Acht

Wer ist nicht schon einmal um Hilfe gebeten worden?

Vermutlich niemand. »Leihst du mir für eine Woche einen Tausender?« - »Jetzt habe ich mir doch neue Möbel gekauft. Kannst du nicht vorbeikommen und mir helfen, das Zeug in den dritten Stock zu schleppen? Ach ja, wir haben keinen Fahrstuhl!« - »Funktioniert dein Wagen? Meine Schwiegermutter kommt aus Antalya zurück und landet um drei Uhr nachts ...«

Natürlich ist dergleichen bisweilen lästig. Andererseits ist dir klar, dass du heute jemandem hilfst, morgen aber selbst um Hilfe bittest.

Und wem ist nicht schon einmal befohlen worden zu helfen?

Mit Sicherheit auch niemandem. »Der Laster mit der Ware ist gekommen, geh raus und hilf beim Entladen!« »Bleiben Sie noch hier, Bürger, Sie werden als Zeuge gebraucht!« - »Am Samstagabend gehen wir alle zusammen zu der Kundgebung gegen Terrorismus!«

Worin besteht eigentlich der Unterschied? Du wärst auch so rausgegangen, um beim Entladen zu helfen, denn von der gelieferten Ware hängt dein Gehalt ab. Und du hättest auch so bezeugt, dass das Portemonnaie in der Tasche dieses finsteren Typs mit dem unsteten Blick der Frau gehört. Und dein Verhältnis zu Terroristen ist sogar noch ein wenig schlechter als das zu Kakerlaken, und wenn es nach dir ginge ...

Doch man lässt dir keine Wahl. Dir wird befohlen, etwas zu tun, wozu du dich auch freiwillig verstanden hättest. Damit wird in unmissverständlicher Weise klargestellt, wer hier das Sagen hat und wer kuschen muss. Wobei ein kluger Chef in Fällen wie den genannten nichts anordnen wird, sondern dich in der Illusion wiegt, du träfest deine eigene Entscheidung.

Der Zettel, den die Frau »mit dem Hintern« hatte fallen lassen, enthielt einen Befehl. Mit der bemüht sauberen Schrift eines Menschen, der nicht viel per Hand schreibt, stand auf einem aus einem Notizblock gerissenen Zettel untereinander angeordnet:




Folgt mir in einer Stunde.

Findet die Weiße Rose.

Jemand wird auf alle eure Fragen antworten.




Ich schaute auf die Uhr, um mich zeitlich zu orientieren.

»Was sollen wir jetzt machen?«, wiederholte Kotja. »Diesen Mann mit der weißen Rose suchen?«

»Vielleicht ist es eine Frau?«, entgegnete ich, nur um ihm zu widersprechen.

»Hier steht doch: ›Jemand‹!«, hielt Kotja mir in ehrlicher Empörung vor. »In stillschweigender Übereinkunft meint das einen Mann ... Kirill, begreif doch, diese Sache stinkt ganz eindeutig nach Schmuggel!«

»Und was wird da geschmuggelt? Weiße Rosen?« Ich zeigte ihm einen Vogel.

»Möglich ist alles ... Du hast die ... diese ... ja nicht mal so überprüft, wie es sich gehört!«

»Die hatten nichts dabei, was verboten war. Und auch nichts in Mengen, mit denen sie handeln konnten.«

»Woher willst du das wissen?«, blaffte Kotja. Gleich darauf rief er jedoch triumphierend aus: »Oh! Na klar! Du weißt es einfach! Genau wie mit dem Asant!«

Ich nickte.

»Gehen wir nach oben.«

»Du musst dir einen Wasserkocher besorgen«, schlug Kotja vor, während er mir die Treppe hinauffolgte. »Oder eine Kochplatte. Wie willst du zurechtkommen, wenn du dir nichts warm machen kannst?«

»Dann noch Stores vor den Fenstern und ein Geranientopf ... Ich habe nicht die Absicht, mich hier häuslich niederzulassen!«

»Pah!«, schnaubte Kotja. »Er hat nicht die Absicht ... Dann sag mir doch mal, wo du ...«

»In Moskau. Hinter dem Turm.«

Kotja blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Fürs große Geschäft könnte man zum Bahnhof rüberrennen.«

»Das darf doch nicht wahr sein«, ermahnte Kotja mich scharf. »Entschuldige, aber dieses Gebäude baut sich nach deinem Geschmack um. Nach deinen Bedürfnissen, meine ich!«

»Und hast du schon irgendwo ein Klo entdeckt?«

Kotja dachte kurz nach, dann erklomm er die Treppe weiter nach oben.

»Das ist alles zu«, winkte ich müde ab.

Kotja stieß gegen die Luke, die den Zugang weiter nach oben versperrte. Widerstandslos gab sie nach und öffnete sich.

»Versperrt, sagst du?«, rief er munter. »Also ... ob es hier Licht gibt?«

Das tat es. Den Schalter fand ich problemlos, er schob sich förmlich von selbst unter meine Hand.

Das neue Stockwerk des Turms teilte sich in zwei Bereiche. Um die Treppe herum lag eine kleine runde Fläche, von der zwei Türen abgingen. Eine führte in eine Kombination aus Bad und Toilette, die mit einer gigantischen Wanne, einem Waschbecken und einem Klo aufwartete. An Haken hingen saubere Handtücher und ein farbenfroher Bademantel in meiner Größe. Ein Fenster fehlte.

»Bin gleich wieder da, ja?« Ohne viel Federlesens zog Kotja die Tür hinter sich zu.

Gespannt schaute ich in den anderen, einen halbrunden Raum hinein.

Genau, wie ich vermutet hatte. Ein Elektroherd, Schränke, ein Tisch, vier Stühle. Die Küche eben. In den Schränken fand sich Geschirr. Teller, Besteck, Töpfe und Pfannen. Nicht schlecht. Ich entdeckte sogar einen riesigen gusseisernen Wok zur Zubereitung von Pilaw. Hier in der Küche gab es auch ein kleines Fenster - durch das man direkt auf die Gleise blickte.

»Weißt du, was interessant ist ...«, bemerkte Kotja, als er in die Küche kam. »Die Handtücher haben keine Etiketten. Das Porzellan keinen Stempel. Im Waschbecken liegt ein ganz schlichtes Stück Seife, ohne jede Zeichnung, Buchstaben oder Symbole. Es steht eine Flasche mit Shampoo da, das geruchlos und durchsichtig ist. Aber es schäumt!«

»Für einen Allergiker«, erklärte ich. »Ich gehe mich jetzt duschen, Kotja. Weißt du, wann ich mich das letzte Mal gewaschen habe? Gestern Morgen, bei dir.«

»Und was ist mit dieser ...« - Kotja geriet augenscheinlich ein wenig in Verlegenheit - »... dieser Bitte um Hilfe?«

»Bitte? Meiner Ansicht nach ist das ein Befehl. Und Befehle mag ich nicht.«

»Wir wollten uns diese Welt doch sowieso angucken!«, ereiferte sich Kotja.

»Und einen Menschen mit einer weißen Rose suchen? Das schmeckt mir überhaupt nicht. Das ist eine Falle. Besser ich verschwinde jetzt unter der Dusche.«

Auf Kotjas Gesicht spiegelten sich nacheinander Verzweiflung, Kränkung und sogar Missbilligung wider.

»Aber uns hat eine Dame gebeten«, sagte er. »Schon gut ... Wie du meinst. Geh und erledige deine Wasserprozeduren. Ich schlepp derweil deine Futteralien in die Küche rauf.«

Als ich die Tür hinter mir zuzog, vernahm ich noch etwas in der Art wie: »Da bittet uns eine Dame, aber er macht ein Fass auf, weil er sich zwei Tage lange nicht geduscht hat ...«

Gestohlen bleiben konnte er mir mit seinem Gemurre! Das heiße Wasser, das Shampoo unbekannter Herkunft, ein angenehm harter Strahl - genussvoll wusch ich mich und zog mich danach wieder an. Mist! Für saubere Unterwäsche hatte ich nicht gesorgt. Aber letztendlich tat das meinem Wohlgefühl keinen Abbruch.

Als ich vom Bad in die Küche kam, stand Kotja am Fenster. Auf dem Herd pfiff ein Teekessel aus Aluminium. Bei meinem Erscheinen schaute Kotja demonstrativ auf die Uhr und seufzte.

»Wie stellst du dir denn die Suche nach einem Menschen mit einer weißen Rose in einer fremden Welt vor, Kotja?«, erkundigte ich mich, während ich am Tisch Platz nahm. Ich musste zugeben, dass Kotja ungeachtet des unbeschreiblichen Chaos in seinem eigenen Heim von einer gewissen Ordnungsliebe gepackt wurde, sobald er irgendwo zu Besuch war. Er hatte tatsächlich alle Einkäufe nach oben gebracht und penibel in den Schränken verteilt.

»Wenn du mich fragst, fällt nicht jedem Menschen die einmalige Chance in den Schoß, eine fremde Welt zu erforschen!«, verkündete Kotja bitter.

»Es ist jetzt sieben Uhr abends, Kotja«, entgegnete ich. »Uns bleiben noch zwanzig Minuten.«

»Also willst du doch gehen?« Sofort war er Feuer und Flamme. »Und mir machst du sonst was vor ... Übrigens haben wir es hier in der Küche mit dem gleichen Phänomen zu tun! Nirgends finden sich Herstellermarken, weder auf dem Geschirr noch am Herd. Ich glaube, all das haben Mechanismen des Turms zuwege gebracht! Die haben ein ideales Abbild konkreter Dinge geschaffen! Wenn du so willst, die idealen Dinge Platons!«

»Was für Mechanismen?«, fragte ich, während ich mir heißes Wasser einschenkte und einen Teebeutel in mein Glas tauchte. »Was für ideale Dinge? Soll dieser schiefwandige Teekessel etwa ein idealer Teekessel sein?«

»Man merkt sofort, dass du dich keinen Deut für Philosophie interessierst.« Kotja goss sich ebenfalls einen Tee auf. »Nebenbei bemerkt ist die weiße Rose ein altes Symbol in Philosophie wie Magie! Genau wie der Turm auch! Seit den Zeiten des Turms von Babel ...«

»Kotja ...« Ich seufzte. »Das ist kein Symbol. Wir sitzen in ihm drin. Und wir trinken auch unseren Tee nicht aus einem Symbol.«

»Die ganze Welt besteht aus Symbolen und unser Leben nicht minder!«, rief Kotja hitzig aus. »Die Liebe eines Mannes zu einer Frau ist ebenfalls hochsymbolisch. Ich glaube, wenn diese Dame uns eine Nachricht hinterlassen hat ...«

»Kotja!«, fuhr ich ihn an. »Die Dame?«

Kotja mied es, mich anzusehen, wiederholte jedoch unerschütterlich: »Die Dame!«

Zum ersten Mal wohnte ich dem Moment bei, in dem sich mein Freund verliebte. Wie einfach das war! Ein flüchtiger Blick, eine hinreißende Figur - und Kotja war bereit. Dabei hatte er sich ihr Gesicht nicht einmal genauer anschauen können!

Na schön, die Frau sah gut aus. Aber ...

»Wenn du einverstanden bist, Kirill, dann komme ich mit dir mit«, sagte Kotja entschlossen.

»Du wirst erfrieren. Dort schneit es, und du hast nur Schuhe mit einer dünnen Sohle und eine leicht gefütterte Jacke.«

»Die sieht bloß dünn aus, hält aber eigentlich ungeheuer warm!«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wie du willst! Schließlich bin ich nicht deine Mutter, die dir den Schal um den Hals bindet! Du bist ein großer Junge und kannst deine Lungenentzündung ganz allein auskurieren.«

»Ich komme mit dir mit«, wiederholte Kotja starrköpfig.

Die Gasse lag im Dunkeln. Eine winterliche Dunkelheit, bei der man den Himmel nicht sieht, aber der sich in ihm zusammenballende weiße Schnee gleich einem Koordinatennetz die Luft durchschneidet und vom Boden ein schwaches weißes Leuchten auszugehen scheint. Die verschneiten Mauern und die dunklen Konturen des Turms ließen sich kaum mehr erahnen. Auf dem Turm selbst lag, warum auch immer, kein Schnee.

»Ein kleiner Schritt eröffnet eine ganze riesige Welt«, bemerkte Kotja unvermittelt.

»Hä?« Ich zuckte zusammen. »Was meinst du damit?«

»Na ... wir sind doch zum ersten Mal in eine andere Welt gekommen. Da muss man doch was sagen.« Unter meinem Blick geriet Kotja sogar in der Dunkelheit in Verlegenheit. »Etwas Gescheites.«

»Zum ersten Mal? Hier geben sich die Leute doch die Klinke in die Hand! In beide Richtungen! Außerdem sind wir bereits vor einer Stunde hier gewesen, um uns den Turm anzugucken.«

»Das zählt nicht! Gehen wir?«

Ich hielt es für aussichtslos, gegen Kotjas romantischen Anflug anzukämpfen, und marschierte vom Turm weg. In die Richtung, aus der der Postbote angefahren gekommen war und die vermutlich der Landauer mit der unbekannten Dame samt ihrem Begleiter genommen hatte. Obgleich es in der letzten Stunde tüchtig geschneit hatte, ließen sich die Spuren der Kutsche noch erkennen, denen wir nun zu folgen versuchten.

»Wir gehen das nicht richtig an«, maulte Kotja hinter mir. »Wir hätten uns ausrüsten sollen. Ein Thermometer, ein Barometer ... Welchen Temperaturunterschied gibt es zwischen unserer Welt und dieser? Warum entsteht kein Druckgefälle? Und wir sollten etwas Schnee für eine Analyse mitnehmen ... Oder prüfen, ob hier ein Radio funktioniert ...«

»In meinem Handy ist ein Radio integriert«, trumpfte ich auf.

»Oh!«

»Allerdings brauchst du Ohrenstöpsel, die dienen nämlich gleichzeitig als Antenne. Und die habe ich nicht.«

»Das Handy!«, fiel es Kotja plötzlich ein. »Wart mal ...« Er kramte sein Mobiltelefon aus seiner Tasche hervor. »Mist«, meinte er in entrüstetem Ton. »Wir kommen nicht ins Netz!«

»Wir wollen sowieso kein Plauderstündchen im Schnee abhalten, sonst verkühlen wir uns nämlich mit Sicherheit den Hals.«

Glaubt etwa irgendjemand, Kotja hätte daraufhin Ruhe gegeben? Er diskutierte mit mir über die Architektur der umliegenden Gebäude - selbst wenn man in dieser Dunkelheit kaum was ausmachen konnte. Er entwickelte Hypothesen über Kimgim, die er sogleich wieder verwarf. Zum Beispiel verfiel er auf die Idee, diese Welt könne weitaus entwickelter sein als unsere, und die Menschen bedienten sich der Pferdefuhrwerke einzig aus ökologischen Überlegungen und aus Liebe zum Althergebrachten.

Ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Mit den Füßen den lockeren flaumigen Schnee durchpflügend, ging ich weiter. Es gibt Menschen, die sich in undurchschaubaren Situationen in sich selbst zurückziehen und der Dinge harren, die da kommen. Es gibt aber auch solche, die schwatzen drauflos und bersten vor Ideen. Früher hatte ich geglaubt, ich gehöre dieser letztgenannten Kategorie an. Aber neben Kotja wurde ich unwillkürlich zum Schweiger.

Was mich vor allem beschäftigte, war der Punkt, was wir eigentlich unternehmen wollten, falls wir tatsächlich jemanden mit einer weißen Rose träfen. Welche Fragen sollten wir stellen? Und welche Antworten würden wir wohl erhalten?

Die Straße endete zu unserem Glück genau im rechten Moment. Kotja, der hinter mir hertrottete, hatte zunächst aufgehört zu plappern, dann angefangen, schwer zu atmen, um schließlich zu behaupten, ich würde wie ein Panzerwagen drauflos walzen und keinerlei Mitleid für einen Arbeiter an der geistigen Front zeigen, der es nicht gewohnt sei, durch verschneite Pfade zu stampfen. Er schien sogar bereit zu sein, die Segel zu streichen und umzukehren. Genau in dem Moment leuchtete jedoch vor uns ein schwaches Licht auf, worauf wir beide unwillkürlich den Schritt beschleunigten und eine Minute später auf eine freie Fläche gelangten. Um das Bild abzurunden, ließ sogar der Schneefall ein wenig nach.

»Himmel hilf!«, rief Kotja. »Wo sind wir denn hier gelandet?«

Das fragte ich mich auch.

Auch ich hatte geglaubt, die Gasse läge irgendwo im Stadtzentrum. Folglich bräuchten wir sie bloß entlangzugehen, und schon würden wir inmitten brodelnden Lebens sein. Ich hatte mir schiefwinklige schmale Straßen ausgemalt, eng aneinander geschmiegte Häuser mit zwei oder drei Stockwerken, kleine Plätze mit Springbrunnen und winzige Läden mit Waren unbekannter Herkunft und Bestimmung, würdevoll einherschlendernde Menschen, Pferdefuhrwerke ...

Weit gefehlt.

Vor uns lag das Meer. Eine lange, verschneite Uferstraße zog sich dahin, an die Steinküste schlugen graue kalte Wellen. So standen wir da, eingekeilt zwischen dem Meer auf der einen Seite und den einförmigen, durch die vom Ufer wegführenden Straßen gleichsam auseinandergerissenen roten Ziegelbauten mit ihren schneebedeckten Eisendächern und den lichtlosen Fenstern auf der anderen Seite. Wie weit sich diese Gebäude am Ufer entlangzogen, ließ sich bei dem Schneefall nicht abschätzen. Aber einen Kilometer in beide Richtungen von uns mit Sicherheit.

Das Ufer säumte eine mir bis zur Brust reichende Steinmauer. Darauf spendeten auf niedrigen bauchigen Säulen sitzende, riesige milchweiße Glaskugeln mit einem Durchmesser von einem Meter ein mattes, flackerndes Licht. Zwar gab es nur wenige solcher Laternen, aber dank dem Schnee erhellten sie die ganze Promenade.

»Das ist anscheinend kein elektrisches Licht«, bemerkte Kotja im Ton eines Naturwissenschaftlers. »Guck mal da hinten. Was ist das denn?«

Wir traten an die mit einer Eisschicht überzogene, von Spritzern feuchte Brüstung heran. In weiter Ferne bewegten sich im Meer in der Tat winzige Lichter, ein ganzes Sternbild, das da hinter dem trüben schneeigen Vorhang schimmerte.

»Ein Schiff«, schlug ich vor.

»Hm.«

»Es sieht wie Sankt Petersburg aus«, bemerkte Kotja. »Nein, nicht wie Piter. Wie Jurmala.«

»Willst du damit sagen ...«

»Nein, will ich nicht.« Kotja fröstelte. »Das alles ist irgendwie fremd ... Ist dir nicht mulmig zumute, Kirill?«

Ich dachte kurz darüber nach und schüttelte den Kopf. Nein, mir war nicht mulmig. Ich empfand Neugier, eine leichte Anspannung, mehr aber auch nicht.

»Vielleicht sollten wir besser zurückgehen«, meinte Kotja. »Wir haben gesucht, aber niemanden gefunden.«

»Siehst du da die Spuren von dem Landauer?«, fragte ich.

»Ja«, gab Kotja zu.

»Lass uns ihnen noch ein Stück folgen. Schließlich haben wir es mit einer Kutsche, nicht mit einem Auto zu tun. Weit können sie also noch nicht sein. Oder ist dir kalt?«

»Mir?«, empörte sich Kotja. »Ich bin quasi schweißgebadet! Wie gesagt, meine Jacke, die ist warm.«

»Dann lass uns gehen. Nein, wart mal!«

Ich ging an der Mauer entlang, stampfte den Schnee fest und versuchte, etwas zu entdecken, das jemand weggeworfen hatte. Oder einen Stein, einen Zweig, irgendetwas halt. Über die Brüstung klettern wollte ich dafür jedoch nicht. Schließlich fand ich einen faustgroßen Stein, den ich vom Schnee reinigte und feierlich auf die Brüstung platzierte.

»Du markierst die Stelle?«, erriet Kotja. »Gute Idee. Sonst verlaufen wir uns noch.«

Ehrlich gesagt, beneidete ich meinen Freund ein wenig. Er benahm sich ... hm ... so angemessen. Er erforschte eine neue Welt. Heroisch ertrug er die Kälte. In einem fort stellte er Fragen, war er erpicht auf Antworten. Und ohne jeden Zweifel hatte er ein bisschen Schiss.

Ich dagegen spürte eine unerklärliche Sicherheit in mir, die jeglichen Abenteuergeist im Keim erstickte. Wenn man einen Vergleich bemühen wollte, dann verhielt sich Kotja wie ein Jäger aus dem 19. Jahrhundert, der nach Afrika zur Löwenjagd aufbrach, während ich einen modernen Touristen abgab, der im komfortablen Jeep an einer Safari teilnimmt.

Ob das so sein musste?

Vielleicht gab es hier gar keine Löwen?

Wir marschierten die Uferstraße entlang. Hier ging es sich leichter, da der Wind den Schnee Richtung Meer trieb. Linker Hand zogen sich die Häuser dahin, rechter Hand die Mauer mit den Laternen, während die Lichter des Schiffs in der Ferne verschwanden. Kotja bewegte sich tänzelnd vorwärts und klemmte sich die Hände unter die Achseln. Offen gestanden bedauerte auch ich, keine Handschuhe dabeizuhaben. Der Schneefall legte jetzt wieder in einer überhaupt nicht spaßigen Weise los.

Irgendwann zeichnete sich in dem Gestöber ein Gebäude am Ufer ab. Die Straße führte in einem Bogen zum Meer, und in dem so entstandenen Halbrund stand ein einstöckiges Haus. Ebenfalls aus Ziegelsteinen erbaut, war es jedoch belebt: In den mit Gardinen verhangenen Fenstern schimmerte ein warmes Licht, aus dem Schornstein stieg Rauch auf, vor dem Eingang hatte man Schnee gefegt. Solche Häuser zeichnen brave Kinder, die von ihren Eltern geliebt werden. Darüber hinaus sieht man sie im wohlhabenden und gediegenen Europa.

Bei uns in Russland konnten sie sich, warum auch immer, nur schlecht durchsetzen.

»Wir Idioten!«, stieß Kotja aus, indem er stehen blieb. »Was sind wir doch Idioten!«

Na klar! Obwohl er eine Brille trug, hatte er als Erster das Schild über der breiten zweiflügeligen Tür entziffert.




WEISSE ROSE




»Wie konnten wir nur auf die Idee kommen, wir müssten eine Rose suchen? Noch dazu eine weiße? Mitten im Winter?« Empört schnaubte Kotja. »Das ist ein Hotel. Oder ein Restaurant. Ein Restaurant wäre mir jetzt noch lieber. Gehen wir rein?«

»Halt!« Ich packte ihn bei der Schulter. »Warte!«

Folgsam blieb Kotja stehen.

Ich betrachtete das Gebäude. Was störte mich? Drinnen wäre es bestimmt warm. Vermutlich würde man uns ein Gläschen kredenzen. Wenn wir darum bäten. Und auf unsere Fragen antworten ...

»Ich gehe als Erster rein.« Kotja erhielt einen gestrengen Blick von mir. »Verstanden? Am besten wartest du solange hier.«

»Lass mich raten«, sagte Kotja. »Du hast bei den Fallschirmjägern gedient. Oder du hast einen Karategürtel in einer hübschen Farbe.«

»Nein.«

»Dann spiel hier nicht den Helden!«

»Okay.« Ich verzichtete auf weiteren Widerspruch. »Aber bleib hinter mir. Bitte.«

Das ›Bitte‹ verfing. Kotja nickte.

Ich hielt auf die Tür zu. Eine schöne Klinke, altmodisch und aus Bronze, geformt wie eine Vogelkralle. Warum zögerte ich jetzt noch? Schließlich war hier alles alt! Ich fürchtete mich doch wohl nicht?

Ich griff nach dem kalten Metall und zog die Tür zu mir. Leicht und ohne jedes Problem ließ sie sich öffnen.

»Was ist da?«, fragte Kotja hinter mir.

Vor mir lag ein kleiner Raum, eine Art Flur oder Garderobe. An den Haken an der Wand hing jedoch keine Kleidung. Zwei Türen führten von hier ab. Ein großer, mit abgeriebenem roten Samt bezogener Sessel stand unbenutzt da - und das wirkte irgendwie falsch. Die Wände zierten einige Lampen mit farbigen Schirmen. Anscheinend wurden sie mit Gas betrieben, denn das Licht flackerte wie eine züngelnde Flamme.

Wir traten ein.

»Stilvoll«, kommentierte Kotja. »Und etwas leer. Aber warm!«

Ich stieß eine der beiden Türen auf. Sie führte genau zu dem, was ich erwartet hatte: in einen großen Saal (ebendiese Bezeichnung nötigte sich mir auf), eine vier, wenn nicht gar fünf Meter hohe Decke, in deren Mitte ein Kristalllüster herabhing, der jedoch nicht brannte. Überall drängten sich wuchtige, solide Möbel: Sessel, kleine Tische und Schränke mit Porzellan. An den Wänden hingen beigefarbene Gobelins. Auf einer Marmorplatte über dem brennenden Kamin zwängten sich Figuren aus Glas und Porzellan zusammen. Eine breite Treppe führte in den ersten Stock hinauf. Eine Ecke des Saals nahm ein massiver Tresen ein. Metallene Glashalter fehlten ebenso wie verchromte Hocker. Alles war in mattschwarzem Holz gehalten. Hinter der Theke reihten sich an der Wand nicht ganz so tiefe Schränke, in denen sich prachtvolle Flaschen befanden. Außerdem gab es dort eine Tür, die halb offen stand. Auf dem Boden des Saals lag ein hellbrauner Teppich mit einer eigentümlichen Zeichnung aus wahllos angeordneten dunklen Flecken.

»Was für ein seltsames Muster«, meinte Kotja mit nach unten gerichtetem Blick. Dann sah er mich schweigend an. »Oder nicht?«

»Das ist Blut«, erklärte ich, um mich sogleich umzudrehen.

Im Flur stand ein Mann. Offenbar war er aus der zweiten Tür gekommen, nachdem wir ins Innere des Hauses vorgedrungen waren. Seine Aufmachung wollte mir überhaupt nicht gefallen: Sweatshirt und Hosen, beides in Schwarz und eng anliegend, denen man bereits ansah, wie glatt sie waren, wie wenig Möglichkeit zum Zupacken sie boten. In dieser Kleidung kämpfte man, zog aber nicht los, um irgendwo am Kamin sitzend ein Gläschen zu trinken. Ferner missfiel mir die schwarze Tarnkappe über dem Kopf, bei der nur Sehschlitze ausgespart waren. Auch die Augen behagten mir nicht, mit ihrem kalten, erbarmungslosen Blick. Und meine ganz entschiedene Abneigung rief der solide kurze Knüppel in der Hand dieses Menschen hervor.

Aber was soll ich alles im Einzelnen aufzählen? An dem ganzen Typ wollte mir partout nichts gefallen!

Dazu gehörte auch, wie er konzentriert näher kam und dabei den Knüppel leicht seitlich hielt.

»Wir hätten hier nicht reinkommen sollen, Kirill«, meinte Kotja, der etwas in meinem Rücken fixierte, mit zitternder Stimme.

Ich folgte seinem Blick: Hinterm Tresen hatte sich ein weiterer Mann in Schwarz aufgebaut, der sich entweder hinter der Theke versteckt haben oder durch die Tür hereingekommen sein musste. Einem friedfertigen Barkeeper, der davon träumt, dir einen raffinierten Cocktail zu mixen, glich er in keiner Weise. Dazu müsste er zunächst mal den Knüppel und das Messer mit der breiten, blattförmigen Klinge weglegen.

Zwei weitere schwarz gekleidete Gestalten traten aus einer Tür am anderen Ende des Saals, die ich bislang nicht bemerkt hatte. Auch sie trugen Knüppel und Messer.

Alle miteinander erweckten sie nicht den Eindruck, uns gefangen nehmen zu wollen. Vielmehr schienen wir ein ärgerliches Hindernis darzustellen, das sie kurzerhand und möglichst ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen gedachten.

Der Mann hinter der Theke holte leicht mit dem Messer aus.

Der Mann in der Garderobe trat über die Schwelle und stand nunmehr zwei Meter vor uns.

»Kirill ...«, setzte Kotja an.

Ich achtete gar nicht darauf, was er sagte. Der Mann, der den Posten des Barkeepers usurpiert hatte, ließ den Arm entschlossen vorschnellen. In dem Moment schoss meine Hand nach vorn, dem abgefeuerten Messer entgegen. Gleichzeitig trat ich Kotja vors Schienbein. Wie zu erwarten, ging er zu Boden.

Im Grunde war das alles unmöglich - falls du nicht von klein auf in irgend so einem Shaolin-Kram ausgebildet worden bist. Aber natürlich zerbrach ich mir über solche Kleinigkeiten im Moment nicht den Kopf.

Ich erwischte das Messer im Fluge, fing es aber nicht, sondern berührte nur kurz den Griff und korrigierte die Flugbahn. Es drang dem Mann in die Brust, der uns den Rückzug versperrte - mit der ganzen breiten Klinge, sodass aus dem schwarzen Stoff nur noch ein kurzes Endchen herausstak, der so gar nicht wie ein Griff wirkte. Der Typ stieß einen Grunzlaut aus und sackte auf die Knie.

Diesmal konnte ich nicht behaupten, ich trüge keine Schuld daran.

Der Kerl, der das Messer geworfen hatte, sprang über den Tresen, wobei er sich elegant nur mit der linken Hand abstützte, während er mit der rechten den Knüppel herumwirbelte. Dieser schoss direkt auf meinen Kopf zu. Ich duckte mich weg, um dem Schlag zu entgehen - und stieß dem Angreifer die flache Hand gegen die Brust. Der Mörder fiel mehr oder weniger in sich zusammen. Wankend wich er zurück, ließ den Knüppel fallen und fasste sich mit beiden Händen hilflos an die Brust. Erneut schlug ich zu, aus irgendeinem Grund auch diesmal nicht mit der Faust, sondern mit gespreizten Fingern. Ich zielte auf die Partie unter dem Kinn. Dann spürte ich mehr, als dass ich es hörte, wie die Wirbel knackten, als sein Kopf nach hinten sank.

Diejenigen, die noch am Leben waren, hielten inne. Angst zeigten sie keine, obwohl ich selbst beim Anblick eines unbewaffneten Mannes, der gerade zwei Angreifer getötet hatte, mir noch vor drei Tagen in die Hosen gepisst hätte. Eher wirkten sie verwirrt.

»Sind das Funktionale?«, fragte einer der Überlebenden zu meiner Überraschung.

»Nein, das kann nicht sein«, antwortete der zweite.

Sie sahen aus wie die Schurken in einem Zeichentrickfilm für Kinder. Zu allem Überfluss hielt der eine den Knüppel in der rechten Hand, der andere seinen in der linken, womit die beiden förmlich ein Spiegelbild voneinander abgaben.

»Du hast sie umgebracht, Kirill!«, rief der auf dem Rücken liegende Kotja mit einem Mal aus, während er gerade versuchte aufzustehen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich weitaus größeres Entsetzen wider als in dem Moment, als die uns umbringen wollten. »Du hast sie umgebracht!«

Plötzlich trat der Linkshänder gegen den vor ihm stehenden Stuhl, und zwar mit solcher Wucht, dass das Ding auf meinen Kopf zuflog. Sofort ging das Pärchen zum Angriff über.

Den Stuhl fing ich im Flug auf, indem ich mit beiden Händen nach den geschwungenen, beschnitzten Beinen griff. Mit einem einzigen Ruck riss ich sie ab. Ich drehte sie in meinen Händen so, dass die spitzen Enden nach vorn ragten. Noch bevor die Angreifer mich ihre Knüppel spüren lassen konnten, rammte ich ihnen die Hölzer in die Brust.

Wie sich im Zuge dieses Experiments herausstellte, ist ein Holzpfahl in der Brust für einen Menschen nicht weniger tödlich als für einen Vampir.

Der Linkshänder stürzte direkt auf Kotja, der sich jammernd unter dem zuckenden Körper hervorschlängelte. Sofort kroch er von mir weg, als glaube er, ich würde auch ihn pfählen.

Verübeln konnte ich ihm diesen Gedanken offen gestanden nicht. Für Kotja war ich ja quasi ein Unbekannter.

»Du hast sie umgebracht! Du ... du ...«

»Ansonsten hätten die uns umgebracht!«, brüllte ich. »Was glaubst denn du?! Die wollten uns abmurksen! Wenn du es genau wissen willst: Das Messer hätte dich direkt am Hals getroffen!«

Kotja nickte, wenn auch ohne sonderliche Überzeugung. Dann klärte sich sein Blick ein wenig, die wahnsinnige Angst wich - selbst wenn sie eindeutig versprach zurückzukommen.

»Kotja, ich bin nicht wahnsinnig. Ich bin kein Irrer. Die haben uns angegriffen, ich habe uns verteidigt.«

»Wie hast du sie ... Wie hast du das überhaupt geschafft?« Kotja nahm die Brille ab, um sie zu putzen. Sein Gesicht wirkte in diesem Moment verwirrt und schutzlos, wie es ja häufig bei Brillenträgern vorkommt.

Ich musterte die vier reglosen Körper. Einem steckte ein Messer im Herz, ein anderer hatte ein gebrochenes Genick, zwei hatte ich aufgespießt. Anscheinend war bei einem der Pfahl sogar ganz durchgegangen. Mit welcher Kraft musste ich da zugestoßen haben? Leicht erschaudernd betrachtete ich meine Hände. Da willst du dir in der Nase bohren und reißt dir gleich den halben Kopf ab...

»Ich weiß nicht, wie. Das kam ganz von selbst. Wir mussten uns verteidigen, und da ...«

»Du ... in dem Moment waren deine Augen ... ganz nachdenklich, melancholisch. Als ob du laut ein Gedicht vorliest.«

Was für ein Vergleich!

Letzten Endes steckte in Kotja eben doch ein Schriftsteller.

»Ich habe getan, was getan werden musste. Ich ... habe noch nicht mal darüber nachgedacht. Ich wusste einfach, was nötig war.«

Kotja nickte. Er schob sich die Brille auf die Nase. In seinen Blick kehrte die Vernunft zurück. »Das, was die geschrien haben, hast du das verstanden?«

»Ja. Wieso?«

»Hab ich mir gedacht.« Abermals nickte Kotja. »Die haben kein Russisch gesprochen. Ich könnte nicht mal sagen, welche Sprache sie benutzt haben ... Es klang angenehm, fast wie Französisch. Aber ich kenne diese Sprache nicht.«

Ich wunderte mich nicht im Mindesten.

»Was haben sie denn gesagt?«, fragte Kotja, während er den zu seinen Füßen gerollten Knüppel aufhob und respektvoll in den Händen wog.

»Der eine hat den anderen gefragt: ›Sind das Funktionale? ‹ Der andere hat dann geantwortet, das könne nicht sein. Was ist ein Funktional?«

»Eine mathematische Funktion.« Kotja legte den Knüppel sorgsam auf den filigranen Zeitungstisch, der das Kampfgetümmel wundersamerweise heil überstanden hatte. »Du bist doch der Spezialist für seltene Wörter, du müsstest das besser wissen als ich.«

»Allem Anschein nach braucht sich ein Zöllner nicht für Funktionale zu interessieren.«

Abermals maß mich Kotja mit einem Blick. »Aber du hast etwas gespürt!«, meinte er dann kopfschüttelnd. »Du wusstest, dass wir in einen Hinterhalt laufen.«

Es wäre sinnlos gewesen, das Offenkundige abzustreiten. Deshalb trat ich hinter den Tresen und schaute durch die Tür. Eine kleine Küche, alles - warum auch nicht - aufs 19. Jahrhundert getrimmt. Anscheinend war hier niemand. Von einem der Regale schnappte ich mir eine Flasche, die nach Alkohol aussah, und musterte das Etikett. Eine Beschriftung, die mir zu denken gab. Etwas auf Englisch. Irgendein Whisky.

»Was steht hier, Kotja?« Ich hielt ihm die Flasche hin.

Kotja kam zu mir und blickte angewidert auf die toten Körper. »Gott im Himmel, hier liegen vier Leichen rum, und du willst dich betrinken ... Das ist Whisky, ein Single Malt, zwölf Jahre alt ... Alle Achtung! Den genehmigen wir uns!«

Er trank einen ordentlichen Schluck direkt aus der Flasche und fing zu husten an.

»Lesen kannst du es also?«, wollte ich wissen.

»Falls du dich daran zu erinnern beliebst: Das Schild konnte ich auch lesen.« Kotja reichte mir die Flasche. »Das war auf Russisch.«

»Was soll das denn heißen? Spricht man hier etwa eine Sprache und schreibt in einer anderen?«

»Meiner Ansicht nach sind diese ...« Kotja bedachte mich mit einem überraschend ironischen Blick. »... sind die hier genauso zu Besuch wie wir. Sie haben sich in ihrer Sprache unterhalten. Nur dass du diese Sprache anscheinend verstanden hast.«

»Funktional?« Ich zuckte die Schultern. »Ich würde nicht gerade behaupten, dass ich das verstehe, aber ... Was machst du denn da?«

Kotja wanderte von einer Leiche zur nächsten, um jede am Handgelenk zu berühren.

»Vielleicht leben sie ja doch ... Dann müssten wir helfen.«

»Das sind Mörder!«

»Aber jetzt sind sie ja wohl kaum noch gefährlich, oder?« Kotja breitete die Arme aus. »Nein, denen hast du es gegeben. Was hast du uns da bloß eingebrockt, Kirill? Schließlich ist das hier eine fremde Welt! Ist dir das eigentlich klar? Und wir beginnen unsere Bekanntschaft mit einem Verbrechen! Du hättest sie nicht umbringen sollen ...«

Er ging zur Tür am anderen Ende und lugte vorsichtig in den Nachbarraum. Als er zurückkam, ließ er sich kraftlos gegen die Wand sacken. Im Nu wich alle Farbe aus seinem Gesicht.

Ich schnappte mir einen Knüppel und eilte ihm zu Hilfe.

»Sieh dir das lieber nicht an«, warnte mich Kotja rasch. »Erspar dir das besser.«

Er sah kreidebleich aus und war schweißgebadet. Ein Tropfen hing ihm sogar - ein komischer Anblick - an der Nase.

»Du hättest sie nicht umbringen sollen«, wiederholte Kotja. »Damit hast du es ihnen zu leicht gemacht. Sie hätten ... sie hätten leiden müssen.«

Im Grunde hätte ich mir das Ganze nach diesen Worten wirklich nicht mehr anzusehen brauchen. Es war ohnehin alles klar. Trotzdem spähte ich in den anderen Raum hinein.

»Diese Bestien«, murmelte Kotja.

»Sie haben sie gefoltert«, sagte ich. »Reiß dich zusammen. Hier gibt es jemanden ... dem wir wirklich den Puls messen sollten.«

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