Dreizehn

Es gibt Dinge, mit denen kann man sich einfach nicht beschäftigen, solange man angespannt auf etwas wartet. Nicht doch, Sex gehört nicht dazu!

Aber stellen Sie sich vor, Ihre Freundin sei spätabends noch nicht zu Hause. Ihr Handy hat sie nicht dabei. Das Viertel genießt verdientermaßen einen miserablen Ruf, aber Sie wissen nicht, aus welcher Richtung Ihre Freundin kommt, und können sie nicht an der Haltestelle abholen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu Hause zu sitzen und zu warten ...

Die Situation ist auch weniger dramatisch denkbar. Stellen Sie sich vor, dass aus einer undichten Heizung langsam, aber sicher kochendes Wasser in Ihre Wohnung flutet. Der gerufene Notdienst will einfach nicht kommen...

Und jetzt sagen Sie, ob Sie in einer solchen Situation einen spannenden Krimi lesen, Bier trinken oder sich eine lustige Komödie anschauen könnten? Nein, natürlich nicht. Es gibt eine Unmenge anderer Möglichkeiten, um die Zeit totzuschlagen, zum Beispiel könnten Sie ein Plastikmodell des Panzers T-34 zusammenbauen, im Internet chatten oder eine Kreuzstickerei anfertigen. Kurzum alles, was die Finger beschäftigt, dabei jedoch nicht die geringste Hirntätigkeit verlangt.

»Das Bier will mir nicht schmecken«, bemerkte Kotja finster, indem er die Flasche abstellte.

Mir auch nicht. Außerdem war es warm, Nüsse und Chips hingen mir zum Hals raus, die wundervolle Meereslandschaft entzückte mich nicht länger. Ganz augenscheinlich vermochte sich mein Organismus nicht für diese Sprünge vom Winter in den Sommer zu begeistern.

»Eins, zwei, Polizei.« Kotja blickte unermüdlich der Spur des davongeeilten Zeies nach. »Ich fange an, Funktionale von normalen Menschen zu unterscheiden, Kirill.«

»Wie?«, wollte ich wissen. »Siehst du eine Aura?«

»Was für eine Aura? So ein Quatsch, das sind doch bloß Märchen ... Ich sehe einen Menschen an und weiß dann einfach, dass er ein Funktional ist. Bei dem Weib hatte ich übrigens den Eindruck ... dass sie in diesem Punkt auch nicht über jeden Zweifel erhaben ist.«

Ich legte keinen Widerspruch ein. Wie sollte man auch mit einem Menschen streiten, der dir keine Erklärungen geben kann, sondern behauptet, er wisse.

Eine Zeitlang lümmelten wir uns im Sand, sonnten und wärmten uns. Die Moskauer Herbstfeuchte, die sich bereits erfolgreich in unseren Körpern eingenistet hatte, trat widerwillig den Rückzug an. Mir fiel ein Gedankenspiel ein, welches besagte, wenn Peter der Große die russische Hauptstadt nicht an die Ostsee, sondern ans Schwarze Meer verlegt hätte, dann hätte das Leben in Russland einen völlig anderen Lauf genommen. Mit einem Seufzer stimmte ich dem im Stillen zu. Was hatte Peter bloß an dieses kalte und feuchte Ufer gezogen? Obwohl: Vielleicht stand ja zu seiner Zeit ein Turm an der Stelle von Petersburg ... und der Selbstherrscher konnte sich in aller Seelenruhe zu wärmeren Meeren begeben?

Nein, das war blanker Unsinn. Wie sehr man ein Geheimnis auch hüten mochte, irgendwann kommt die Wahrheit ans Licht. Seit der Zeit Peters wäre diese Information durchgesickert ...

»Die Polizei kommt angerannt«, sagte Kotja.

Ich setzte mich auf und schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Ich spürte, dass ich mir bereits einen leichten Sonnenbrand eingefangen hatte. Es wurde Zeit, nach Moskau zurückzukehren. Die Polizei kam in der Tat angerannt, nach wie vor in diesem ungezwungenen, anmutigen Lauf. In der Menschenwelt bringen dergleichen höchstens Massai oder Äthiopier zustande.

Er war allein.

»Der hat sie umgebracht«, kommentierte Kotja leise und mit unverhohlener Verachtung. »Er hat dem Mädchen den Hals umgedreht und sie im Dschungel dem Tod überlassen.«

Wie kam Kotja darauf? Den Hals umgedreht? Sie im Dschungel dem Tod überlassen? Vermutlich wusste er es selbst nicht. Aber dank dieser unbedachten Äußerung gewann das Bild prompt Konturen. Ich malte mir aus, wie Zei zu der Frau aufschloss. Sie versuchte schneller und schneller zu rennen, blieb aber immer wieder im Sand stecken, hangelte hier und da nach einer Liane, blickte panisch zurück, schrie, strauchelte schließlich und fiel mit dem Gesicht in eine schmutzige Pfütze. Zei drückte ihr das Knie in den Rücken, zog brutal am ihrem Haar, brach ihr die Halswirbel, schleifte sie aus dem Dreck und überließ sie, die noch am Leben war, wenn auch paralysiert, unfähig, Arme oder Beine zu bewegen, ja, unfähig selbst zu schreien, dem Tod. So lag dieses dumme Mädchen, das die Macht der bösen Funktionale zerschlagen wollte, unter Palmen und schaute in den hohen Himmel hinauf. Eine kleine Krabbe huschte über ihr Gesicht, pirschte sich zu den Augen vor, wedelte mit den dünnen Barthaaren und hob ihr kleines, spitzes, an eine Nagelschere erinnerndes Kneifwerkzeug ...

»Du bist echt bescheuert!«, zischte ich. »Du solltest Verbrechensmeldungen schreiben, keine Pornos!«

»Mach ich auch manchmal«, erwiderte Kotja traurig.

Zei kam immer näher. Er winkte uns zu und fiel in Schritttempo. Er keuchte nicht, war nicht schweißgebadet und sah keineswegs wie ein Mann aus, der gerade zehn Kilometer hinter sich gebracht hatte. Allerdings spiegelte sich auf seinem Gesicht ... Verärgerung wider.

»Wir warten schon seit fünfundvierzig Minuten«, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.

»Ich habe gedacht, ich wäre schneller zurück«, gab Zei ungerührt zu. Er setzte sich neben uns, nahm sich eine Flasche Bier und presste sie an die Lippen. Unter seiner Haut hüpfte der Kehlkopf auf und ab. In einem einzigen Zug leerte er die Flasche, wischte sich geräuschvoll den Schaum vom Mund und lächelte. »Sie hat mich abgehängt, dieses Aas!«

»Was sagen Sie da?«, wollte Kotja erfreut wissen. Auf seinem Gesicht erstrahlte ein Lächeln: Der Polizist sprach russisch.

»Sie ist eine gute Läuferin«, erklärte Zei. »Ich habe sie gesehen. Aber mir war klar, dass es, wenn ich sie einholte, bereits zu spät sein würde.«

In meinem Hirn schien sich ein Hebel umzulegen. »Das wäre bereits in einem Gelände, wo Sie nicht mehr über Ihre Fähigkeiten verfügen?«

»Hm«, gestand Zei in bitterem Ton. »Von meinem Abschnitt bis zu deinem Turm sind es fünfeinhalb Kilometer. Die Frau hätte ich zehn Kilometer von hier eingeholt. Bei dieser Entfernung hätte ich mich in einen normalen Menschen verwandelt. Und sie ist trainiert, hat es gelernt zu töten. Sie würde ihre Fähigkeiten nicht einbüßen.«

»Und dass es unterschiedliche Welten sind, spielt dabei keine Rolle?«, wollte ich wissen.

»Nein. Die Abstände zwischen den jeweiligen Übergangspunkten werden summiert.«

»Und sie hat Sie also abgehängt?«, hakte Kotja mit aufgesetztem Mitleid nach. Er fragte so scheinheilig, dass ich schon befürchtete, der Polizist würde ihm dafür eine Ohrfeige verpassen. »Oh, oh, oh ... ein einfaches Mädel ...«

»Einfach?« Zei brach in schallendes Gelächter aus. »Sie ist ebenso ein Funktional wie ich oder dein Freund. Nur hat sie ihre Funktion verraten.« Als Zei unser Unverständnis bemerkte, erklärte er: »Sie hat ihre Funktion aufgegeben und ist abgehauen! Gut, niemand kann sie zwingen. Aber jetzt haben wir den Salat. Sie organisiert Widerstandsgruppen, stachelt die Menschen zum Kampf gegen uns an. Einen Gefallen tut sie sich nicht damit!«

»Und wer war sie? Und woher?«, wollte Kotja wissen.

Oh, mein Herz witterte es genau: allzu viel wollte er wissen! Anscheinend hatte die Frau von gestern in seinen Augen jede Anziehungskraft eingebüßt, nachdem klar geworden war, dass sie uns in eine Falle gelockt hatte. Aber so eine Stelle bleibt nicht lange leer ...

»Sie gehörte weder zu uns noch zu euch«, antwortete Zei nebulös. »Sie war Ärztin, dieses dumme Ding ... Ich muss jetzt los, Freunde. Wir sehen uns morgen bei Felix.«

Er klopfte mir auf die Schulter, winkte Kotja einen unbestimmten Gruß zu und ging auf den Turm zu.

»Zei!«, rief ich ihm entgeistert nach. »Kommt sie denn zum Turm zurück?«

Zei blieb stehen. »Vielleicht«, meinte er schulterzuckend. »Ist doch egal, oder?«

»Soll ich sie festnehmen?«

Ohne jeden Zweifel irritierte diese naive Frage den Polizisten. »Die Entscheidung überlass ich dir. Aber wie kommst du darauf?«

»Schließlich ist sie unsere Feindin.«

»Richtig ...« Zei schien in Erstarrung zu fallen. Wie ein englischer Gentleman, dessen treuer alter Freund und Butler in Personalunion plötzlich an einer Tafel Platz nimmt, die Füße auf den Tisch pflanzt und sich eine stinkende Zigarre anzündet. »Aber du bist doch gar kein Polizist! Weshalb solltest du sie da festnehmen?«

»Sie hat mich angegriffen«, erinnerte ich ihn.

»Dann nimm sie fest«, meinte Zei strahlend. »Wenn du willst. Oder bring sie um.«

»Nun sieh dir einmal an, wie einfach bei denen alles ist«, brachte Kotja nachdenklich hervor, sobald Zei im Turm verschwand. »Nimm sie fest oder bring sie um!«

»Bei uns«, warf ich finster ein.

»Bei euch«, bestätigte Kotja. »Hmm. Hör mal, Kirill, kannst du mir etwas Geld leihen? Fünftausend vielleicht?«

Beinahe hätte ich ihn angeblafft, woher ich denn eine solche Summe nehmen sollte. Dann fiel mir jedoch das Umzugsgeld ein. Ich holt das Bündel heraus und gab ihm fünf Noten. »Reicht das?«, fragte ich.

»Ja.« Ungeheuer nervös und verlegen steckte Kotja das Geld weg. »In einer halben Stunde bin ich wieder da. Warte hier.«

»Hast du etwas mit Zei ausgemacht?«, fragte ich, da ich nicht verstand, was er beabsichtigte. Doch Kotja marschierte bereits entschlossenen Schrittes auf den Turm zu.

Wofür er wohl so dringend knapp zweihundert Dollar brauchte? Um eine Flasche eines hochgezüchteten französischen Kognaks zu kaufen? Das sähe ihm so gar nicht ähnlich. Um weitere zehn Kästen Bier zu erstehen? Auch das hielt ich für unwahrscheinlich.

Ich kroch in den Schatten des Turms (der Sand war kühl und ein wenig feucht, doch das empfand ich im Grunde als angenehm) und streckte mich bequem aus. Hatte ein armes, geplagtes Funktional, das noch wer weiß wie lange als Zöllner arbeiten musste, das Recht, sich am Strand zu erholen? Ja. Es hatte sogar das Recht, ein wenig zu dösen.

»Hoch mit dir, Zöllner!«

Ich öffnete die Augen und erblickte Kotja. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. »Was ist?«, fragte ich. »Bewirbst du dich um die Rolle des Pausenclowns?«

Kotja sah zum Davonlaufen aus! Seine nackten Füße steckten in braunen Sandalen, dazu trug er grüne sackartige Shorts und ein bereits jetzt am Kragen ausgeleiertes orangefarbenes T-Shirt. Auf seinem Kopf thronte ein zitronengelber Panamahut, wie er einem überalterten Kindergartenkind gut zu Gesichte stünde. Über seiner Schulter hing eine weiß-blaue Tasche aus Lederimitat.

»Stimmt was nicht?«, fragte Kotja kampfeslustig.

»Du siehst aus wie eine Packung Filzstifte«, murmelte ich. »Chinesischer Filzstifte. Was hast du vor? Wo willst du hin?«

Kotja seufzte. Er drückte mir ein paar Banknoten in die Hand. »Nimm das schon mal ... Das ist das Wechselgeld ... Den Rest kriegst du ... später.«

Ich sah auf das Geld, ein paar zerknüllte Zehner.

»Ich kann jetzt einfach nicht zu Hause hocken, Kirill«, erklärte Kotja. »Wie soll das gehen, wenn hier solche Dinge im Schwange sind? Ich kann auch nicht hierbleiben. Wer bin ich denn schon im Vergleich zu euch? Sag mal, wer!«

»Wer?«, grummelte ich.

»Ein Niemand!«, verkündete Kotja bitter. »Was soll ich neben dir glucken wie ein Haustier? Besser ziehe ich los ... und schau mir an, was das hier für eine Welt ist.«

»Aha«, begriff ich, sobald Kotja den Blick Richtung Wald lenkte. »Na ... dann geh. Ist ja nichts Schlimmes dabei. Du wirst dich doch nicht verlaufen?«

»Ich habe mir einen Kompass besorgt.« Kotja präsentierte mir einen echten Wanderkompass. »Es gibt hier ein Sportgeschäft. Ich habe es entdeckt, als ich von der Metro hergekommen bin. Da habe ich auch noch ein kleines Beil, Camping-Streichhölzer, Büchsenfleisch und Zucker gekauft. Und auch einen Feldspaten.«

»Wozu das denn?«

»Es heißt, dass man ihn unterwegs gut gebrauchen kann.«

Ich blickte ihm in die entschlossen funkelnden Augen, die er genant hinter den Brillengläsern zu verbergen suchte. »Warum hast du dir keinen Rucksack zugelegt?«, fragte ich seufzend.

»Einfach zu teuer«, log Kotja ohne rechte Überzeugungskraft.

»Komm schon, sag die Wahrheit! So ein Ding kostet doch nur drei-, vierhundert Rubel. Höchstens. Und damit nicht mehr als diese Tasche.«

»Ich bin zu blöd, einen Rucksack zu tragen ...«

»Ein Rucksack ist kein Wasserschlauch, Kotja.«

»Mit einem Rucksack sehe ich wie ein Idiot aus.«

»Mit der Tasche siehst du wie ein Idiot aus«, führte ich das Gefecht fort. Ehrlich gesagt, gab ich kaum einen besseren Wanderer ab als Kotja. Aber trotzdem ...

»Rucksäcke kommen für mich nicht infrage«, blieb Kotja stur. »Er reibt mir die Schultern wund, ich bleibe damit an jedem Ast hängen ...«

»Ich geb’s auf«, kapitulierte ich. »Hast du ein Erste-Hilfe-Päckchen dabei?«

»Verbandsmaterial, Jod und Schmerzmittel. Und ein Breitbandantibiotikum. Gegen Durchfall gibt es nichts Besseres.«

»Hast du auch an einen Campingtopf gedacht? An Grütze?«

»Wozu brauche ich einen Campingtopf? Glaubst du etwa, ich will mir Kascha machen? Die hasse ich sowieso. Ich habe Büchsenfleisch, Kondensmilch und Zucker dabei.«

Schweigend streckte ich die Hand nach seiner Tasche aus. Kotja weigerte sich, sie mir zu geben, ja, er zog sie sogar weg.

Wie ich dabei jedoch bemerkte, brauchte ich gar nicht in seine Tasche zu schauen. Schließlich war ich jetzt Zöllner.

»Des weiteren Roggenzwieback, fettreduziert, Marke Jelisaweta«, hielt ich ihm in beißendem Ton vor. »Innerhalb einer halben Stunde haben die Konservenbüchsen den fein säuberlich zermahlen. Außerdem noch die neueste Nummer vom Sport-Express. Besser hättest du eine Rolle Klopapier eingepackt! Wundcreme für Kinder... O ja, nach meinem Dafürhalten dürften dich deine Beine schon recht bald im Stich lassen. Und wozu brauchst du im Dschungel ein Päckchen Kondome?«

Kotja lief krebsrot an. »Ich habe gelesen«, antwortete er trotzdem mit fester Stimme, »allen amerikanischen Einheiten werden Präser mitgegeben, da sie in jeder Lebenssituation von unschätzbarem Wert sind.«

»Reg dich ab!«, sagte ich bloß. »Halt, warte noch!«

Natürlich hatte ich weder einen Rucksack noch einen Campingtopf. Aber immerhin konnte ich ihn mit Klopapier, einer anständigen Kasserolle und einigen Ersatzprodukten für seine dem Untergang geweihten Zwiebäcke ausstatten. Ferner überließ ich dem verliebten Wanderer noch mein gutes Messer (freilich, ein kleines Beil war unterwegs ganz gut - aber was wollte er ohne Messer anstellen?) und meine eigene Decke. Letztere rollte ich fest zusammen und verschnürte sie mit einem in der Küche entdeckten Band so, dass er die Decke anstelle eines Rucksacks auf dem Rücken tragen konnte.

»Danke«, brachte Kotja leicht betreten heraus, als er die Ausrüstung entgegennahm.

»Du könntest mir ruhig sagen, was du vorhast!«

»Ich wandere Richtung Wald«, antwortete Kotja leichthin. »Spazier ein bisschen am Ufer entlang.«

»Gott sei Dank, ich dachte schon, du wolltest in diesen Dschungel ...«

»Das wird sich finden«, erklärte Kotja draufgängerisch. »Warum glauben wir eigentlich, es handle sich um einen Dschungel? Vielleicht ist es ein Birkenwäldchen? Und die einzigen Tiere, die es dort gibt, sind Hasen ...«

»Hm.« Ich starrte auf das dichte dunkle Grün am Horizont. »Birken ... Hasen ... Ja, ja. Hör mal, Kostja ... pass gut auf dich auf.«

»Mach ich.«

Nachdem wir einander verlegen die Hand gedrückt hatten, schulterte Kotja seine idiotische Tasche so bequem wie möglich und brach in Richtung Wald auf.

Ich blieb noch einige Minuten stehen, um zu beobachten, wie er sich entfernte. Mit seinem langsamen Gang, durch den Sand watend und so völlig anders als die ehemalige Frau Doktorin, die zur Terroristin geworden war, so völlig anders auch als der Polizei-Zei. Ein durchschnittlicher Städter eben, den es in die Natur verschlagen hatte und der keinerlei Anstalten machte, sich als erfahrener Wanderer auszugeben.

Von Anfang an hatte ich bei dieser Sache das Gefühl gehabt, der Held eines Abenteuerromans zu sein. Eines Krimis, mystischen Thrillers oder Dark-Fantasy-Romans ... Im Grunde passiert dergleichen aber jedem Menschen, und das ständig, nur ist das Genre normalerweise nicht so spannend. Normalerweise sind wir die Helden tränenreicher Melodramen, in denen es keine schönen Prinzessinnen gibt und keine mutigen Ritter. Langweilige Produktionsromane sind es, in denen sich niemand um deinen Arbeitstriumph schert. Slapsticks, in denen die Rolle des Possenreißers niemand anders als du spielt.

Jetzt, als ich Kotja nachsah, der, gekleidet wie ein Datschenbesitzer beim Ernten der Möhren, tapfer einer fremden Welt entgegenschritt, schoss mir unversehens der Gedanke durch den Kopf, es könne ja auch sein Roman sein. Dann wäre dieser Kotja verdammt, durch fremde Welten zu wandern, von Zollstelle zu Zollstelle, wobei er sich allmählich Muskeln zulegte, die Kunst des Kampfes mit einem Campingbeil - und der entsprechenden Schaufel! - erlernte, die schmale Brust spannte und an Schulterbreite gewann. Unterwegs würde ein Augenarztfunktional seine Kurzsichtigkeit heilen. Schließlich würde Kotja seine dunkelhäutige Prinzessin finden, die beiden würden einen Volksaufstand gegen die Funktionale organisieren und dabei als Allererstes Zei die Fresse polieren ... Derweil säße ich im Turm und würde sämtliche Passanten anbrüllen: »He, was fällt dir ein? Du stürmst ins Mittelalter, und in deiner Tasche steckt eine Makarow!« Denn von den Helden und Schurken abgesehen, treten in Abenteuerromanen ja immer Personen auf, die Getreide ernten, Häuser bauen und Fisch fangen...

Puh!

Was für ein Pathos!

Ich drehte mich um und begab mich zurück in den Turm. Vermutlich würde Kotja schon morgen wieder da sein. Oder übermorgen. Zerknautscht und nach der auf nacktem Boden verbrachten Nacht kreuzlahm, mit gesprungener Brille und von Mücken zerstochen ...

Da ich es den Helden aus Abenteuerromanen nicht nachtun wollte, füllte ich im Bad einen Eimer mit Wasser und suchte mir einen Schrubber sowie einen Putzlappen. Was muss da für ein idiotischer Mechanismus bei der Materialisation von Dingen am Werke sein, der einen von vornherein dreckigen und zerlöcherten Wischlappen bereitstellt?

Ich krempelte mir die Ärmel hoch und machte mich, im Erdgeschoss beginnend, daran, den Boden zu wischen. Mir fiel nicht ein einziger Roman ein, in dem der Held den Boden schrubbt. Das ist keine Arbeit für Helden. Aber was bleibt einem anderes übrig, wenn einem jemand alles verdreckt?

Der Schrubber nützte wenig, ich musste runter auf alle viere und den Boden scheuern wie in meiner Kindheit. Nach dem Schulabschluss hatte ich es irgendwie fertiggebracht, mit einem Staubsauger auszukommen ... oder mit den Besuchen meiner Mutter ... oder der Freundinnen, die sich als saubere und ordentliche Hausfrauen präsentieren wollten.

An der Tür nach Moskau klopfte es.

»Immer rein, es ist offen!«, schrie ich genervt, während ich aufstand. Mein Rücken schmerzte ein wenig.

Es war der Politiker Dima, der den Turm betrat.

Er sah sehr seltsam aus. Wie ein normaler Mensch. In Jeans, schmutzigen Schuhen und einer Jacke aus »vaterländischer Produktion«, wie sie es nannten, da in ihrem Parlament. In der Politik kleiden sich so nur Vertreter der Splittergruppen oder diejenigen, denen eine Begegnung mit dem Volk bevorsteht.

»Wenn Sie sich kurz gedulden wollen«, bat ich. »Ich mache hier gerade sauber.«

»Ordnung muss sein«, lobte Dima. »Die hätten wir schon längst herstellen müssen. Kirill. Leg diesen Lappen beiseite. Wir müssen miteinander reden, ich habe aber nur wenig Zeit.«

Mit einem Nicken ließ ich von meinem Lappen ab. »Wenn Sie wollen, können wir auch da hin ... zum Meer«, schlug ich vor. »Um völlig ungestört zu sein.«

»In deinem Turm kann uns niemand hören«, wehrte Dima kopfschüttelnd ab. »Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Hast du einen Kaffee?«

»Löslichen. Geht der?«

»Ja«, gab sich der Politiker bescheiden, um sogleich nachzuschieben: »Wenn löslich, dann los!«

Leicht irritiert bat ich den Politiker nach oben. Ich wusch mir die Hände und setzte den Kessel auf. Eine Espressokanne fand ich zwar, aber der entsprechende Kaffee fehlte ...

»Du lebst bescheiden«, bemerkte der Politiker, während er sich umsah. »Dir fehlt noch ein Kühlschrank. Ich werde dafür sorgen, dass du einen kriegst. Und auch Lebensmittel. So weit kommt es noch, dass du hungerst. Ich habe ein wenig über dich in Erfahrung gebracht. Entschuldige das bitte.«

»Aber nicht doch, das macht nichts!« Verblüfft registrierte ich, dass die autoritäre Stimme des Abgeordneten in mir den Wunsch hervorrief, mit ihm einer Meinung zu sein. Wäre ich mir nicht sicher gewesen, einen normalen Menschen vor mir zu haben, hätte ich in ihm ein Politikerfunktional vermutet. »Das verstehe ich doch.«

»Du bist ein guter, ein anständiger Junge«, fuhr der Politiker fort. »Deine politischen Ansichten interessieren mich kaum, stimme, für wen du willst ... Die Politik ist von Natur aus ein schmutziges Geschäft, das wissen wir selbst. Aber alles andere an dir gefällt mir. Du hast nicht die Absicht, unser Land jemals zu verlassen. Du leidest von ganzem Herzen mit ihm. Du hast ein Leben ... nun ja, fast ohne Ausschweifungen geführt.«

»Warten Sie mal!«, verlangte ich beinah kreischend. »Wie haben Sie das herausgekriegt? Schließlich bin ich ... aus Ihrer Realität verschwunden, oder?«

»Natalja hat mir dein Dossier zur Verfügung gestellt«, erklärte der Politiker. »Du wirst verzeihen, aber ich musste meine Bedenken in Bezug auf deine Moralvorstellungen anmelden, und da hat sie ...«

»Sie hat ein Dossier über mich? Und was steht da drin?«

»Alles.«

Ich hüllte mich in Schweigen. Zu erfahren, es existiere ein Dossier, in dem alles über einen festgehalten ist, ist nicht gerade angenehm. Noch unangenehmer ist es freilich, einem Menschen gegenüberzusitzen, der dieses Dossier gelesen hat.

»Sie ist schließlich eine Hebamme. Es ist ihre Arbeit, alles über einen Menschen zu wissen, der zum Funktional wird.« Der Politiker sah mich mit offenem Mitgefühl an. »Du brauchst jetzt nicht nervös zu werden. Mich hat nur eins interessiert: Ob du ein Patriot bist. Es hat sich herausgestellt, dass dem so ist.«

»Braucht das Vaterland denn meine Hilfe?« Entgegen meiner Absicht klang das nicht ironisch, sondern pathetisch.

»Ja, Kirill. Da du hintereinander die Türen nach Kimgim und zum Meer, mithin zu zwei ungemein populären Welten geöffnet hast, musst du hervorragende Anlagen haben. Und über eine ganz vorzügliche Mischung aus Geschäftssinn und Romantik verfügen. Ich kann mich nicht erinnern, dass diese beiden Welten je zuvor einen gemeinsamen Übergangspunkt mit der unseren gehabt hätten ...«

»Und was soll ich tun?«, fragte ich, derweil ich heißes Wasser in die Tassen goss. »Diplomatenpost überbringen? Ein geheimes Päckchen aus Kimgim nach Moskau schmuggeln?«

»Von dir wird verlangt, eine Tür in eine neue Welt zu öffnen«, erklärte der Politiker mit fester Stimme. »Ich weiß, dass diese Welt existiert. Aber ihre Tür wurde über fünfzig Jahren nicht geöffnet. Dir, davon bin ich überzeugt, könnte das gelingen.«

»Weshalb soll ich diese Tür öffnen?«, fragte ich amüsiert. »Langweilen sich die Herren Funktionale in den bereits zugänglichen Welten?«

»Ich bin kein Funktional!«, polterte der Politiker mit einem Mal los. Er erhob sich und bedachte mich mit einem zornigen Blick. »Und betrachte mich nicht als Feind! Diese Tür ist für unsere Heimat wichtig. Die auch deine Heimat ist!«

Am liebsten hätte ich ihn jetzt ebenfalls angeschrien. Sollen sie doch in ihrem Parlament geifern, da ist sowieso immer die Hölle los. Erst vor Kurzem hat in der Kommission zur moralischen Erziehung der Jugend ein Abgeordneter einem anderen mit einem Schlagring das Jochbein gebrochen ...

Doch plötzlich, wie ich den Politiker so anstarre, wird mir zu meiner eigenen Überraschung klar, dass er das alles ernst meint. Weder ist er auf ein extravagantes persönliches Vergnügen erpicht, noch will er eine Intrige gegen Natalja Iwanowa und Konsorten anzetteln. Er hat wirklich den Traum, das Leben in Russland zu verbessern!

»Wie soll ich denn diese Tür öffnen können?«, frage ich, nun schon wieder in einlenkendem Ton. »Die gehen doch von allein auf. Morgens.«

Der Zorn des Politikers verpuffte ebenfalls. Er nahm wieder Platz, griff nach der Tasse und gab großzügig Kaffeepulver in das heiße Wasser. »Ich weiß es nicht«, legte er die Karten offen auf den Tisch. »Aber du bist schließlich ein Funktional. Ihr müsst doch ... äh ... einigermaßen aufgeweckt sein, oder?«

Das klang fast mitleidig.

»Ich bin noch nicht lange in der Branche tätig«, betonte ich überflüssigerweise. Dann setzte ich mich dem Politiker gegenüber und fuhr fort: »Was genau ist denn nun nötig? Wohin muss die Tür gehen?«

Noch während ich diese Worte aussprach, begriff ich mit absoluter Sicherheit, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. Selbst die überraschende Sympathie, die ich diesem Politiker entgegenbrachte, konnte daran nichts ändern. Die Antwort würde mir nicht gefallen! Ebenso wenig wie das, was er da einleitete ...

Und genauso ist es dann auch gekommen.

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