Vierzehn

In jedem guten Märchen gibt es einen Moment, in dem der Held auf eine Suche geschickt wird. Iwan Zarewitsch bricht auf, die Äpfel der ewigen Jugend zu finden. Bilbo zieht schweren Herzens mit seiner Zwergenbande los, den Schatz des Drachen aufzuspüren. Harry Potter sucht die Kammer des Schreckens. Atréju setzt alles daran, die Grenzen Phantásiens zu entdecken.

Auf all diese Abenteuer, die für den gebannten Leser so unterhaltsam sind, könnte der Losgeschickte selbst allerdings gut und gern verzichten! Iwan Zarewitsch könnte seine Zeit auf dem Heuboden mit einer rotwangigen Bauernmagd verbringen, Bilbo eine Pfeife mit dem aromatischem Kraut der Halblinge schmauchen, Harry Potter in Sublimierung seiner Teenagerkomplexe auf seinem Besen fliegen und Atréju sich auf die Jagd nach purpurroten Bisons machen. Aber der Befehl ist nun einmal gegeben. Väterchen Zar scheucht seinen Jungen vom Hof, die strengen Zwerge zwingen Bilbo, sich auf die behaarten Füße zu machen, der schreckliche Basilisk huscht in seine Höhle, das Nichts zerstört methodisch Phantásien. Dem Helden bleibt keine andere Wahl als loszuziehen.

Freilich ist anzumerken, dass die genannten Suchen auf etwas Materielles gerichtet sind. Die Äpfel der ewigen Jugend, einen Sack voll Gold, ein finsteres Verlies unter der Schule (wobei natürlich jedes Kind weiß, dass es unter jeder Schule finstere Verliese gibt), eine Grenzsäule mit der Aufschrift: »Hier enden des Autors Phantasien«.

Nur in sehr, sehr seltenen Ausnahmen muss der Held nach etwas Immateriellem suchen. Nein, nicht nach etwas, »das es auf der schönen weiten Welt nicht geben kann«. Hinter dieser Phrase steckt ganz bestimmt das unsichtbare Monster aus der Feuerroten Blume, dieser russischen Variante von der Schönen und dem Biest. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass die Gefährten der kleinen Elli aus Wolkows Der Zauberer in der Smaragdenstadt dort nach Verstand, Beherztheit und Liebe suchten, am Ende jedoch nichts anderes erhielten als Holzklötze, Sägemehl und Rizinusöl.

Deshalb hatte ich denn auch erwartet, der Politiker Dima würde mir jetzt etwas davon erzählen, wie dringend unser Vaterland Gold und Brillanten bedürfe. Oder wenigstens uralter Geheimnisse und neuer Technologien.

Doch da sollte ich mich geirrt haben. Unrecht hatte ich ihm damit getan.

Ohne das Gesicht zu verziehen, nippte Dima an seinem inzwischen kalten sauren Kaffee. »Ich möchte dich bitten, für unsere Heimat eine nationale Idee zu finden«, sagte er schließlich. »Eine neue nationale Idee.«

Einen ausgedehnten Moment lang sahen wir einander an.

»Und was soll ich sonst noch finden?«, fragte ich. »Altruismus? Verstand, Ehre und Gewissen? Mehrwert?«

»An Altruismus glaube ich nicht. Verstand, Ehre und Gewissen hatten wir bereits. Auf Mehrwert können wir getrost verzichten, denn wir wollen ohne Revolutionen auskommen. Wir brauchen eine Weltanschauung.«

»Dima«, sagte ich in unnachgiebigem Ton, »reden Sie mit mir bitte in einfachen Worten. Ich will ja gern helfen. Soll es allen gut gehen, Russland, unserer Hauptstadt Moskau und der ganzen fortschrittlichen Menschheit. Allerdings bin ich ein geborener Dummkopf. Man muss mir die Dinge erklären, damit ich sie verstehe.«

»Es existiert eine Welt mit dem Namen Arkan. Die Zugänge zu ihr öffnen sich nur selten. Das letzte Mal gab es eine Tür im Ural, im Gebiet Orenburg ... Sie wurde 1954 auf Anordnung des Zentralkomitees der KPdSU zerstört. Der Befehl geht noch auf Stalin zurück, konnte zu seinen Lebzeiten jedoch nicht ausgeführt werden ...« Dima verstummte. »Nein, damit sollte ich nicht anfangen«, urteilte er dann kopfschüttelnd. »Die Funktionale reden nicht gern über Arkan. Das Wichtigste habe ich aber dennoch in Erfahrung gebracht. Arkan entspricht der Erde. Es ist die einzige Welt, die mit unserer hundertprozentig übereinstimmt. Mit einem Unterschied: Arkan ist der Erde um etwa fünfunddreißig Jahre voraus.«

»Aha«, sagte ich. »Dann ist es also unsere Zukunft?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Politiker. »Doch selbst wenn es unsere Zukunft ist, dann ist sie nicht vorherbestimmt. Sollten wir in diese Welt gelangen können ... ihre Zeitungen lesen, ihre Geschichtsbücher und Enzyklopädien auswerten ... dann wüssten wir, welche Gefahren unserem Land drohen könnten. Und was echte Patrioten unternehmen müssten, um ihrer Heimat zu helfen.«

»Haben Sie schon jemanden darum gebeten, die Tür dorthin zu öffnen?«, fragte ich. »Natalja vielleicht?«

Der Politiker verzog das Gesicht. »Dir ist nicht klar, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen ... Ja, ich habe sie gebeten. Sie hat mir geantwortet, die Türen ließen sich nicht auf Befehl öffnen. Danach ist sie nie wieder auf dieses Thema zurückgekommen. Ich habe nichts, womit ich sie unter Druck setzen könnte. Was könnte ich einem Funktional schon entgegensetzen?«

»Macht.«

»Das ist sehr schwer. Weißt du, wie vor einem halben Jahrhundert dein Kollege ums Leben gekommen ist? Jener Zöllner, der den Zugang nach Arkan kontrolliert hat?«

»Nein.«

»Egal, das braucht uns hier auch nicht weiter zu interessieren.« Der Politiker lächelte. »Jedenfalls hatte er sich geweigert, den Zugang nach Arkan zu schließen. Er hätte das auch gar nicht gekonnt. Im Grunde hätte er dafür seine Funktion aufgeben müssen ... und das wollte er nicht. Über ein Jahr lang hat die Regierung mit den Funktionalen verhandelt. Das Ganze wurde noch dadurch erschwert, dass ihr keine klare übergeordnete Macht habt, sondern nur ein lockeres System von Ältesten und starken Anführern. Schließlich billigten die Funktionale der Regierung der UdSSR das Recht zu, ihr Verhältnis mit dem unbotmäßigen Zöllner unter sich zu klären. Das riesige Land gegen ein einzelnes Funktional ... Ich glaube, deine Leute wollten einfach sehen, was dabei herauskommt. Wer wen in die Knie zwingt ...«

»Und?«

»Bis heute gibt es keinen Zugang nach Arkan mehr«, antwortete Dima ausweichend. »Soweit mir bekannt ist, auch in anderen Ländern nicht. Dabei brauchen wir ihn ... so dringend!«

»Gut«, kapitulierte ich. »Das ist interessant. Vermutlich auch nützlich. Ich bin einverstanden.«

Der Politiker schlug mir kräftig auf die Schulter. »Prima. Stell dir das doch bloß einmal vor ... wir wüssten, welche Gefahren dem Land von außen drohen, welche Maßnahmen der Regierung beim Volk Anklang finden und welche nicht, wie eine anständige Regierung auszusehen hat ... das wäre ein ungeheurer Vorteil!«

»Dann noch die Erdbeben, Brände, Terroranschläge, Katastrophen, Epidemien ...«, ergänzte ich.

»Tsunamis, Vulkanausbrüche«, pflichtete mir der Politiker bei.

Misstrauisch blickte ich ihm in die Augen. Machte er sich über mich lustig?

»Man muss global denken, Kirill«, sagte der Politiker vorwurfsvoll. »Stell dir vor, am Vorabend des Tsunamis im Pazifik hätte Russland die Völker dieser Region vor der Gefahr gewarnt! Wir hätten ja behaupten können, unsere neuesten Sputniks hätten das beobachtet ... Was hätte Russland da an Autorität auf der internationalen Bühne gewonnen!«

»Äh ... ja, klar«, räumte ich ein. »Das habe ich nicht bedacht. Also, was soll ich tun? Wie kann ich die Tür dorthin öffnen?«

Dmitri erhob sich und fing an, durch die Küche zu tigern. Dann schaute er durch das Fenster nach Kimgim. »Diese Welt ist sehr beliebt«, sagte er. »Jeder dritte Zöllner öffnet einen Zugang zu ihr. Sogar noch mehr ... Und weißt du auch, warum? Das ist ein Jules-Verne-Land. Eine Welt, in der die Technik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stehen geblieben ist. In der riesige Dampfmaschinen gebaut worden sind und man ein Schienennetz, keine Autobahnen anlegt hat. Wo in den Ozeanen Ungeheuer leben und der Erdball noch nicht vollständig erforscht ist ... Australien zum Beispiel ist noch nahezu unbesiedelt. Hier ist das Leben einfach, Kirill. Gemütlich. Viele verbringen gern ihren Urlaub hier.«

»Wer sind viele?«

»Politiker. Dort kommen sie nämlich auch auf ihre Kosten. Sie können auch da ihre Intrigen spinnen. Diese Welt ist ein Flickenteppich. Es gibt Stadtstaaten, Konföderationen unabhängiger Fürstentümer und freier Gebiete. Hier finden Spielzeugkriege statt, fünfhundert Mann gegen siebenhundert zum Beispiel. Mit klaren Regeln der Kriegführung. Sogar die Schurken sind ausnahmslos wie aus der Operette ... Viele von uns kaufen sich ein kleines Häuschen in einer Stadt, geben sich als Reisende aus ... und verbringen dort jedes Mal ihren Urlaub. Dem Volk sagen sie dann, sie flögen auf die Kanaren, dabei stehlen sie sich hierher, nach Erde-3.«

»Erde-3?«

»Gewiss. Glaubst du etwa, die ganze Welt würde nach einer einzigen Stadt benannt? Kimgim ist populär, aber mehr auch nicht ... Deine zweite Tür führt zu Erde-17. Dort gibt es keine Menschen. Anfangs hat man angenommen, durch diese Tür gelange man weit zurück in die Vergangenheit, aber dort wachsen ganz normale Pflanzen und leben die üblichen Tiere. Genau wie auf der Erde. Nur eben ohne Menschen. Ein sehr beliebter Ort zum Entspannen ... Sobald die ersten Touristen kommen, jag sie ein Stück weiter, damit sie ihre Schaschliks nicht direkt am Turm grillen. Sonst wird hier bald alles verpestet sein!«

»Wie soll ich das denn machen? Da werden doch vermutlich durch die Bank Politiker und Oligarchen antanzen. Oder etwa nicht? Und ein paar Kulturschaffende.«

»Wach auf, Kirill.« Dima warf mir einen ironischen Blick zu. »Was können Politiker und Oligarchen dir schon anhaben? Du gehst auf sie zu, ziehst die Augenbraue in aller Strenge hoch, drohst ihnen mit dem Finger - und schon herrscht Ordnung. Du kontrollierst einen sehr günstig in Moskau gelegenen Durchgang zwischen den Welten. Das fällt stärker ins Gewicht als hundert Ölfördertürme, glaub mir ...«

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum sich die Türen eigentlich öffnen.«

»Die Türen führen in die Welten, in die du gelangen möchtest. Deshalb glaube ich ja auch, dass es dir gelingen könnte. Normalerweise ziehen Erde-3 und Erde-17 ganz unterschiedliche Menschen an. Du bist anscheinend vielseitig genug veranlagt, um beide Türen zu öffnen. Vielleicht gelingt es dir also auch mit Arkan?«

»Welche Nummer trägt diese Welt denn?«, wollte ich aus irgendeinem Grund wissen.

»Das ist eine episodisch geöffnete Welt. Solche Welten werden nicht nummeriert. Sie heißt einfach Arkan.« Der Politiker ging zur Treppe und sah mich nachdenklich an. »Ich muss jetzt los. Versuch es, Kirill. Ich glaube an dich. Ein, zwei Wochen bist du noch imstande, deinem Land zu helfen.«

»Und danach?«

»Danach wird es dir allmählich gleichgültig.« Dima breitete betrübt die Arme aus. »Deshalb war mir auch so daran gelegen, frühzeitig mit dir zu reden. Dir bleiben noch zwei Türen, Kirill. Zwei Welten. Ich bitte dich, alles daranzusetzen, diese Chance zu nutzen.«

Dann ging er die Treppe hinunter. Ich folgte ihm. Als ich den Politiker zur Tür brachte, konnte ich mich davon überzeugen, dass ihn in der Tat niemand hergefahren hatte. Oder aber die Leibwächter warteten in einiger Entfernung vom Turm auf ihn. Dima stellte den Kragen seiner Jacke hoch und stapfte davon, ganz wie ein Detektiv in einem klassischen Krimi vornübergebeugt.

»Eine nationale Idee«, sagte ich leicht verzückt, als ich die Tür schloss. »Klar! Nichts einfacher als das!«

Natürlich hatte das Anliegen des Politikers etwas für sich. Falls es wirklich eine Welt gab, in der der Kalender uns weit voraus war, warum sollten wir uns das dann nicht zunutze machen? Um Stroh an den Stellen auszulegen, an denen wir eventuell strauchelten?

Andererseits: War das denn überhaupt noch möglich? Schließlich ließen sich die Worte des Politikers auch dahingehend interpretieren, dass Stalin befohlen hatte, den Zugang nach Arkan zu zerstören, sobald er vom Zusammenbruch der Sowjetunion Kenntnis bekommen hatte. Gehen wir einmal von dieser Prämisse aus. Warum hatte er dann Chruschtschow und Gorbatschow in Ruhe gelassen?

Der gute Dima hielt doch mit etwas hinterm Berg! Wie viel einfacher ist es da doch, wenn dich jemand um etwas Konkretes bittet. »Und batz ... Hier, mein König, der Kopf des Drachen! Ich habe mein Versprechen gehalten!« Worauf die Antwort folgt: »Und ich halte das meine, Prinz! Ich gebe dir die Prinzessin zur Frau! Schmatz ... «

Dennoch nahm ich mir vor, mein Versprechen ehrlich einzuhalten.

Teilweise, um meinem Land zu helfen. Teilweise aus Neugier. Monsterkraken am Ufer und ein umschmeichelndes Tropenmeer in der Sonne sind zweifellos reizvoll. Aber werden die Menschen zum Mars fliegen oder Städte auf dem Mond bauen? Wird es zu einem Weltkrieg kommen? Kann man Krebs, Aids und Schnupfen heilen? Verfilmt Peter Jackson den Hobbit?

Unversehens malte ich mir ganz egoistisch all die Freuden aus, die mir dieses Türchen in die Zukunft bereiten würde. Freilich, ich konnte sämtliche Krankheiten von Funktionalen behandeln lassen und die kulinarischen Meriten in Felix’ Restaurant genießen. Doch keiner von ihnen würde einen Roman wie Umberto Eco schreiben, einen Film wie Spielberg drehen, ein Lied anstelle von Arbenin singen, nicht Fallout 3 veröffentlichen.

Ich würde es versuchen. Ich würde mich schlafen legen und von der Zukunft träumen.

So schnell sollte ich allerdings nicht ins Bett kommen.

Zunächst musste ich noch den Fußboden im Erdgeschoss zu Ende wischen. Anschließend sammelte ich den Müll vom Strand ein. Die vollen Bierflaschen brachte ich in die Küche, wo ich das Fehlen eines Kühlschranks bedauerte, weshalb ich ein paar Flaschen ins kalte Wasser legte. Ich kehrte noch einmal an den Strand zurück, setzte mich hin und schaute aufs Meer. Hinter mir ging die Sonne unter, und mein Schatten erstreckte sich bis hin zum Wasser. Der Schatten des Turms schien sich sogar bis zum Horizont zu dehnen.

Mich lange am Anblick des Sonnenuntergangs zu weiden war mir nicht vergönnt. An der Tür nach Kimgim klopfte es. Warum auch immer, doch ich nahm an, Zei sei zurückgekommen.

Vor mir standen dann allerdings zwei gut gekleidete Gentlemen (die Zunge weigerte sich, sie anders zu bezeichnen), die wie Vater und Sohn oder Onkel und Neffe wirkten und sich dafür interessierten, wohin man durch meinen Turm käme.

Moskau reizte sie nicht. Meinem Gefühl nach lockte sie überhaupt kein Ort unserer Erde, was ich ihnen sogar ein wenig verübelte. Die Tropenwelt sahen sie sich dagegen höchst interessiert an, am Ende passte jedoch auch sie ihnen nicht.

Wir verabschiedeten uns mit ausgesuchter Höflichkeit voneinander. Bei dieser Gelegenheit bot mir der ältere der beiden Männer, den ich insgeheim »Onkelchen« getauft hatte, eine Zigarre an. Ich ließ mir die Sache kurz durch den Kopf gehen, bevor ich das Geschenk annahm. In meinem Inneren schrillten keine Alarmglocken los. Offenbar durfte ein Zöllner kleinere Aufmerksamkeiten akzeptieren.

Kurz darauf klopfte es an der Moskauer Tür.

Diese Gruppe setzte sich aus den Stammgästen angesagter Partys und Nachtclubs zusammen. Obwohl ich mich nicht an seinen Namen erinnerte, erkannte selbst ich einen populären Rapper (in Wirklichkeit sah er noch wie ein Junge aus, wie ein selbstsicherer, großspuriger Junge) und eine siebzehnjährige Blondine aus einer dieser Girl-Groups à la Lollies, Poppies oder Lolliepoppies. Nie vermochte ich mir die Namen dieser seltsamen Formationen einzuprägen, bei denen es weder auf Stimme noch Text, sondern auf ein paar langbeinige flotte Sängerinnen ankommt, die sich voneinander einzig und allein durch die Farbe ihrer Haare unterscheiden.

Der Rapper und die Sängerin hatten ihre Entourage dabei, bestehend aus zwei Jungs und zwei Mädels. Offenbar Fans. Sie alle waren nicht älter als zwanzig. Die frechen Blicke, die teure Kleidung und die am Straßenrand geparkten Autos wiesen sie ebenfalls als Vertreter der Goldenen Jugend aus. Im Unterschied zum Rapper und zur Sängerin amüsierten sie sich freilich mit fremdem Geld. Ihre Mamas und Papas hatten sich irgendwann mal höchst erfolgreich ein Stückchen unseres Landes unter den Nagel gerissen. Und da das Land groß, das Stück üppig war, vermochten die Sprösslinge jetzt ihre Zeit damit zu verbringen, zwischen Pariser Boutiquen (extravagante Individuen bevorzugen die Londoner) und angesagten europäischen Discos (die avantgardistische Jugend wählt die japanischen) hin und her zu pendeln.

Von den sechs wusste nur einer über Funktionale Bescheid, nämlich der Rapper. Die Sängerin schien von einer Welt in die nächste zu reisen, ohne sich darüber auch nur im Geringsten zu wundern. Die Goldene Jugend - mein Vater nannte solche wie sie aus irgendeinem Grund Majore - hatte eine Heidenangst, was sie nur noch dreister und unangenehmer machte. Der Rapper wählte ohne viel Federlesens Erde-17. Kaum wurde die Jugend des Meers ansichtig, das golden in den Strahlen der untergehenden Sonne schimmerte, stimmte sie ein begeistertes und ausgefeiltes Gefluche an. Nur ein kupferrot gefärbtes Mädchen, das ihrem Galan an der schmalen Schulter hing, piepste etwas in der Art, dass die färöischen Inseln cooler seien. Warum ihr ausgerechnet die kalten Färöer einfielen, entzog sich meiner Kenntnis. Vielleicht war das der einzige Ort, an dem ihre Bekannten noch nicht gewesen waren und gegen den sie folglich nichts einzuwenden vermochten.

Zu gern hätte ich den Alkohol und die in Hemd- und Hosentaschen gestopften Psychedelika dieser Touristen konfisziert. Doch in das Reservat von Erde-17 durfte man jeden Mist mitnehmen.

Daher begnügte ich mich damit, ihnen eine gepfefferte Zollgebühr abzuknöpfen. Sogar für die Präservative, die Jungs wie Mädels mit sich führten.

Sie ließen es sich gefallen. Und die knapp zweitausend Rubel Gebühren zahlten sie, ohne mit der Wimper zu zucken. In meinem früheren Leben hätte ich mich in der gleichen unbekümmerten Weise von zwanzig Rubeln getrennt.

Nachdem ich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ging ich hinauf in die Küche. Das Bier war inzwischen kalt geworden. Ich öffnete eine Flasche und riss ein Tütchen Pistazien auf. Ich trank ein Glas aus und goss mir ein zweites ein. Dann trat ich ans Fenster, das zum Reservat hinausging.

Die Jugend badete im Meer. Laut und ausgelassen. Ganz wie normale Menschen. Der Rapper und ein anderer junger Mann schwammen weit raus, die anderen planschten im flacheren Wasser. Ich blickte in Richtung Wald. Niemand. Irgendwo da befand sich die flüchtige Terroristin. Ihrer Spur folgte hartnäckig Kotja, der sich die verschwitzten Füße wund lief, das eine oder andere Mal stolperte, sich die Brille zerschlug ... Ohne Verletzungen, dessen war ich mir sicher, würde er sich durch diese hügelige Gegend nicht durchschlagen können!

Seufzend trat ich ans Fenster nach Kimgim. Dort war es inzwischen ganz dunkel, es schneite, leicht und weihnachtlich. Einzig die fensterlosen Ziegelbauten ringsum passten nicht ins Bild.

Schlecht hatte ich es getroffen! Ausgerechnet in der Nachbarschaft von Fabriken hatte mein Turm entstehen müssen! Wenn er doch bloß auf einem kleinen Hügel stünde, nicht weit von Felix’ Restaurant. Dann würde ich jetzt auf schmucke Häuschen mit Ziegeldach blicken, aus deren Schornsteinen ein wohlriechender Rauchfaden in den Himmel aufstieg, während Schlitten durch den Schnee fuhren, Kinder in den Höfen Schneeballschlachten veranstalteten, höfliche Gentlemen sich voreinander verbeugten, Damen in prachtvollen Kleidern ihre winzigen Hündchen Gassi führten ... Später würde ich ins Restaurant schlendern, eines dieser salzigen Schalentiere mit einer Beilage aus eingelegten Artischocken zu mir nehmen, Wein trinken und mich mit einem intelligenten Menschen unterhalten.

Oder wenn der Turm wenigstens am Ufer neben der Weißen Rose entstanden wäre! Dann stünde ich jetzt am Fenster und sähe auf das graue, trübe Meer hinab, auf die heimtückischen Tentakel der Kraken, die auf den Turm zukrochen. Ein kalter Wind würde mir die Haare zerzausen, während ich mit dem wissenden Lächeln eines vom Leben enttäuschten Mannes in die Ferne blickte. Möglicherweise würde ich mir sogar die geschenkte Zigarre anzünden.

Während ich langsam mein Bier austrank, fiel ich immer stärker in Melancholie. In Kotjas Anwesenheit durfte ich mich immerhin noch in der Illusion wiegen, ich hätte mich nicht ganz und gar von meinem bisherigen Leben verabschiedet. Jetzt hingegen, da ich die gesellige Jugend beobachtete, fühlte ich mich mit einem Mal sehr, sehr allein. Und alt obendrein. Dabei jedoch nicht durch Erfahrung weise, sondern lediglich müde und verbraucht.

Am Strand wanderten Champagnerflaschen von Hand zu Hand. Die Mädels stimmten einen hirnlosen Song an. Vermutlich einen aus dem Repertoire ihrer Idole.

»Wenn ihr rumgrölen wollt, macht das woanders!«, schrie ich aus dem Fenster.

»Halt doch die ...«, setzte einer der Fans vom Ufer an. Der Rapper stürzte jedoch wie von der Tarantel gestochen zu ihm, hielt ihm den Mund mit der Hand zu und erklärte ihm etwas mit gedämpfter Stimme. Der Junge begriff schnell. Mit dem gleichen inneren Engagement wie zuvor legte er los: »Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir bitte, es kommt nicht wieder vor, wir werden keinen Lärm mehr machen!«

Ich schloss das Fenster und verzog das Gesicht. Ein toller Sieg! Ich hatte einem betrunkenen Halbstarken eine Abfuhr erteilt! Wahrlich ein unvorstellbarer Triumph für ein Funktional!

Es wurde Zeit, ins Bett zu gehen.

Aber einschlafen ließen sie mich denn doch nicht gleich. Der Rapper stellte sich als gar nicht so dummer Junge heraus und wusch seinem Kumpel tüchtig den Kopf. Eine halbe Stunde später klopfte die leise gewordene Gesellschaft an der Tür, verabschiedete sich ausgesprochen höflich von mir und kehrte nach Moskau zurück. »Solche«, riet ich dem Rapper beim Abschied, »bring nicht mehr mit!«

Der Junge nickte energisch. Mir war unklar, ob er schon lange in die Welt der Funktionale eingeweiht war, aber fraglos wusste er bereits, dass es sich nicht empfahl, sich mit uns anzulegen.

Nachdem ich hinter ihnen abgeschlossen hatte, wollte ich mich schlafen legen, fest entschlossen, die Tür kein weiteres Mal zu öffnen, wer auch immer klopfen mochte. Sollten doch ruhig Abgeordnete und Musiker an die Moskauer Tür wummern, sollten doch ruhig auf der Kimgimer Seite Felix und Zei hämmern und vom Strand her Kotja an mein Gewissen appellieren! Pech gehabt, sie alle müssten sich bis morgen früh gedulden.

Ich würde schlafen und mir die Tür in die Zukunft vorstellen. In die Welt mit dem Namen Arkan, wo wir aus fremden Fehlern lernen konnten ...

Beim Einschlafen dachte ich rechtschaffen nur an Arkan. Gegen Morgen jedoch, im Halbschlaf vor dem Aufwachen, träumte ich, die neue Tür würde sich erneut nach Kimgim öffnen, direkt ins Restaurant von Felix. Vorm Turm würde sich eine Gruppe von Funktionalen stauen, Männer wie Frauen, alt und jung, die mich in jeder nur denkbaren Weise beschuldigten, leichtfertig mit den Durchgängen zwischen den Welten umzugehen, ihren Wert nicht zu verstehen und weitere asoziale Verhaltensweisen an den Tag zu legen. All das schaukelte sich hoch, bis es schließlich zu einer Art Gewerkschaftsversammlung kam, bei der es Rügen, versteckte Gemeinheiten und eine allgemeine Aburteilung hagelte. Dann betrat Natalja die Bühne, schlug vor, mir, da ich ihr Vertrauen nicht gerechtfertigt hätte, den Turm zu entziehen und mich in die Reihen der einfachen Menschen zurückzuschicken. Aus der Menge trat sofort der Politiker Dima hervor, um diesen Vorschlag zu beklatschen. Seinem Beispiel folgten der Komiker Shenja und der junge Rapper, den ich nicht einmal namentlich kannte. Schon wogte die ganze Menge von Funktionalen auf mich zu, fuchtelte mit den Händen, warf mir Beleidigungen an den Kopf...

Daher schreckte ich alarmiert aus dem Schlaf. Ich blieb kurz liegen, um zu lauschen, wie mein Herz hämmerte. Im Traum hatte ich mich gefürchtet. Eine Heidenangst hatte ich davor gehabt, wieder zum normalen Menschen zu werden.

Wie aufgelöst ich gewesen war! Welche Panik ich gehabt hatte! Meine Eltern, meinen Hund, meine Freunde, meine Freundinnen - alles hatte man mir genommen. Doch man hatte mir nur ein geräumiges Gefängnis als Ersatz anbieten, anständig für meinen Lebensunterhalt sorgen und mir Amüsement in Aussicht stellen müssen - und prompt verlor ich kein Wort mehr darüber. Denn reden wir nicht um den heißen Brei herum: Der Turm war mein Gefängnis. Ein Pfosten, in den Boden gerammt und mit einer zehn Kilometer langen Kette daran. Und alles, was mir blieb, war ein runder Hof für einen Spaziergang an der Kette. Gut, fünf Höfe. Und vielleicht nicht zehn, sondern fünfzehn Kilometer.

Trotzdem reichte mir das nicht.

Jetzt werde ich nie nach Kuba gelangen. Obwohl ich es mir so gewünscht hatte! Und nach Neuseeland ebenfalls nicht. Wollte ich nämlich Felix glauben, würde meine Funktion dabei zerstört werden. Aber wieso diese exotischen Länder bemühen? Niemals würde ich mit meinen Freunden im Frühling nach Prag fahren, obwohl wir das immer geplant hatten ... Selbst auf die Datscha zu fahren durfte ich nicht riskieren, denn sie lag fast hundert Kilometer entfernt!

»Na und?«, fragte ich, während ich an die Decke starrte. »Alles kann man eben nicht haben! Ich bin jetzt quasi unverletzlich. Unglaublich stark. Vor meiner Haustür habe ich meinen eigenen Strand, eine anheimelnde kleine Stadt und ein großes Stück von Moskau. Manche Leute verbringen ihr ganzes Leben in einer Stadt ... Da wird mir doch wohl Kapotnja nicht fehlen, oder?«

Der Gedanke an Kapotnja beruhigte mich. Immerhin hatte ich es besser getroffen als mein Kollege aus dem Südosten.

Außerdem interessierte mich wahnsinnig, wohin sich über Nacht eine vierte Tür geöffnet hatte. Ob der ehrgeizige Politiker Glück gehabt hatte (und mit ihm die potenziellen Opfer von Tsunamis und Erdbeben).

Rasch zog ich mich an. Ich sah auf die drei offenen Fenster.

Unvermittelt fiel mir ein Lied ein, das mein Vater sehr gern gehört hatte. Darin ging es um einen Mann, der in einem alten Haus lebt, in dem er aus einem Fenster auf ein Feld, aus einem anderen auf einen Wald und aus dem dritten aufs Meer blickte. Vermutlich wurde da ein Zöllnerfunktional, wie ich es bin, besungen. Allerdings erinnerte ich mich nicht mehr, von wem es war. Irgendein Amateur, vielleicht ein bekannter Reisender oder Meisterkoch. Jedenfalls sang er erstaunlich gut, voller Inbrunst. Offenbar pflegte er sein Hobby schon seit geraumer Zeit. Ich musste mir das Lied besorgen und es mir wieder anhören.

In meinen drei Fenstern machte ich a) den schmutzigen grauen Himmel über Moskau, b) das saubere Winterblau über Kimgim und c) den absolut prächtigen rosaroten Sonnenaufgang über dem Meer aus. Ein Märchen!

Flüchtig orientierte ich mich über die Lage in den drei Welten. Ich vergewisserte mich, dass es vor keiner Tür eine Schlange gab und alles ruhig war, sogar in Moskau (wobei es in puncto Ruhe nichts mit dem morgendlichen tropischen Meer bei fabelhaften Wetter aufzunehmen vermochte).

Danach legte ich ein wahrlich heroisches Verhalten an den Tag. Zuerst ging ich nämlich nach oben, um zu duschen und einen präsentablen Menschen aus mir zu machen. Anschließend setzte ich den Kessel auf. Erst danach nahm ich mir die beiden verschlossenen Fenster vor.

Hinter den Läden des einen herrschte Stille. Für dieses Fenster war die Zeit noch nicht reif.

Hinter den Läden des anderen vernahm ich ein gleichmäßiges Rauschen. Nicht so laut wie die Meeresbrandung, aber dennoch unverkennbar.

Ich löste die Muttern, die sich ausgesprochen leicht herausdrehen ließen, fast, als hätten sie ihre Funktion eingebüßt und als könnten sie es gar nicht mehr erwarten, sich von den Gewinden zu lösen.

Schließlich klappten die Läden auf. Ich schaute aus dem Fenster und stieß einen Pfiff aus.

Alle Achtung!

Im Fernsehen wird in solchen Momenten eine Werbepause eingeschoben. »Gerade an der spannendsten Stelle«, wie es so schön heißt. Wenn ich meine Abenteuer einmal verfilmte, würde ich genau hier unterbrechen.

Übrigens erinnerte auch der Ausblick aus dem Fenster an einen Reklamespot, an einen dieser überzuckerten schnulzigen Clips, in denen Joghurt oder Obst- und Gemüsesäfte angepriesen werden. Einer von denen, wo die Vögelchen kleine Beeren sammeln, die Häslein Rübchen, die Würmchen winzige Äpfelchen und die Bärchen Honig, um sogleich die gesamte Pracht in einen Eimer voller Milch einer blitzblanksauberen kleinen Kuh zu geben, auf dass sie sich in einen appetitlichen bunten Brei verwandelt. Und wer jemals angesichts der Wohlanständigkeit der lieben Reklamekinderchen und des Enthusiasmus, mit dem der Großpapa in seinem Garten den ureigenen Saft aus einem Tetrapack trinkt, das große Kotzen gekriegt hat, muss gesehen haben, worauf mein Blick beim Hinausschauen aus dem Fenster fiel.

Grünes Gras! Damit man mich richtig versteht: knallgrünes, wie in den Werbespots, wo es manchmal gefärbt wird. Im wirklichen Leben bringt ein solches Grün nur ein chinesischer Filzstift zustande.

Und auf dieser grünen, sich bis zum Horizont erstreckenden Wiesen wuchsen in malerischer Unordnung ebenso knallige, entweder in voller Blüte stehende oder überreich Früchte tragende Bäume.

Muss ich wirklich noch erwähnen, dass der Himmel blau, die Sonne gelb, die Luft rein und wohlduftend war?

Am liebsten hätte ich am Knopf zur Farbregulierung gedreht und die Pracht ein wenig geschmälert - indem ich die grellen Farben gedämpft hätte.

Verglichen mit dieser Welt wirkte das Tropenidyll des Reservats fahl und verwaschen. Als ob man einen Gauguin erst nach Tahiti gebracht und ihn gezwungen hätte, ein Pastell zu malen, um ihm erst danach die kräftigen Acrylfarben auszuhändigen und ihn, unter Ausnutzung seiner Verwirrung, überzeugt hätte, eine mittelrussische Landschaft darzustellen - allerdings in schreienden Tönen.

Wie die Zukunft sah das in keiner Weise aus. Beim Anblick einer versengten Ebene, das gebe ich offen zu, hätte ich gestutzt und vermutet, ins Schwarze getroffen zu haben. Aber der Anblick, der sich mir aus dem Fenster bot, wollte nicht einmal zu meinen mehr oder weniger optimistischen Zukunftsphantasien passen.

Leider war ich auch kein wahnsinniger Sektierer. Denn in dem Falle hätte ich angenommen, das Tor zum Paradies geöffnet zu haben. Ich hätte mir die Kleidung vom Leibe gerissen und wäre frohen Herzens durchs Gras gerannt.

Natürlich zog ich mich nicht nackt aus. Aber ich ging nach unten und öffnete die Tür. Ich riss einen Grashalm aus und schnupperte argwöhnisch daran, damit ganz der russischen Manier folgend, in jedem Geschenk des Schicksals einen doppelten Boden zu vermuten.

Der Halm roch angenehm und schnitt mich nicht.

»Du musst schon entschuldigen, guter Mann«, sagte ich zu dem abwesenden Politiker im Tonfall des Pferdes aus dem Witz. »Ich hab mir alle Mühe gegeben ...«

Der Turm sah in dieser Welt auch komisch aus. Viel schmaler, als er sein müsste, und mit weißen Steinen verkleidet. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um polierten und gemaserten Marmor. Woraus sollte in dieser Märchenwelt denn sonst ein Turm erbaut sein? Wenn nicht aus Marmor, Jaspis, Malachit und anderen Edelsteinen?

Ich steckte mir den Grashalm zwischen die Zähne und marschierte vom Turm weg. Ich wollte versuchen, mich allein in dieser Welt zurechtzufinden, ohne die Erklärungen von anderen.

Und natürlich würde ich den Turm nicht mehr als zehn Kilometer hinter mir lassen.

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