Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen großen Käfig, in dem kleine Versuchsmenschen lebten. Das ist schwer? Gut, dann nehmen wir einen großen Käfig, in dem kleine Versuchsmäuse leben.
Drum herum stehen noch viele andere Käfige, und in jeden ist irgendwann ein Mäusepaar gesetzt worden. Freilich, in dem einen Käfig hat sich das Männchen als steril herausgestellt, in dem anderen hat die Selbsttränke versagt und die Mäuslein ertränkt, in den dritten hat sich eine wilde Ratte geschlichen und sich an den Bewohnern gütlich getan, im vierten ist die Quarzlampe heruntergefallen, und aus dem fünften sind die Mäuse ausgebrochen und in alle Richtungen davongelaufen. Trotzdem bleibt noch eine stattliche Zahl von Käfigen bewohnt. Und wenn Sie das Leben der Mäuschen in Ihrem Käfig verbessern wollen, beobachten Sie die Nachbarkäfige. Die Mäuse da leben in einer großen Familie? Interessant. Schauen wir doch mal, ob wir auch die eigenen Mäuse an den Kollektivismus gewöhnen sollten. Und die Mäuse da hocken ständig in der Ecke? Na, dann wollen wir mal sehen, ob sie sich vielleicht wohler fühlen?
Das Schicksal der Mäuse in den anderen Käfigen kümmert Sie wenig. Sie sind kein Sadist, Sie haben nichts gegen diese lieben Puschelwesen, aber wichtig ist für Sie nur ein Käfig, nämlich der, den Sie als allerletzten eingerichtet haben. An den dort lebenden Tierchen hängen Sie wirklich.
Und mit den anderen kann man experimentieren.
In dem Käfig, in dem alle Mäuse in den Ecken sitzen, freunden sich einige Individuen an und versuchen, sich zusammenzurotten? Das gehört unterbunden! Diese Kontrollgruppe muss abgesondert werden! Natürlich wären Sie imstande, die aus der Reihe tanzenden Mäuse totzuschlagen oder im Klo runterzuspülen. Aber Sie sind kein Sadist. Sie stellen einfach in jeder Ecke des Käfigs ein gemütliches Häuschen auf, legen ein großes Stück Käse hinein, sperren die Delinquenten getrennt jeweils in eins der Häuser weg - und halten sie an der kurzen Leine. Sie können den Mäusen sogar schöne bunte Bänder umbinden und ihnen eine Extraportion Vitamine als Ausgleich für die eingebüßte Freiheit spendieren. Vermutlich werden sie sich an die Situation gewöhnen und sogar ganz zufrieden sein.
In einem anderen Käfig können Sie das Wasser mit einem chemischen Präparat versetzen. Mal sehen, ob die Mäuse eine gute Portion Lachgas glücklich macht? Nein, das tut es nicht, sie sterben. Wie schade.
Im dritten Käfig, in dem Sie die Mäuse dressiert haben, in einem Rad im Uhrzeigersinn zu laufen, isolieren Sie diejenigen, die stur gegen den Uhrzeigersinn laufen. Abermals kommen Ihre kleinen Häuschen, die Leine und besonders schmackhaftes Essen zum Einsatz.
Nach einiger Zeit wird Ihnen klar, dass Sie einen Teil der Sorgen bezüglich der Kontrollkäfige den Mäusen selbst überantworten können. Und zwar eben denjenigen, die es geschafft haben, die Reinheit des Experiments zu stören und die an die Leine genommen wurden. Mit einem lauten Pfiff lenken sie Ihre Aufmerksamkeit auf sich, wenn etwas passiert. Sie beißen ihre Artgenossen mit aller Gewalt, sobald diese versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. (Als ich gegen den Uhrzeigersinn losmarschiert bin, habe ich ein Häuschen und eine Portion Käse bekommen! Was ist, wenn ein anderer seine Laufrichtung ändert? Kriegt der dann meine Ration?)
Allmählich pendelt sich alles ein. Den Tieren in Ihrem Lieblingskäfig geht es prächtig. Sie sind der Pestepidemie entgangen, die Käfig acht heimgesucht hat, wo Sie den Müll nicht mehr beseitigt hatten. Sie sind nicht an Skorbut gestorben wie die Bewohner von Käfig fünfundzwanzig, wo Sie ein neues Futter getestet hatten. Sie haben einander nicht mit Atomwaffen umgebracht ... Nicht doch, Entschuldigung, was sollen denn hier Atomwaffen? Schließlich reden wir von Mäusen!
Alles pendelt sich ein.
Sie sind jetzt überzeugt davon, dass früher oder später sympathische und glückliche Mäuse entstehen werden.
Zumindest in dem einen auserwählten Käfig.
»Was sollte ich werden?«, fragte ich Natalja.
»Aha«, antwortete sie. »Hast du es endlich kapiert ... Ich weiß es nicht, Kirill. Das übersteigt meine Kompetenzen. Ich bin nur eine Hebamme und Gynäkologin, hast du das vergessen?«
»Eine Hebamme oder Gynäkologin assistiert nicht nur bei der Geburt.«
»Richtig, wir müssen auch Abtreibungen vornehmen. Aber warum ich dem einen helfen soll, auf die Welt zu kommen, den anderen aber daran zu hindern habe, wird mir nicht mitgeteilt. Es tut mir ja selbst leid, weißt du ...« Seufzend sah Natalja sich um. »Bei dir ist es so gemütlich gewesen. Man hat sofort gesehen, dass hier ein angenehmer Mensch wohnt ... schade. Schade, Kirill!«
Sie hob die Hand und fuhr mit ihr über die Wand.
Zunächst schlängelte sich nur ein feiner Riss durch den Putz. Dann knisterte etwas tief im Innern in der Wand, aus dem Riss rieselte ockerfarbener Ziegelstaub, gleichsam als sei dort ein gezähnter stählerner Wurm am Werk.
Mich stach etwas in die rechte Seite, unter den Rippen. Kurz und heftig. Schmerz loderte auf und erlosch sofort wieder.
Natalja verengte die Augen zu Schlitzen und fuchtelte mit der Hand, als dirigiere sie ein unsichtbares Orchester.
Der Turm wankte hin und her - gleichsam als krümme sich die Erde selbst, die Last von fünf Welten nicht aushaltend, unter ihm. Jeder Stein schien im Gemäuer auf und ab zu springen, als versuche er, seinen angestammten Ort zu behaupten.
Mein Atem setzte aus, und ich stürzte zu Boden. Mühevoll hievte ich mich hoch, bis ich auf allen vieren stand. Die sauberen gelben Dielen dunkelten zusehends ein, ein Netz aus Kratzern spannte sich über ihnen, sie verbogen und wölbten sich.
»Siehst du, Kirill«, brachte Natalja belehrend hervor, »nicht immer ist es einem vergönnt, stehend zu sterben.«
Sie zerstörte den Turm! Über mich hatte sie keine Gewalt, was jedoch nicht die geringste Rolle spielte. Denn sie war imstande, meine Funktion auszulöschen.
Und wenn meine Funktion verschwindet, dann sterbe auch ich.
Ich versuchte mich zu erheben. Es gelang mir, noch hielt das Gebäude stand. Folglich musste ich immer noch ein Funktional sein. Ich schaffte es sogar, einige Schritte auf Natalja zuzugehen. Jetzt die Hände nach ihr ausstrecken! Sie schlagen ... ihren Hals umschließen ...
Die Frau brach in schallendes Gelächter aus und zerhackte mit der Hand die Luft. Hinter ihr explodierte die Wendeltreppe förmlich - das hölzerne Geländer stob durch die Luft und loderte auf, die gusseisernen Geländerpfosten zersplitterten und hagelten krachend nieder, die Mittelsäule krümmte sich, als schmelze sie in großer Hitze.
Der Schmerz durchschoss meinen Rücken wie ein Feuerstab, dessen lodernde Rinnsale über meine Rippen strömten. Ich wirbelte herum, wollte dem meinen Rücken marternden Feuer entkommen, fiel dabei jedoch hintüber, Natalja direkt vor die Füße.
Sie beugte sich über mich und schaute mir in die Augen. »Was ist, Kirill?«, fragte sie. »Hältst du noch durch?«
Nichts jagte mir größeren Schrecken ein als das Fehlen jedweder Grausamkeit, Schadenfreude, sadistischer Erregung oder Verachtung in ihrer Stimme. Ganz im Gegenteil: In ihr schwangen Mitleid und ein Hauch von Neugier mit. Während der Experimentator dem arglosen Mäuschen das tödliche Gift spritzt, kann er Tiere durchaus aufrichtig lieben.
Das Wichtigste war jetzt, Ruhe zu bewahren. Die klebrige Angst aus meiner Seele zu jagen. Wer in Panik verfällt, hat schon verloren.
Sie war stärker als ich. Sie konnte Menschen in Funktionale verwandeln, ihnen aber auch die Funktion entziehen. Doch nicht alles hängt davon ab, wie stark du bist. Die Gruppe von jungen Leuten um Illan hatte es fertiggebracht, das Funktional Rosa gefangen zu nehmen, weil diese von Natur aus keine Kämpferin war. Ich hatte einen Polizisten zu besiegen vermocht, weil ich näher am Zentrum meiner Kraft, dem Turm, gewesen war.
Jetzt befand ich mich direkt im Turm. Der zwar mitten im Prozess der Auflösung steckte, aber noch standhielt. Hier hatte ich meine tödlichen Wunden geheilt. Nützte mir das etwas? Nein! Was kam sonst noch in Frage? Jede Nacht gestaltete sich der Turm nach meinem Geschmack um. Als ich darauf angewiesen war, platzten im Turm die Rohre. Nützte mir das etwas?
Ja.
Falls der Turm mir gehorchte.
Es entzog sich meiner Kenntnis, welche Kräfte den Turm zu seinen Mutationen zwangen. Anscheinend machte er das nur höchst ungern im Beisein von Zeugen. Jetzt jedoch lag er im Sterben.
»Du hast ... einen Zöllner ... angegriffen«, presste ich hervor. »Damit verletzt du ebenfalls ... die Gesetze der Funktionale. Ich kann ... mich verteidigen.«
Die Worte schienen Natalja zu amüsieren.
»Nur zu. Verteidige dich.«
Sie klatschte in die Hände - und in den Fenstern barsten mit traurigem Jammern die Scheiben. Sie hob den Arm, als greife sie nach etwas mir Unsichtbarem. Das sie dann energisch zu sich herunterzog.
Von der Decke rieselten weiße Farbplättchen. Direkt über mir trat die Fuge zwischen den Deckenplatten hervor.
Mir wurde schwarz vor Augen. Um meinen Schädel schien sich ein Stahlring zusammenzuziehen.
Im selben Moment brannte die am Kabel hängende Glühbirne mit blendendem Licht auf, das Glas zerfiel zu Splittern, das Kabel schlängelte sich nach unten. Mir wurde erst klar, was da vor sich ging, als die feinen Haltedrähte, zwischen denen weiß rauchend die Wolframspirale niederbrannte, sich mit der Gier einer Schlange in Natalja Iwanowas Hals bohrten.
Die Hebamme schrie auf, krümmte sich. Das Kabel sauste immer tiefer herunter, legte sich in einem Ring um sie und schnürte ihr die Kehle ab. Mit einem Ruck zuckte es nach oben - und Nataljas Beine baumelten in der Luft.
Ich stand auf. Es schüttelte mich noch, doch der schlimmste Schmerz war vorbei.
Nataljas Gesicht lief im Nu krebsrot an. Mit verzweifelter Anstrengung gelang es ihr, die Hände unter die Schlinge zu schieben und den tödlichen Druck etwas zu lindern. Den durch ihren Körper fließenden Strom schien sie nicht einmal wahrzunehmen.
»Das ist für Arkan ...«, sagte ich, den Blick auf sie gerichtet. »Die Verwandlung in ein Lasso hättest du dem schnöden Kabel wohl kaum zugetraut!«
»Hör auf!«, schrie Natalja.
Ich lachte. Ich fand das wirklich komisch. Nachdem sie Nastja umgebracht hatte, nachdem sie mich kaltblütig töten wollte, sollte ich sie laufen lassen?
»Sag: Bitte!«
»Bitte!«
»Sag: Ich werde es nie wieder tun!«
Nataljas Augen funkelten. Das Kabel zog sie höher und höher zur Decke hinauf.
»Du Idiot! Wenn ich sterbe ... eure Funktionen sind ausnahmslos mir beigeordnet! Der Turm wird so oder so einstürzen! Hunderte von Funktionalen werden zu Menschen!«
»Hervorragend!«, bemerkte ich. »Glaubst du etwa, darüber wäre ich traurig?«, fragte ich kopfschüttelnd.
»Wir erlauben dir, ein Funktional zu bleiben!«, plärrte sie.
»Verreck doch, du Tier!«, antwortete ich bloß. »Verreck, und dann werden wir wieder zu Menschen.«
»Niemand ... wird ... euch ... das ... erlauben«, krächzte Natalja. »Der Kurator ... wird diesen Fehler korrigieren ...«
Damit zog sie die Hände aus der Schlinge.
Die Deckenplatten über ihr gingen an der Fuge auseinander, ein gieriger Betonmund öffnete sich, zitternd und wartend. Die Deckenträger staken wie schiefe rostige Hauer hervor. Das Kabel züngelte in den Schlund und lieferte die Hebamme den Deckenplatten aus, die darauf lauerten, sich wieder zusammenzuschieben.
Nataljas Arme schossen nach oben und zerhackten die Luft. Sie breiteten sich aus und zerrissen etwas, zerquetschten ein für mich unsichtbares Objekt.
Der Turm stöhnte. Aus den Mauern segelten die Ziegelsteine nach innen. Der Boden bebte, Wellen brandeten über ihn hinweg. Die blendende Sonne über dem Reservat trübte sich, und vor das Fenster von Erde-17 zog sich ein undurchdringlicher grauer Schleier.
In dem Augenblick nahm ich einen Blick voller Trauer und Zärtlichkeit wahr, mit dem etwas Großes, Mächtiges und Sterbendes auf mich sah. So betrachtet ein uralter Greis, dessen Seele Mitleid und Bitternis keinen Platz mehr darbietet, die Fotografien seiner Kindheit. Explosionsartig erfasste meinen Körper ein kribbelndes Stechen, etwas straffte sich und platzte wie eine überstark gespannte Saite.
Meine Funktion starb - und brach die Verbindung zu mir ab.
Für einige sich in alle Ewigkeiten ausdehnende Sekunden zeigten sich all meine Sinne aufs Äußerste geschärft. Ich vernahm das Knacken von Nataljas Halswirbeln und das Brummen der Eisenbahn, die von der Station Sewerjanin abfuhr. Ich sah, wie der sterbenden Hebamme der Schweiß auf die Stirn trat und wie die Teleobjektive funkelten, mit denen man von jenem Turm in dem unendlich weit entfernten Ostankino Arkans den meinigen anvisierte. Der bittere Geruch der auf dem Herd verschmurgelnden Spiegeleier stieg mir ebenso in die Nase wie der Gestank des alten Fleischs, aus dem neben der Metrostation Alexejewskaja Shawarma hergestellt wurde. Ich schmeckte den salzigen Geschmack von Blut auf meinen Lippen und die saure Entladung, die durch Nataljas Körper fuhr. Ich spürte, wie mir Brösel der Deckenfarbe in staubigen Schneeflocken auf die Haare fielen und wie die Stiefel der Soldaten am Ewigen Feuer hart auf unsere Erde traten.
Und dann war da noch etwas. Etwas Betäubendes, Außerordentliches, das nicht für einen gewöhnlichen Menschen bestimmt war. Eine Art Erinnerung, jedoch mit anderem Vorzeichen. Eine Mischung aus Farben, Geräuschen, Düften, Aromen und Eindrücken.
... Sagen Sie, Dmitri, wie ist das bei Ihnen üblich ... Ich drücke mit den Händen den grauen Schleier auseinander, taste mich vor, als schwimme ich in Gallert ... Jemand tritt schwer metallen auf, Schritte hämmern ... Eine unerträgliche ätzende Bitternis frisst an meinen Lippen ... Die Last ist kaum zu tragen, ich werde sie nicht stemmen ...
Die Welt wurde unerträglich grell und beschämend winzig. Schließlich schrumpfte sie auf einen Punkt zusammen - auf mich. Mein Körper wurde schwer, ich geriet ins Schwanken.
Es erwies sich als anstrengend, wieder zum Menschen zu werden. Fast so anstrengend wie beim ersten Mal. Wenn du dich von der Heimeligkeit und Sicherheit des Mutterleibs losreißen musst, von dem schwerelosen Gleiten im dunklen warmen Nass, wenn du das erste Mal die bittere Luft mit noch ungeschickt gebrauchten Lungen einatmest, in vollem Umfang die Erdanziehungskraft spürst und gottserbärmlich vor Scham und Erstaunen aufschreist.
All meine Funktionalskräfte, all meine geliehenen Kenntnisse und Fähigkeiten, verpufften.
Der Turm erzitterte. Mit einem letzten Ruck zog das Stromkabel Natalja weiter hinein in die Lücke in der Deckenmitte, dann fuhren die Betonplatten wieder zusammen.
Etwas knackte, widerwärtig und matschig.
Noch einmal zuckten die Beine in der billigen türkischen Jeans, die sich im Nu dunkel und rot einfärbten.
Langsam stürzte der Turm ein.
Ich hechtete durch das letzte Fenster, vor dem der graue Dunst der Zwischenwelt noch nicht hing. Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte ich die Arme nach vorn, als spränge ich von einem Brett in ein Schwimmbecken. Hinter mir bröckelten die Ziegelsteine ab, zerfielen die Deckenplatten, toste das aus den Rohren sprudelnde Wasser und knackten die berstenden Dielen.
Die verschneite, steinharte Erde sauste auf mich zu. Ich schloss die Augen.
Die Grube war anderthalb Meter tief. Die oberste Schicht bestand aus Schnee, bis zum Boden war das Loch mit faulen Blättern, feuchtem ausgebleichten Gras und abgeschnittenen Zweigen angefüllt - und eben nicht mit dem üblichen Stadtmüll. Was war das? Die Kompostgrube des hiesigen Hauswarts? Warum hatte ich sie früher noch nicht bemerkt? Und welches Wunder hatte sie praktischerweise genau unter dem Fenster entstehen lassen, aus dem ich gesprungen war?
Wunder gibt es nicht!
Ich war etwas lädiert, ein Arm von einem spitzen Ast aufgekratzt, hinter den Kragen war mir Abfall gerutscht, ich trug nur ein Hemd und Sommerhosen, außerdem war ich pitschnass, aber ich lebte. Allem zum Trotz lebte ich.
Nastja war tot.
Und Natalja Iwanowa, das Hebammenfunktional, verreckt.
Beim zweiten Mal war es mir also doch noch gelungen, sie zu töten.
Immer wieder im Schnee ausrutschend, kraxelte ich aus der Grube. Ich beäugte sie argwöhnisch. Dann stürzte ich zum Turm.
Nach wie vor stand er ein wenig abseits der Eisenbahngleise und sah ganz wie ein aufgegebener Wasserturm aus. Nur die Jahreszahl über der Tür, 1978, prangte nicht mehr dort. Dabei war das doch mein Geburtsjahr ... Das mir das nicht gleich aufgefallen war.
Spuren der Zerstörung entdeckte ich keine. Ein kleines Fenster drei Meter über dem Boden war gesprungen. Doch das fiel nicht weiter auf - in verlassenen Gebäuden sind immer ein paar Fenster entzwei.
Ich rüttelte an der verrosteten Tür, die quietschend nachgab. Im Innern herrschte Dunkelheit, nur ein schmaler Lichtstrahl drang durch ein Fenster, dem sich jetzt das durch die Tür fallende Licht zugesellte. Natürlich existierten weder Stockwerke noch Decken. Ein widerhallender hoher Raum, der von dem verrosteten Boden des Wasserspeichers erdrückt wurde. Den Fußboden bedeckten große Ziegelsteine, Glasscherben, Eisenteile undefinierbarer Bestimmung und Müll. Nur der heruntergekommenste Penner würde mit diesem Quartier vorlieb nehmen.
Nastja lag gleich hinter der Tür.
Ich hockte mich neben sie, presste mein Ohr an ihre Brust und maß ihr den Puls.
Wunder gibt es nicht.
Vielleicht, wenn sie ein Funktional wäre ... Falls sich nach Nataljas Tod wirklich wieder alle, die sie zu Funktionalen gemacht hatte, in Menschen zurückverwandelten ... Nein, auch das würde nicht klappen. Leben ist Leben, und Tod ist Tod. Ein Funktional kann mit dem Tod Versteck spielen - wenn das Dunkel besonders dicht und das Zimmer groß ist. Aber wenn er dich fängt und dir seine Knochenhand auf die Schulter klopft, dann gibt es kein Zurück.
»Verzeih mir«, sagte ich. »Du hättest in Nirwana bleiben sollen. Verzeih mir, Nastja.«
Natürlich antwortete sie mir nicht. Und es bedeutete keinen Trost, mir vor Augen zu halten, dass sie mir aller Wahrscheinlichkeit nach verziehen hätte.
Was war ich nur für ein Idiot. Kaum aufmerksamer und vorausschauender als Nastja. Ich hatte mich benommen wie ein ... Wie was? Wie ein Funktional. Ich hatte innerhalb der Grenzen gehandelt, die mir gesetzt worden waren.
Niemals hätte ich so unbedacht von einer Welt in die andere hasten dürfen. Und warum musste ich stolz alle Allianzen ablehnen und mich selbstgefällig in den Kampf stürzen? Bis zu dem Moment, an dem etwas geschah, das nicht rückgängig zu machen war, an dem Nastja starb, an dem sie mich zwingen wollten, in die Knie zu gehen - bis zu dem Moment hätte ich noch lavieren können. Diese Möglichkeit hatte ich verstreichen lassen.
Besser wäre es gewesen, an meiner Stelle hätte ein Politiker gestanden. Er hätte sich auf ein langes Spiel einzulassen gewusst ...
Selbst wenn er am Ende der Partie hätte feststellen müssen, dass er schon längst Schlagdame spielt.
Nein, die Geschichte hatte einen ganz und gar dummen Verlauf genommen. Sobald du dich auf die Regeln dieses Spiels einlässt, hast du schon verloren. Es ist wie im Casino: Du kannst auf Zahl oder Farbe setzen, auf Zero, Gerade oder Ungerade - am Ende gewinnt doch die Bank. Wenn du dich auf die Regeln ihres Spiels einlässt, wirst du einer von ihnen. Darin erschöpft sich die ganz Finesse. Wie in dem alten Roman, den ich in meiner Kindheit gelesen habe: In dem Moment, da du die Geheimsprache deines Feindes erlernst, fängst du an, in ihr zu denken. Wie der Feind zu denken. Oder wie in der noch älteren Legende: Indem du den Drachen tötest, wirst du selbst zum Drachen. Jeder, der genug Finessen beherrschte, gegen die Funktionale von Erde-1 zu gewinnen, wurde genauso wie sie. Der Traum des Politikers Dima unterschied sich durch nichts von dem, was die Bewohner von Arkan mit uns machten: Er wollte an ein Experimentierfeld herankommen, ein Übungsgelände. Natürlich nur um der hehrsten Ziele willen ...
Du hast keine Chancen zu gewinnen, wenn du als Mensch in den Kampf ziehst. Und du kannst auf den Sieg getrost verzichten, wenn du ein Funktional bist.
Du brauchst einen dritten Weg - den es nicht gibt.
Ich strich Nastja über die kalte Wange. Ich musste den Notarzt herbestellen. Aber noch nicht gleich. Zunächst musste ich verschwinden. Jetzt, wo ich wieder ein normaler Mensch war, wollte ich der Miliz nicht in die Hände fallen. Ich hätte ihnen des Langen und Breiten beweisen müssen, dass ich zufällig in dieses verlassene Gebäude geraten war und genauso zufällig die Leiche der jungen Frau entdeckt hatte. Bei der es sich im Übrigen um die Frau handelte, mit der ich die letzte Nacht verbracht hatte.
Dennoch wollte ich sie nicht so liegen lassen, auf all den kaputten Ziegelsteinen und Flaschenscherben. Mit der Schuhspitze säuberte ich eine kleinere Fläche, hob Nastja behutsam hoch und legte sie dorthin. Ich streckte ihre Arme entlang des Körpers aus.
Ihre rechte Hand war offen, die linke zur Faust geballt. Kurz zögerte ich, dann bog ich ihre Finger auseinander.
Ein funkelnder Metallring. Natürlich nicht aus Gold oder Silber. Vielleicht vernickelter Stahl. Wäre ich noch Zöllner gewesen, hätte ich die chemische Zusammensetzung, den Wert und die Höhe der Zollgebühren aus dem Ärmel schütteln können.
Ein Ring ...
Ich nahm ihn an mich und drehte ihn in den Fingern. Aus irgendeinem Grund hielt ich es für wichtig dahinterzukommen, woher er stammte. Nastja hatte am Herd gestanden ... Sie wollte die Spiegeleier aus der Pfanne nehmen ... Aber klar! Der Ring stammte vom Griff des metallenen Pfannenhebers. Solche Dinger hatte es dort an allen Arten von Besteck gegeben, an den Gabeln, Messern und Schaumlöffeln.
Warum war er erhalten geblieben?
Weil er sich in der Hand der toten Frau befunden hatte? In der Hand eines Menschen, der nicht zur Welt der Funktionale gehörte?
Ich probierte den Ring aus. Er passte so genau auf meinen Ringfinger, als hätte ich ihn bei einem Juwelier gekauft.
Dann wollte ich ihn auch tragen.
Ein letztes Mal betrachtete ich das tote Gesicht, dann erhob ich mich.
Und hörte von draußen Schritte.
»Kirill? Ist etwas nicht in Ordnung? Na, hier sieht’s ja aus!« Kotja stand in der Türfüllung und sah sich voller Befremden in dem dunklen, schmutzigen Raum um. »Wie nach einem Angriff der Anarchisten ... Hast du dich mit jemandem geprügelt? Haben die aus Arkan dich angegriffen?«
»Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Ihr solltet doch längst weg sein.«
»Das hat mir eine innere Stimme gesagt.« Kotja breitete die Arme aus. »Ich habe gespürt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist ... Daraufhin habe ich meine Dame in Scheremetjewo gelassen und bin zu dir ...«
In dem Moment hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er verstummte.
»Nastja ist tot«, sagte ich. »Das ist der Stand der Dinge ...«
»Warum?«
»Natalja hat sie ermordet. Das Hebammenfunktional.«
»Das tut mir sehr leid«, brummte Kotja. »Wirklich ... Wo ist Natalja?«
Ich zuckte die Achseln. »Das letzte Mal, als ich sie sah, war Natalja von der Taille an aufwärts auf die Breite eines Stücks Karton plattgewalzt worden. Ich glaube, jetzt ist sie nirgendwo mehr. Selbst ein Funktional übersteht so was nicht.«
»Hast du sie umgebracht?«, wollte Kotja ungläubig wissen.
»Hm. Sie hat Nastja ermodert und angefangen, den Turm zu zerstören. Ich konnte Natalja auslöschen. Aber der Turm ist trotzdem gestorben.«
»Jetzt bist du wieder ein normaler Mensch.« Das war keine Frage, sondern die Feststellung einer Tatsache.
»Ja.«
»Aber wie konntest du sie töten?«
»Das ist mein Geheimnis«, antwortete ich mysteriös. »Lass uns von hier weggehen. Nastja können wir doch nicht mehr helfen.«
Wir verließen den Turm, ich zog die Tür fest hinter uns zu, klaubte eine Handvoll lockeren Schnees vom Boden auf und wischte die hölzerne Klinke ab. Fingerabdrücke sollte ich lieber nicht hinterlassen.
»Kirill ...« Kotja sah mir in die Augen. »Wie? Schließlich ist sie eine Hebamme! Illan hat gesagt, Hebammen könnten jeden auslöschen, den sie zum Funktional gemacht haben. Dein Turm ist zerstört worden, du bist wieder zum Menschen geworden - und hast sie getötet? Das glaube ich nicht!«
Mir wurde schwer ums Herz. Sehr schwer. Obendrein fror ich entsetzlich in dieser verschneiten winterlichen Straße, mit meinen nassen Hosen und dem kurzärmeligen Hemd.
»Ich werd’s dir ins Ohr sagen«, brachte ich hervor, indem ich umherspähte. Gehorsam drehte Kotja mir den Kopf zu. Ich beugte mich zu seinem Ohr und flüsterte: »Die Sache ist die, dass jedes Funktional besonders empfindliche Sinneszellen an den Ohrläppchen besitzt. Wenn man einem Funktional eins aufs Ohr haut, stirbt es an Verwirrung!«
Kotja schnaubte und richtete sich wieder auf. »Kirill!« Er sah mir in die Augen. »Jetzt mal ernsthaft ...«
»Mir ist nur eins unklar«, fuhr ich im selben Flüsterton fort, mich in keiner Weise darum scherend, ob Kotja mich verstand oder nicht. »Ob das auch bei einem Kurator funktioniert? Oder nicht? Was meinst du?«
»Keine Ahnung«, antwortete Kotja und nahm seine Brille ab.
»Wollen wir’s an dir ausprobieren?«, schlug ich vor.