Fünf

In den Fenstern meiner Wohnung brannte kein Licht. Die holde Natalja Iwanowa dürfte sich ja wohl kaum schon um acht Uhr abends schlafen gelegt haben ...

Ich begab mich in den fünften Stock hinauf und klingelte an meiner Tür. Cashew kläffte los, verstummte dann aber in aller Wachsamkeit. Einige Minuten lang wartete ich vor der Tür, bevor ich schließlich mit den Schultern zuckte und wieder in den Fahrstuhl stieg. Falls mich jemand durch den Spion beobachtete, dann würde dieser Jemand jetzt im großmütterlichen Gang zurück zum Fernseher schlurfen und sich einprägen, dass ein Galan die Frau Nachbarin aufgesucht hatte. Daran, dass die alte Hexe Galina Romanowna mich bereits gründlichst vergessen hatte, hegte ich nicht den geringsten Zweifel.

An sich ist es ja ein Phänomen, wie diese Omas, die sich nie von ihren ewigen Seifenopern losreißen und ihre Türen mit unter Kunstleder verborgenem Styropor schallisolieren, es schaffen, jedes Klingeln an der Nachbarstür mitzubekommen. Obendrein pflegen sie natürlich in die Poliklinik zu pilgern und den Ärzten vorzujammern, wie schlecht sie hören!

Im Fahrstuhl drückte ich den Knopf für den achten Stock. Auf Natalja im Treppenhaus neben dem Müllschlucker zu warten, schien mir zu riskant, denn bestimmt würde jemand mit einem Eimer oder zum Rauchen herauskommen. Deshalb kam mir der achte Stock gerade recht: In einer Wohnung wohnte ein vergreister Opa, der nirgendwo allein hinging, die beiden anderen hatten vielköpfige Familien orientalischer Gastarbeiter gemietet, die niemals auf die Idee kämen, die Miliz zu rufen. Früher hatten mich diese stillen Orientalen - mochten sie nun Tadschiken oder Usbeken sein - geärgert, die zu zehnt in einer Wohnung hausten. Nein, persönlich war ich nie mit ihnen aneinandergeraten, versuchten sie doch immer, unbemerkt in ihre Wohnungen zu schlüpfen, in ihr Körbchen zu huschen, dabei wie Kakerlaken das Licht scheuend. Es handelte sich schlicht um alltäglichen Chauvinismus.

Jetzt freute ich mich über die stillen Nachbarn aus dem obersten Stockwerk. So saß ich denn neben dem Müllschlucker, rauchte, schaute durchs Fenster nach unten, auf den Weg zum Hauseingang. Es dämmerte zwar bereits, doch die Lampe über der Eingangstür spendete helles Licht, und ich würde Natalja rechtzeitig ausmachen.

Einige Tadschiken kamen nach oben und verschwanden in ihren Wohnungen, wobei sie so taten, als bemerkten sie mich gar nicht. Bedächtig zerknüllte ich die Zigarettenschachtel.

Ein feiner, leiser Regen setzte ein, wie ich es im Herbst sogar mag. Er erinnert uns gleichsam daran, dass der Sommer vorüber ist. Fast im selben Moment funkelte unten ein bunter Schirm auf.

Vielleicht hatte ich ihn gestern in meiner Wohnung gesehen, inmitten all der anderen fremden Sachen. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls spürte ich gleich: Da kam Natalja.

In meinem Bauch breitete sich Kälte aus, meine Beine schienen sich in Watte verwandelt zu haben. Unter Aufbietung aller Kräfte zwang ich mich, zum Fahrstuhl zu gehen und den Knopf zu drücken. Irgendwo weiter unten schlug eine Tür zu, doch der Fahrstuhl kam bereits hoch in den achten Stock. Ich betrat ihn, verzichtete allerdings darauf, den Knopf fürs Parterre zu betätigen.

Das übernahm Natalja für mich. Brav zuckelte der Aufzug nach unten.

Es ist nicht ganz einfach, zum Verbrecher zu werden, wenn man ein Vierteljahrhundert lang ehrlich und rechtschaffen gelebt hat.

Außerdem wollte ich auf gar keinen Fall als Schwerverbrecher im Gefängnis landen.

Aus der Innentasche meiner Jacke zog ich das Messer hervor, das ich vor zwei Stunden an einem Kiosk neben dem Metroausgang gekauft hatte. Ein billiges chinesisches Imitat irgendeines bekannten Markenprodukts. Sei’s drum. Mir kam es einzig und allein auf den furchterregenden Anblick an, den es bot, die lange schmale Klinge mit den gierigen Zähnen und der Blutrinne. Wenn in dem Kiosk überzeugend wirkende Spielzeugpistolen verkauft worden wären, hätte ich eine von denen erworben.

Denn unter gar keinen Umständen wollte ich ins Gefängnis wandern.

Die Fahrstuhltür öffnete sich zischend, und die unansehnliche Natalja trat in die Kabine. Nein, sie trat nicht ein, sie kletterte, ein Bein übertrieben hochziehend, hinein. Doch kaum sah sie mich, riss sie die Augen auf und wollte zurückweichen.

Ich packte die Frau bei der Schulter und zog sie hinein. Schon im nächsten Moment drückte ich ihr das Messer an den Hals, eine Bewegung, die mir so natürlich gelang, als hätte ich mich mein Lebtag als wahnsinniger Vergewaltiger durchgeschlagen, der in Fahrstühlen auf Beutezug ging.

»Ich schreie«, warnte Natalja mich mit einem Blick auf das Messer.

»Und warum tust du das dann nicht?«, fragte ich. Der zusammengeklappte Schirm bohrte sich mir in den Fuß. Krampfhaft klammerte sich Natalja an ihm fest. In der anderen Hand hielt sie eine Einkaufstüte.

»Lassen Sie mich los! Ich weiß ja nicht mal, wer Sie sind!«, verlangte die Frau mit erhobener Stimme. »Lassen Sie mich los!«

Ich drückte den Knopf für den fünften Stock.

»Du lügst. Du weißt genau, wer ich bin. Und das heißt ...«

Ihre Augen huschten über mein Gesicht. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Sie sind ja verrückt geworden«, meinte sie mit einem bedächtigem Kopfschütteln. »Dafür wird man Sie verurteilen. Ist Ihnen klar, was man im Lager mit einem Vergewaltiger macht?«

»Du bist viel zu gelassen, Natalja«, erwiderte ich. Und erst in dem Moment, da ich diese Worte aussprach, wurde mir klar, wie sehr sie zutrafen. Sie war in der Tat viel zu gelassen für eine Frau, der man gerade ein Messer an die Kehle hielt - unabhängig davon, ob ich nun ein Verrückter oder der Kerl war, den sie gestern Abend übers Ohr gehauen hatte.

»Sie sind kein Mörder. Sie werden mir nichts antun.«

»Wollen wir die Probe aufs Exempel machen?«, schlug ich vor. »Sie haben mir alles genommen. Meine Wohnung, meine Arbeit, meine Papiere. Ich habe nichts mehr zu verlieren!«

»Doch, das Leben«, antwortete sie lapidar.

»Das fällt kaum ins Gewicht.« Ich packte das Messer besser, so, dass die Spitze den Hals nahe der Schlagader berührte. »Ein Piep, und ich steche zu.«

Der Fahrstuhl hielt. Die Türen glitten auseinander.

»Ich würde dir empfehlen, dich so zu verhalten, als wären wir gute alte Freunde«, sagte ich, während ich den Arm um Nataljas Schultern legte. »Du öffnest ganz ruhig die Tür, und wir beide gehen dann in die Wohnung. Verstanden?«

Wenn ich alles richtig kalkuliert hatte und wenn Natalja nicht loszappeln und schreien würde, dann dürfte das Messer durch den Spion der Nachbartür nicht zu sehen sein. Da kämen einfach ein Mann und eine Frau, die sich umarmt hielten und es nicht mehr erwarten konnten, im Bett zu landen. Was sollte daran Besonderes sein? Außerdem entspräche es genau dem Bild, das dieses Luder von klimakterischer Nachbarin sehen wollte.

Natalja fing nicht an zu zappeln.

Sie schloss auf, wir gingen hinein. Mit dem Fuß kickte ich hinter mir die Tür zu und tastete auf der Suche nach dem Lichtschalter an der Wand lang. Das Rechteck des Küchenfensters zeichnete sich in der sterbenden Dämmerung ab. Im Zimmer bellte Cashew Alarm. Es war eiskalt. Hatte man die Heizung etwa noch nicht angestellt?

»Der Lichtschalter ist ziemlich weit unten«, erklärte Natalja verächtlich. »Wenn du den Arm hängen lässt, in der Höhe.«

»Ach nee? Hätte ich das vielleicht vergessen haben sollen?«, grummelte ich.

Das Licht ging an. Ich sah mich im Zimmer um. Auf dem Sofa lag mein Hund, sonst war niemand da.

»Und weiter?«, fragte Natalja. Sie bog den Kopf leicht weg, um Abstand zwischen sich und die Messerschneide zu bringen. »Machst du gleich kurzen Prozess mit mir oder gibt’s die Leiche erst zum Dessert?«

Cashew sprang vom Sofa. Er kam in den Flur geschossen, wollte schon mit dem Schwanz wedeln, erstarrte dann jedoch, zwischen Flucht und Gekläff schwankend.

»Du bist zu gelassen«, wiederholte ich die Worte wie eine Beschwörungsformel. Es war das Einzige, was ich als Beweis vorzubringen vermochte, während ich in dieser fremden, mir unbekannten Wohnung stand. »Ich kann dir nichts nachweisen, Natalja. Aber ich bin mir sicher, dass du hinter alldem steckst.«

Die Frau schnaubte. »Wollen wir uns hier die Beine in den Bauch stehen?«

»Gehen wir in die Küche«, befahl ich.

Wir gingen in die Küche, wo ich die Gardinen zuzog. Cashew folgte uns, noch immer wachsam, wenn auch ohne zu bellen.

»Setz dich!« Ich schubste Natalja auf einen Hocker. Anschließend holte ich Klebeband aus meiner Tasche.

»Du musst zu viele Actionfilme gesehen haben«, warf Natalja mir verächtlich an den Kopf.

Dennoch leistete sie keinen Widerstand, sondern streckte freiwillig die Hände aus, die ich mit Klebeband umwickelte. Anschließend fesselte ich sie an den Hocker. Tödliche Stille senkte sich herab, eine grauenvolle Stille, denn selbst auf der Straße schienen keine Autos zu fahren, keine Besoffenen entlangzutorkeln, ja, nicht einmal die Haustür ging.

»Hast du dich jetzt beruhigt?«, fragte Natalja kalt, als ich das Klebeband beiseite legte und mich auf den anderen Hocker setzte. »Verrätst du mir eventuell, was du eigentlich vorhast? Soll ich die Wohnung auf dich überschreiben? Das könnte schwierig werden ...«

Ich hörte ihr nicht zu. Aufmerksam inspizierte ich die Küche. Acht Quadratmeter hier, im Zimmer zwanzig, plus zehn für Bad, Toilette, Flur, kurzum nicht allzu viel. Wenn man einiges an Kraft und Mitteln aufwandte, könnte man tatsächlich allem innerhalb von acht Stunden einen bis zur Unkenntlichkeit veränderten neuen Anstrich geben.

Einen neuen Anstrich ja, aber nicht gründlich renovieren.

Wunder gibt es nicht.

Ich musste einfach Spuren meiner Wohnung in dieser fremden Behausung entdecken.

Was sollte ich mir als Erstes vornehmen?

Die Kacheln.

Ich stocherte mit dem Messer an einer Fliese herum. Okay, die war in Ordnung, eine echte Kachel, keine aufgeklebte farbige Folie. Die Fugen zwischen den Fliesen ... Seltsam! Sie waren trocken. Vielleicht war das der alte Kleber. Oder ein schnelltrocknender.

Natalja brach in schallendes Gelächter aus.

»Soll ich dir auch noch den Mund verkleben?«, fragte ich. »Wäre kein Problem.«

»Polk nur überall herum«, meinte die Frau gutmütig. »Danach werde ich dich zwingen, alles zu renovieren.«

Die Tapete.

Ganz unten schnitt ich an einer unauffälligen Stelle ein kleines Stück ein und riss es heraus. Darunter prangte die nackte Wand. Hinweise auf die alte Tapete entdeckte ich nicht. Ob sie die abgerissen hatten? Möglich wäre das natürlich.

»Du Idiot«, zischte Natalja.

Ich setzte mich auf den Boden, um ohne viel Federlesens das Linoleum mitten in der Küche überkreuz aufzuschlitzen. Cashew kam an, beschnupperte das Loch im Bodenbelag - doch auf altes Linoleum stieß er nicht. Schließlich knurrte er mich an und zog wieder ab.

»Überleg doch mal selbst: Wenn tatsächlich sämtliche Unterlagen wie durch Zauberei ausgetauscht worden sind, wenn alle deine Freunde dich vergessen, was hoffst du dann hier zu finden?« Natalja kicherte. »Spuren einer Renovierung?«

Ich streckte die Hand nach Cashew aus. Der wich zurück. »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete ich. »Aber meine Freunde habe ich mit keinem Wort erwähnt.«

Natalja hüllte sich in Schweigen.

Kopfschüttelnd sah ich ihr in die Augen. »Du hast dich verplappert. Jetzt weiß ich hundertprozentig, dass du in der Sache mit drinsteckst. Nur wie, ist mir noch unklar.«

»Und weiter?« Ihre Stimme blieb völlig gelassen. »Folterst du mich jetzt? Oder bringst du mich um? Du bist hier nicht in der Taiga, mein Guter. Dich halten hier alle für einen Verrückten. Ohne Ausweis, ohne Vergangenheit. Du bist in eine fremde Wohnung eingebrochen und hast die Besitzerin umgebracht. Ist die Todesstrafe bei uns nun schon abgeschafft oder nicht?«

»Ich glaube, sie ist abgeschafft.«

»Fünfzehn Jahre Lager sind auch kein Zuckerschlecken. Na, wie würde dir das gefallen?« Natalja gönnte sich ein triumphierendes Lächeln. »Nimm mir die Fesseln ab, Kirill. Dann setzen wir uns wie vernünftige Menschen zusammen, kochen einen Tee und reden offen über alles.«

Am liebsten hätte ich ihr eine gesemmelt. Und es sollte mir jetzt bitte schön niemand mit dem Spruch kommen, es zieme sich nicht, eine Frau zu schlagen. Bei einer wie dieser bleibt dir ja gar nichts anderes übrig!

Nur würde das nichts bringen. Natalja würde weder hysterisch werden, noch ihre perfiden Pläne zugeben.

Anspucken könnte ich sie, wenn’s sein muss, sogar mitten ins Gesicht. Und dann gehen. Sollte sie doch selbst sehen, wie sie freikam, sollte sie ruhig das Klebeband durchnagen und dabei vor Vergnügen noch kichern.

Oder sollten wir doch versuchen, miteinander zu reden?

Ich erhob mich und trat an Natalja heran. Lächelnd hob sie mir dir Hände entgegen. Ich hielt das Messer an ihre Gelenke, um das Klebeband durchzuschneiden.

»Reingefallen«, brachte sie lächelnd hervor - um gleich darauf markerschütternd loszujammern: »Hilfe! Mörder! Ein Mör...«

Mir blieb nicht die geringste Chance, noch etwas zu unternehmen! Weder schaffte ich es, die Hand mit dem Messer zu senken, noch ihr den Mund zuzuhalten. Während Natalja in einem fort schrie, erhob sie sich zusammen mit dem an ihren Hintern festgezurrten Hocker und stürzte sich nach vorn. Direkt ins Messer hinein.

Die Schneide des dämlichen chinesischen Messer drang ihr unter der linken Brust ins Fleisch. Ein Schwall Blut spritzte mir auf die Hand. Als ersticke sie an ihrer eigenen Stimme, hörte die Frau auf zu schreien. Sie riss den Kopf hoch. »Und was willst du jetzt tun, Kirja?«, flüsterte sie.

Ich sprang zurück, wobei ich unwillkürlich das Messer aus der Wunde zog. Sich krümmend fiel Natalja zu Boden. Unter ihrem Körper sickerte Blut hervor, das sich in dem aufgeschnittenen Linoleum sammelte. Cashew knurrte los, presste sich auf den Boden und kroch langsam auf sie zu.

Nie zuvor in meinem Leben hatte mich solche Furcht gepackt.

Immer hatte ich geglaubt, all die »zitternden Hände«, die »Beine wie Watte« und der »kalte Schweiß« entsprängen der Phantasie von Schriftstellern. War ich bislang in die Bredouille geraten, hatte mich das - ganz im Gegenteil - umtriebig werden und praktisch handeln lasen. Mein Vater hielt für solche Situationen die Erklärung »Adrenalinreaktion auf Stress« parat.

Jetzt sackte ich nur deshalb nicht weg, weil ich am Türpfosten lehnte. Doch mir zitterten die Beine, und ich war schweißgebadet. Das Messer hielt ich noch immer in der ausgestreckten Hand, meine Finger pressten sich um den Griff, als wollten sie ihn nie loslassen.

Aber wozu hätte ich es wegwerfen sollen? Um der Miliz einen Gefallen zu erweisen? Am besten wäre es vermutlich, ich würde mich, Nataljas Beispiel folgend, ebenfalls erstechen. Sollten die Ermittler ruhig an der Version von einer unglücklichen Liebe basteln. Mit einem Dolch hatte er sie beide getötet ...

An der Tür klingelte es.

Das hatte mir gerade noch gefehlt.

»He, Nachbarin!«, vernahm ich die Stimme von Pjotr Alexejewitsch. »Ist bei dir alles in Ordnung? Natascha?«

Als Natalja zu Boden gestürzt war, hatte ich eine Sekunde lang gehofft, mit ihrem Tod würde sich dieser Spuk auflösen. Meine Freunde würden sich wieder an mich erinnern, die Nachbarn, die Kollegen ...

Aber nein, das musste ich mir abschminken.

Immer noch war ich der Mann ohne Vergangenheit - der obendrein ein Messer in der Hand hielt und zu dessen Füßen eine Leiche lag. Und kein Schwein würde mir glauben, dass Natalja absichtlich ins Messer gelaufen war.

Jetzt klopfte es an der Tür.

Cashew, der neben Nataljas Körper lag, jaulte los. Und zwar in einer ekelhaft durchdringend Weise. Nie hätte ich gedacht, dass er in der Lage ist zu heulen, ja, mehr noch: sein Frauchen zu beweinen.

Aber was zum Teufel hieß hier Frauchen?! Eine Schwindlerin und Selbstmörderin!

Cashew winselte ganz besonders erbärmlich. Ich beugte mich zu ihm hinunter, wollte ihn auf den Arm nehmen, um ihn zu beruhigen (alle Hundezüchter raten von einem solchen Verhalten ab, aber wer einmal das Gejammer eines Welpen gehört hat ...). Sofort starrte Cashew mich mit gebleckten Zähnen an.

Der Hund beargwöhnte mich.

Alle würden mich beargwöhnen.

Man würde mich ins Gefängnis stecken. Was musste ich auch mit einem Messer in eine fremde Wohnung eindringen?!

»Ich habe schon die Miliz gerufen!«, vernahm ich von jenseits der Tür die schrille Stimme meiner Nachbarin. »Gleich sind sie da und sorgen für Ordnung!«

In der Stimme lag ein Blutdurst, der gar nicht unbedingt mit meinem Blut gelöscht werden musste, sondern der durchaus mit einem x-beliebigen gestillt werden konnte, sofern es denn nur floss, dieses Blut, sofern sich nur etwas ereignete, worüber sie mit ihren Freundinnen am Telefon tratschen konnte. Und dieser Blutdurst war es denn auch, der meinen Blick auf das Messer lenkte. Ob ich rausgehen und die alte Krähe abstechen sollte? Letztendlich erwiese ich der Menschheit damit eine Wohltat. Oder fehlte mir dazu der Mumm?

Vermutlich schon. Ich würde sie nicht abstechen. Und auch Natalja hätte ich nicht angerührt, das hatte diese ganz richtig erkannt.

Brauchte unsere Miliz lange, um auf einen Anruf zu reagieren?

Doch was spielte das schon für eine Rolle? Durchs Fenster würde ich nicht ausbüxen können, nicht im fünften Stock. Vor der Tür stand Pjotr Alexejewitsch Wache, ein Mann, auf den trotz seiner Sauferei und Grobheit Verlass war. Ein Schlag von ihm zwischen die Hörner, und ich würde den Boden küssen.

»Ich sitze ganz schön in der Tinte, Cashew«, stieß ich aus. »Und sogar du hast mich verraten.«

Cashew knurrte.

Aus seiner Sicht hatte er niemanden verraten, im Gegenteil, er hatte sein Frauchen so gut er konnte verteidigt.

Einen Bogen um den Hund machend, durchquerte ich das Zimmer. Ich spähte aus dem Fenster. Ob jetzt, wo die Welt verrückt spielte, vor meinem Fenster eine Feuerleiter entstanden war?

Natürlich nicht. Dafür fuhr ein Wagen der Miliz gemächlich auf den Hof. Die Sirene war ausgeschaltet, das Blaulicht allerdings in Betrieb.

Das war’s dann wohl.

An den Orten echter Verbrechen trifft die Miliz stets zu spät ein, aber in meinem Fall ...

An der Tür setzte jetzt ein Dauerklingeln ein. Aus irgendeinem Grund fiel mir ein Streich ein, den meine Freunde und ich in unserer frühen, noch unbeschwerten Kindheit unseren Mitmenschen gespielt hatten: Wir waren durch Treppenhäuser gerannt und hatten an fremden Türen geklingelt. Als wahre Meisterleistung galt es, übermäßig lange zu klingen, es aber trotzdem zu schaffen wegzurennen, bevor geöffnet wurde. Eines Tages erwischte uns ein Mann vom Schlage Pjotr Alexejewitschs, der sehr leise durch seine Wohnung schlich, extrem schnell durchs Treppenhaus raste und es für eine angemessene pädagogische Maßnahme erachtete, seinen Gürtel am Podex eines minderjährigen Knirpses zu erproben.

Ich ging zur Tür. Erst als ich an etwas hängen blieb, starrte ich ungläubig auf das aus meiner Faust herausragende Messer. Schließlich warf ich es zu Boden. Welchen Sinn sollte es angesichts der erdrückenden Beweislast haben, die Fingerabdrücke abzuwischen?

Die Klingel schrillte in einem fort, und nichts schien dringender, als dieses Geräusch abzustellen.

Benommen schloss ich auf und öffnete die Tür.

Vor mir standen Pjotr Alexejewitsch und Galina Romanowna. Anscheinend hatten sie schon nicht mehr damit gerechnet, dass die Tür noch aufgehen würde. Vermutlich hätte ich in diesem Moment lospreschen, an ihnen vorbeispringen und nach unten stürmen können. Direkt in die Arme der Miliz ...

Pjotr Alexejewitsch hielt nach wie vor den Finger auf der Klingel.

»Aaaah!«, stieß Galina ein lang gezogenes Heulen aus, während sie den Blick starr auf meine Hände gerichtet hielt. »Blut! Blut! Er hat sie ermordet!«

Und dann - was ich nie und nimmer für möglich gehalten hätte - verdrehte sie die Augen und fiel in Ohnmacht.

Dafür reagierte Pjotr Alexejewitsch genauso, wie ich es erwartet hatte. Auf mein Gesicht schoss eine gewaltige Faust zu, die Welt drehte sich, und wie ein Sack Kartoffeln plumpste ich neben meine Nachbarin.

Selbst während er mich zu Boden schickte, läutete der Nachbar weiter. Oder klingelte es bloß in meinen Ohren? Ich schüttelte den Kopf und versuchte, zu mir zu kommen. Vor meinen Augen standen, warum auch immer, plötzlich zwei Paar grober Schnürstiefel, alles andere verschwamm, lag nicht in meinem Fokus.

»Hören Sie mit dem Geklingel auf!«, schlängelte sich eine strenge Stimme durch das Läuten. »Und machen Sie ja keine Mätzchen! Sparen Sie sich jede weitere Prügelei!«

Jemand sprang über mich hinweg und schaute in die Wohnung. Dann fügte dieselbe, wenn auch leicht veränderte Stimme hinzu: »Dafür gibt es bei uns schließlich die Miliz!«

Die Stiefel kehrten zurück - und einer von ihnen trat mir mit aller Wucht in die Rippen. Mit einer Erleichterung, die mich selbst verblüffte, schloss ich die Augen und überließ mich der Bewusstlosigkeit.

In dem kleinen Gitterkäfig des Miliztransporters stank es nach Chlor. Der scharfe Geruch beschwor triste Gedanken an Gefängnisse, städtische Krankenhäuser und andere öffentliche Institutionen herauf, in denen der Mief der Unsauberkeit vertrieben und die Zahl der Mikroben verringert werden muss.

Auf dem eisernen Boden liegend, in höllischen Schmerzen gekrümmt, kam ich wieder zu mir. Die Hände waren mir auf den Rücken gefesselt.

Zu meinem Erstaunen parkte das Auto. Höchst vage fiel mir wieder ein, wie man mich die Treppe heruntergeschleift hatte, mir Handschellen angelegt und mich in diesen Käfig geschubst hatte. Offenbar wollte man mich aufs Revier bringen. Oder wohin auch immer man auf frischer Tat ertappte Mörder brachte ...

Doch der Transporter stand - davon war ich ohne es mir selbst erklären zu können überzeugt - immer noch neben meinem Haus. Meinem ehemaligen Haus.

Meinen ganzen Körper einsetzend, hievte ich mich hoch. Ich lugte durch das vergitterte kleine Fenster in der Tür. Glas gab es keines hinter dem Gitter. Die Luft der Freiheit war nach dem Regen frisch und sauber. Im Licht der Straßenlaternen schimmerten kleine Pfützen.

Nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Der Transporter parkte vor dem Haus. Inzwischen war noch ein Wolga der Miliz hinzugekommen. Ob sie Spuren aufnahmen?

Und mich vorübergehend in Ruhe ließen?

Dennoch stimmte hier etwas nicht. Entweder müssten sie mich ja wohl aufs Revier bringen oder unmittelbar neben der Leiche verhören. Was sollten diese Halbheiten?

Zwei Männer traten aus dem Haus. Bei einem von ihnen handelte es sich anscheinend um einen gewöhnlichen Milizionär. Möglicherweise war es der, der mich getreten hatte. Der andere trug Zivil. Ein Ermittler, der aus dem Bett geholt worden war?

»... das Übliche ...«, klang es zu mir herüber. »So eine Verkäuferin vom Markt, die ihren Kerl mit nach Hause geschleppt hat ...«

»Das kriegen wir schon raus«, verkündete der Mann in Zivil finster. »Gut, Sergeant, vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie können jetzt fahren ... Ha! Wen haben Sie denn da hinten drin?«

Er machte eine Kopfbewegung Richtung Transporter.

»Der?« Der Milizionär schien ins Grübeln zu geraten. »Das ist irgendein Suffkopp!«

»Wo haben Sie ihn festgenommen?«

»An der Metro«, antwortete der Bulle etwas unsicher. »Ist schon’ne ganze Weile her. Nein, Ihr Kunde ist das nicht.«

Der Mann in Zivil ging noch einmal zum Haus zurück. Der Milizionär kam zum Transporter. Ich setzte mich auf den Boden. Mein Herz raste. Ob ... Nein! Das konnte nicht sein!

Ganz in meiner Nähe klickte ein Feuerzeug, anschließend schlängelte sich Tabakrauch herüber. Dann schlug die Tür zu und jemand sagte: »Was gab’s denn, Chef? Hab mir’ne Mütze Schlaf spendiert ...«

»Wir haben ein Messer gefunden, Fingerabdrücke genommen ... Das Hündchen hat der Nachbar zu sich geholt ... Rauchst du eine mit?«

»Klar.«

Abermals klickte das Feuerzeug. Der Rauch nahm zu. Ich hielt es nicht mehr aus. »Gebt mir auch eine, Freunde«, bat ich.

Eine Zeitlang reagierte niemand auf meine Worte.

»Sag mal, wo haben wir den eigentlich aufgegabelt?«, fragte der Sergeant dann. »Ist mir völlig entfallen ...«

»Glaub, an der Metro«, erklärte der Fahrer nach kurzem Nachdenken. »Oder war es in einem Hof auf dem Spielplatz?«

»Dem mussten wir wohl eine körperliche Ermahnung verpassen«, fuhr der Sergeant fort. »Zum Teufel mit dieser Arbeit ...«

Die Tür wurde lautstark aufgerissen. Die beiden Milizionäre beäugten mich angewidert, wenn auch ohne besonderen Hass.

»Gebt mir eine Lulle, Leute«, bat ich.

»Na? Ausgeschlafen?«, fragte der Sergeant.

Ich nickte demütig.

»Hier.«

Einer schob mir eine schlaffe Marlboro zwischen die Lippen. Das Feuerzeug flackerte auf. Gierig sog ich an der Zigarette. »Steht uns eine lange Fahrt bevor?«, fragte ich, trunken vom Nikotin und meiner Durchtriebenheit. »Dann nehmen sie mich nämlich gar nicht mehr zur Ausnüchterung an.«

»Wieso das nicht?«, wieherte der Fahrer. »Du bist doch ganz scharf drauf, da abgeliefert zu werden.«

»Ein bedauerlicher Irrtum«, erklärte ich. »Denn in dem Falle würde mich meine Alte umbringen. Eine Szene würde die mir machen. Die ist nämlich furchtbar eifersüchtig, und wenn ich mir die Nacht in der Ausnüchterungszelle um die Ohren schlage ...«

»Dreh dich um«, befahl der Sergeant, nachdem er seine Kippe ausgetreten hatte.

Bereitwillig kehrte ich ihm den Rücken zu. Entweder zog er mir jetzt eins mit dem Knüppel über oder ...

Er nahm mir die Handschellen ab.

»Geh nach Hause, Kumpel«, empfahl mir der Sergeant gutmütig. »Hier wurde ein Mädel abgestochen ... Da können wir uns jetzt nicht auch noch um dich kümmern. Des einen Leid ist des anderen Freud.«

Ich sprang aus dem Transporter. Draußen massierte ich mir erst einmal die tauben Hände. Als ich dabei einen Blutfleck auf dem Ärmel entdeckte, versenkte ich die Hände in die Taschen. »Vielen Dank«, sagte ich. »Soll nicht wieder vorkommen ...«

»Warten’s wir ab«, äußerte sich der Sergeant skeptisch. Trotz allem lag in seinen Augen noch immer Ungläubigkeit. Etwas beschäftige ihn, etwas, dessen er sich kaum bewusst war, das ihm jedoch keine Ruhe ließ. »Wo haben wir dich bloß aufgelesen? Weißt du das noch?«

»An der Metro, in einem Hof«, antwortete ich hilfsbereit. Dann fing ich an, von einem Bein aufs andere zu treten, ganz wie ein Mensch, der davon träumt, endlich pissen zu gehen. Sonderlich schauspielern musste ich dabei nicht.

»Schaffst du’s allein nach Haus?«

»Wir sind doch in Medwedkowo, oder?« Ich ließ den Blick schweifen. »Sicher, klar! Noch mal vielen Dank!«

»Du hast uns doch nicht den Wagen vollgepinkelt?« Mit einem Mal dachte der Fahrer wieder klar. Nachdem er den Käfig aufmerksam inspiziert hatte, beruhigte er sich jedoch. »Schon gut. Sieh zu, dass du zu deiner eifersüchtigen Alten kommst.«

Als ich davonzuckelte, blickten mir die Milizionäre nach. Mit einem absolut desinteressierten Blick. Für sie bestand keinerlei Notwendigkeit mehr, sich mit einem an der Metro aufgelesenen Betrunkenen, der inzwischen wieder einigermaßen klar wirkte, zu beschäftigen, geschweige denn ihn in der Ausnüchterungszelle abzuliefern.

Was hieß das?

War ich bereits ein solcher Niemand?

Konnte ich jemanden umbringen, und ein Stündchen nachdem - apropos: Befand sich meine Uhr noch in meinem Besitz? Das tat sie, nicht einmal kaputt war sie - also ein, zwei Stündchen, nachdem sie mich verhaftet hatten, wussten die Bullen schon nicht mehr, wo und wann sie mich überhaupt festgenommen hatten?

Meine Füße trugen mich von selbst in einen Tordurchgang. Ich trat in eine Ecke und öffnete den Hosenschlitz. Wurde höchste Zeit, nach allem, was bereits geschehen war ...

Ich war zum idealen Verbrecher geworden. Ich könnte stehlen, rauben, morden. Kein einziger Zeuge würde sich an mich erinnern. Wenn ich bei der Verhaftung nicht umkam, würde man mich schon bald wieder laufen lassen.

Allerdings schmerzten die Rippen. Gebrochen schienen sie nicht zu sein, und was Prellungen und Platzwunden anging - geschenkt.

In meinen Taschen fand ich Geld und die Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern, meine Armbanduhr war mir ebenfalls geblieben, am Gürtel klemmte noch mein Handy. Alles war in Ordnung. Es war halb eins in der Nacht. Zu meinen Eltern würde ich es noch mit der Metro schaffen. Dort würde ich mich waschen, etwas essen und darüber nachdenken, was weiter geschehen sollte.

Eine Zukunft als Verbrecher gehörte nicht zu meinen Plänen. Nicht einmal als idealer.

Was aber konnte ich sonst tun? Natalja war tot - und damit jede Verbindung zu meiner Vergangenheit gekappt.

Von den Schlüsseln zur Wohnung meiner Eltern abgesehen.

Während ich aus dem Tordurchgang auf den Gehsteig trat, drehte ich das Schlüsselbund in der Hand. Und als mir einer der Metallschlüssel zwischen den Fingern zerbrach, wunderte mich das nicht im Geringsten.

Das war zu erwarten gewesen.

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