wenn du einen großen Bogen um die Politik machst. Tausende von Menschen begreifen das früh genug und lassen die Finger davon. Allerdings gibt es bei uns leider auch einige, die aus der Politik ein Geschäft gemacht haben. Darauf kann ich verzichten. Meine Geltungssucht ist stärker als meine Gier.«

»Sie wissen, dass Ihnen niemand glauben wird«, sagte ich aufrichtig. »Niemandem, der an der Macht ist, glaubt man. So läuft es bei uns nun mal - die Menschen stehen auf der einen Seite, die Macht auf der anderen. Eine Hundezüchterin, die ich kenne, hat mir einmal erzählt, ihr blute das Herz, wenn jemand von der Rubljowka zu ihr komme, um einen Welpen zu kaufen. Ein einfacher Mensch hält diejenigen von der Rubljowka a priori für absolut nichtsnutzig. Er hält sie nicht einmal für imstande, einen Hund zu lieben.«

»Ich weiß, Kirill. Auch wenn ich nicht auf der Rubljowka wohne. Gerade deshalb brauche ich ja ein Wunder. Deshalb brauche ich ja etwas von euch, den Funktionalen.«

»Kraft?«

»Worin liegt denn die Kraft?« Dima lächelte. »In den Muskeln? Im Geld? In Informationen? Im Charme? Es gibt verschiedene Arten von Kraft. Und man muss sie in all ihren Erscheinungsformen einzusetzen wissen ... Könnte ich mich denn an den anderen Welten bereichern?«

»Indem Sie Waren noch und noch durch den Turm bringen, wie ein kleiner Händler, der sein Sortiment billig im Ausland einkauft? Kaum. Man würde Ihnen für die Sachen Zollgebühren abverlangen.«

»Eben. Aber an Informationen aus Arkan komme ich nicht ran. Vielleicht ...« Er geriet ins Stocken. »... könntest du mir bei etwas anderem helfen?«

»Soll ich jemandem die Fresse polieren?«, fragte ich. »Mit etwas anderem kann ich nämlich nicht mehr aufwarten.«

»Doch.« Der Politiker lachte. »Es ist etwas geblieben. Die Technologie.«

»Die Erde ist am weitesten entwickelt.«

»Das stimmt nicht ganz. Denk zum Beispiel einmal an Feste.«

»Es ist verboten, unbekannte Technologien aus einer Welt in eine andere einzuführen.«

»Und von wem stammt dieses Verbot?« Dima starrte auf die Weinflasche, goss sich jedoch Mineralwasser ein. »Doch wohl von denen, die mit uns herumexperimentieren, oder? Sag mal, Kirill, hältst du es für klug, wenn ein Meerschweinchen zum anderen sagt: ›Wir dürfen nicht aus dem Käfig fortlaufen, der Experimentator hat es verboten‹?«

»Natürlich nicht. Nur befürchte ich, die anderen Funktionale würden mich in diesem Fall nicht verstehen.«

Der Politiker schnaubte. Er spielte mit seinem Glas herum und trank einen Schluck. »Es ist doch immer dasselbe ...«, sinnierte er. »Damals, als ich in die Politik gegangen bin, habe ich gedacht, ich könnte etwas erreichen. Sowohl für mich persönlich als auch für mein Land. Und für die Welt insgesamt. Aber dann bin ich hinter die Wahrheit gekommen. Ich musste einsehen, dass unsere Regierungschefs genau wie die amerikanischen Präsidenten längst nicht diejenigen sind, die in dieser Welt das Sagen haben. Dass es Meister gibt. Die sitzen zwar nicht an den Schalthebeln der Macht ... aber man gibt etwas auf ihre Meinung. Das ist der Realität gewordene Albtraum des Russophilen von den Freimaurern ... Und jetzt kommt auch noch heraus, wozu die Meister das alles machen ... Was meinst du, kann ich damit zum Präsidenten gehen und ihm die Wahrheit enthüllen?«

»Woher soll ich wissen, ob Sie das können?«, entgegnete ich. »Mich würde man gar nicht erst vorlassen, bei Ihnen vermag ich das nicht einzuschätzen.«

»Jetzt mal ernsthaft!«

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Vielleicht wissen die oben an der Spitze ja ohnehin alles. Vielleicht würden Sie niemandem ein Geheimnis enthüllen. Und selbst wenn, was heißt das schon? Wird man daraufhin weltweit Funktionale jagen? Wird man auf die Türme und Keller Thermonuklearbomben abwerfen? Was sollte das bringen? Der eine oder andere würde es schaffen, sich in eine andere Welten abzusetzen. Der Rest würde einfach abtauchen. Schließlich können Sie Funktionale nicht von normalen Menschen unterscheiden.«

»Das gefällt mir an dir«, sagte der Politiker ehrlich. »Dass du bist jetzt von ihnen und nicht von uns sprichst. Du glaubst also, es hätte keinen Sinn zu kämpfen?«

»Mit den üblichen Methoden nicht. Das wäre, als wollte man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wissen Sie überhaupt, über welche Möglichkeiten ein Hebammenfunktional verfügt? Natalja Iwanowa zum Beispiel?«

»Nein.«

»Sie dürfte vermutlich von Erde-1 stammen. Glauben Sie etwa, Sie können einfach zu ihr gehen und sie festnehmen? Vielleicht brächte sie es fertig, selbst die härtesten Einsatzkräfte zu verhexen und ihnen zu befehlen, auf Sie loszugehen? Vielleicht würde ihr nicht einmal eine Atomexplosion etwas anhaben? Normale Funktionale sind an ein Gebäude gebunden, an ihre Funktion, aber bei ihr bin ich mir da nicht so sicher. Sie kennen die Kraft dieses Feindes nicht und können sie auch gar nicht kennen. Sie wissen nicht einmal, an welchen Machtpositionen sie sitzen. Gehen Sie doch mit Ihrem Bericht zum Präsidenten - und dann ist der selber von Erde-1!« Ich zögerte kurz, bevor ich hinzufügte: »Und woher soll ich wissen, wer Sie sind? Der Politiker Dima? Oder vielleicht ebenfalls ein Funktional aus Arkan? Prüfen Sie vielleicht gerade meine Zuverlässigkeit, indem Sie mich überreden wollen, die Zollgesetze zu verletzen?«

Dima trank sein Wasser aus. »Jetzt weißt du, wie es in der Politik zugeht, Kirill«, meinte er dann seufzend. »Für mich wird es Zeit. Mach dir um die Rechnung keine Sorgen, es ist alles bezahlt.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich bin nicht von Arkan. Ich bin von hier, von der Erde. Aber das brauchst du mir nicht zu glauben, denn man darf niemandem glauben.«

»Wie hat der gute alte Müller in Siebzehn Augenblicke des Frühlings gesagt«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »›Sie dürfen niemandem glauben - außer mir.‹«

»Wenn du willst, kannst du Müller glauben.« Dima nickte. »Den Toten kann man glauben.«

Ich sah auf die Tür, die hinter ihm zufiel, als müssten auf ihr irgendwelche weisen Worte erscheinen. Und ich trank noch etwas Wein.

Der Politiker tat mir leid. Natürlich stammte er nicht von Arkan. Er war jung und ehrgeizig, er versuchte, einen Zauberstab zu finden, um, auf diesen gestützt, auf den Gipfel der Macht zu kraxeln. Eine nationale Idee ... Pah! Was für eine nationale Idee sollten weiße Mäuse in ihrem Käfig wohl schon haben? Wer zu einem Experiment zugelassen, wer der Boa als Beute zugeteilt, wer zur Fortpflanzung abgestellt wird ...

Zauberstäbe gab es nicht. Es gab sie nicht, und würde sie auch nie geben.

In meiner Kindheit war ich eine richtige Leseratte gewesen. Jetzt las ich seltener ... manchmal einen Krimi, Science Fiction, etwas, das gerade angesagt war ... Aber in meiner Kindheit hatte ich das Lesen wirklich geliebt. Meine Eltern hatten mich an Bücher herangeführt. Märchen, Fantasy ... Insofern glaubte ich wirklich an den Zauberstab. Und mit Vergnügen hätte ich ihn an Dima weitergereicht. Sollte er es ruhig einmal probieren. Schlimmer konnte es ohnehin nicht werden.

Oder musste man ein Optimist sein? In dem Sinne, dass es immer noch schlimmer kommen kann?

Ich trank den Wein aus und stellte das Glas zur Seite. Stimmt schon, ein seltsames Getränk. Exotisch ...

Unvermittelt fiel mir ein, dass meine Eltern heute aus der Türkei zurückgekommen sein mussten.

Gut drei Jahre hatte ich auf eigenen Füßen gelebt. Zu verdanken hatte ich das allein meinen Eltern. Ich selbst hätte noch runde zehn Jahre auf eine Wohnung sparen müssen. Sie hatten mir die Wohnung geschenkt und mich quasi aus dem Haus gejagt. Anfangs nahm ich ihnen das sogar krumm - bei allen Vorteilen, die die eigenen vier Wände ohne Zweifel boten. Als ich mir dann meine Freunde und Bekannte, die noch bei ihren Eltern lebten, genauer ansah, begriff ich, dass meine alten Herrschaften gut daran getan hatten. Letzten Endes verdirbt das Zusammenleben mit den Eltern einen Menschen, sofern er nicht mehr die Schulbank drückt. Du kannst gutes Geld verdienen und deine Eltern unterstützen, aber wenn du weiterhin mit ihnen unter einem Dach lebst, wirst du nie erwachsen werden. Du nimmst die Verhaltensweisen und die Lebensweise deiner Eltern an. Du wirst zur Konserve, zu einer jungen Kopie deines Vaters. Das aber ist nur in Bauernfamilien von Vorteil, und auch da nur beim ältesten Sohn. Es ist kein Zufall, dass in allen Märchen der jüngere Sohn, der aufs Geratewohl in die weite Welt hinauszieht, um sein Glück zu machen, dabei große Erfolge erzielt. Tausende solcher nachgeborenen Söhne kehren nie zurück, aber manch einer fängt eben doch seinen blauen Vogel. Zum Acker des Bauern, zu dem arbeitssamen und bodenständigen erstgeborenen Sohn, kommen die blauen Vögel jedoch nie geflogen ...

Ich stand vorm Eingang ins Haus meiner Eltern, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, und sah zu den Fenstern hinauf. Es dämmerte. In der Küche brannte bereits Licht.

Sie würden mich nicht erkennen, wenn ich ihnen gegenüberstünde, so wie sie mich auch am Telefon nicht erkannt hatten. Das wusste ich inzwischen.

Trotzdem zwang mich etwas dazu, zu ihnen hinaufzugehen und an der Tür zu klingeln. Weshalb?

Etwas geriet in Bewegung. Etwas würde geschehen. Das spürte ich. Und ich hatte die böse Vorahnung, meine Eltern in absehbarer Zukunft nicht wieder zu Gesicht zu bekommen. Vielleicht würde ich sie sogar nie mehr sehen.

Der Code vom Türschloss war nach wie vor der alte. Ich betrat das Haus und rief den Fahrstuhl. Völlig gelassen blickte ich Galka an, die vom ersten Stock die Treppe runterkam. In der achten Klasse hatten wir uns mal geküsst, genau hier, vorm Aufzug ... Galka streifte mich mit wachsamem Blick und ging hinaus.

Mach dir keine Sorgen, Galja, ich bin kein Psycho und kein Dieb ...

Der Fahrstuhl kam. Ich fuhr nach oben. Kurz stand ich vor der Tür meiner Eltern, dann drückte ich den Klingelknopf. Fast unmittelbar darauf vernahm ich Schritte - und einen Moment lang glaubte ich, meine Eltern würden mich wiedererkennen. Dass sie sich Sorgen gemacht hätten. Auf mich gewartet hätten. Und mich unter allen Umständen wiedererkennen würden.

Mein Vater öffnete die Tür. Sofort, ohne auch nur durch den Spion zu linsen. Das war so eine dämliche Angewohnheit von ihm, deretwegen sowohl meine Mutter als auch ich ihm Vorwürfe machten.

»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«, fragte er freundlich.

Wie alt er geworden ist, dachte ich, während ich meinen Vater ansah. Trotz der frischen Sonnenbräune und des erholten Gesamteindrucks. In den letzten ein, zwei Jahren war er merklich gealtert, selbst wenn er auf sein Äußeres Wert legte, Sport trieb, Alkohol nur in Maßen genoss und höchstens einmal im Monat, »um der Geselligkeit« willen, rauchte. Als hätte man mir einen Schleier vor den Augen weggezogen, sah ich nun: Meine Eltern waren alt geworden. Sie hatten die fünfzig inzwischen längst überschritten ...

»Guten Tag«, sagte ich. »Ich ... ich suche Kirill.«

»Was für einen Kirill?«

»Wohnt Kirill Maximow hier?«

»Hm ...« Mein Vater nickte. »Maximow, das bin ich. Aber ich heiße Danila.«

»Sie?« Ohne den Blick von ihm zu wenden, rieb ich mir mit der Geste eines verlegenen und nach Worten suchenden Mannes die Augenbraue. »Nein, Kirill ist in meinem Alter ... Wir waren zusammen in der Armee, aber ich habe seine Adresse verloren. Er wohnt irgendwo in diesem Viertel. Bei der Auskunft hat man mir diese Adresse gegeben ... Sie haben keinen Sohn, der Kirill heißt?«

Etwas kaum Fassbares, eine Art altvertrauter, aber nie bewältigter Trauer, huschte über das Gesicht meines Vaters.

»Nein, junger Mann.«

»Vielleicht einen Neffen?« Ich setzte das Spiel fort. »Auch nicht? Tut mir leid, hier muss ein Missverständnis vorliegen ...«

Im Flur tauchte meine Mutter auf. Das war doch nicht zu fassen - sie sah jünger aus, als ich sie in Erinnerung hatte! Ha! Die Geburt und die Sorgen um ein Kind gereichen der Schönheit einer Frau eben doch nicht zum Vorteil ...

»Danila?«, sagte sie mit fragendem Unterton.

»Hier sind Sie falsch«, erklärte mein Vater und fuhr fort, ohne sich zu meiner Mutter umzudrehen: »Der junge Mann sucht einen Kirill Maximow, bei der Auskunft hat man ihm diese Adresse genannt ...«

»Verzeihen Sie die Störung ...«, murmelte ich.

Mein Vater sah mich immer noch ... irgendwie zweifelnd an. Nachdenklich. Ich glich ihm, vermutlich entdeckte er in mir seine Züge, und das irritierte ihn.

Meine Mutter musterte mich übrigens mit demselben Zweifel. Wie auch nicht? Schließlich sprang ihr die Ähnlichkeit noch stärker ins Auge ...

»Entschuldigen Sie.« Ich ging zum Fahrstuhl. Da ihn bereits jemand in einem anderen Stock gerufen hatte, musste ich warten. Mein Vater sah mich ein letztes Mal an, bevor er die Tür schloss.

Ich lauschte. Entweder kamen hier meine Fähigkeiten als Funktional zum Tragen oder meine Mutter sprach sehr laut, doch ich vernahm deutlich: »Der Junge sieht dir ähnlich.«

»Was willst du damit sagen?«, erwiderte mein Vater mit einer Spur von Verärgerung.

»Äh ... nichts.«

»Komm schon, raus mit der Sprache!«

Na prima! Jetzt glaubte meine Mutter auch noch, mein Vater habe ein außereheliches Kind. Da hatte ich ja was Schönes angerichtet.

Wie gestaltete sich mein Verschwinden für sie? Ob sich meine Sachen und Papiere in Luft aufgelöst hatten, mein Gesicht in Fotos zerflossen, in den alten Unterlagen die Zahl der Bewohner dieser Wohnung von »3« zu »2« mutiert war? Und was war mit ihrem Gedächtnis? Hatte meine Mutter sogar vergessen, dass sie einmal schwanger gewesen war? Oder glaubte sie, ihr Kind sei bei der Geburt gestorben? Was trat in ihrem Gedächtnis an die Stelle jener Jahre, die sie mit mir verbracht hatten? Lustige Reisen und das gesellige Beisammensein mit Freunden? Oder leere, bittere, kalte Abende, zu zweit, immer nur zu zweit ...

Ich lehnte die Stirn gegen den schmutzigen Spiegel im Fahrstuhl.

Nicht nur mir hatten sie alles geraubt. Auch meinen Eltern hatten sie etwas genommen: mich. Als Ersatz hatten sie ihnen Freizeit, mit der sie nichts anzufangen wussten, und Leere in der Seele gegeben.

Genauso dürfte es sich verhalten, wenn die Funktionale ganze Länder und Welten bestahlen. Es war einmal ein Land. Ein mitunter etwas unbesonnenes Land, ein Land voller Unruhe und Probleme, das es verdiente, gescholten zu werden. Und bauz! - schon war es nicht mehr da. Daraufhin erklärten die Funktionale, es habe nie existiert, es sei Blendwerk, Täuschung und Teufelei gewesen. Und dass du ihnen dankbar sein müsstest, weil sie dich von diesem Problem befreit hätten. In deiner Freiheit weißt du nicht, was du tun sollst, aber dafür bist du auch für nichts verantwortlich. Und die Leere in der Seele? Die ist doch ganz normal, sie macht dir das Leben leichter.

»Wie ich euch alle hasse«, zischte ich. Ich begriff nicht auf Anhieb, dass ich Illans Worte wiederholt hatte.

Vielleicht sollte ich zu den beiden gehen? Sie waren bei Kotja. Zusammen stünden wir das besser durch ... Allerdings glaubte ich nicht, dass sie sich sonderlich über mein Erscheinen freuen würden. Der dritte Mann war nur in den wüsten Geschichten nötig, mit denen Kotja seinen Lebensunterhalt verdiente.

Außerdem hatte ich noch jemanden, zu dem ich gehen konnte.

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