Elf

Für einen jungen und gesunden Mann gibt es viele Möglichkeiten aufzuwachen. Die angenehmste ist natürlich die, wenn dir jemand das Ohr küsst und zärtlich flüstert: »Vielen Dank ... Liebling ... das war eine unvergessliche Nacht ...« Wie seltsam es auch klingen mag, doch die grauenvollste Variante ist mit dieser absolut identisch. Nur ist die Stimme in diesem Fall männlich und spricht mit kaukasischem Akzent.

Zwischen diesen beiden Extremen liegt ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen des Erwachens. Da gibt es die »zweite Flasche, die nicht hätte sein müssen, allerdings saßen wir so gesellig beisammen« oder auch die »Socken, die ich in aller Eile anzogen habe, damit ich Land gewinne, bevor die Lady neben mir aufwacht«, und auch die reichlich exotische Alternative: »Ich muss wohl hinterm Steuer eingeschlafen sein, Herr Doktor.«

In der Regel gestaltet sich das Aufwachen freilich weitaus prosaischer. Gewöhnlich wacht ein junger Mann mit dem Gedanken auf: »Meine Arbeit hängt mir ja so was von zum Halse raus!« Verbreitet sind auch die Varianten: »Ob dieses Kind irgendwann aufhört zu schreien?« und »Welcher Idiot ruft mich mitten in der Nacht an?«

Ich wachte auf, weil mich ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster fiel, kitzelte. Das Licht war so klar, grell und warm, dass kein Zweifel aufkam: Das war nicht die Sonne des matschigen Moskauer Himmels.

Sobald ich die Augen vollends aufschlug, begriff ich, dass es über Nacht einen radikalen Wetterumschwung gegeben hatte. In Kimgim schneite es nicht mehr, stattdessen hingen am Himmel dicke graue Wolken. Dafür hatte es in Moskau aufgeklart. Der blaue Himmel strahlte, als wolle er es mit blendendem Weiß aufnehmen, die Sonne schien einer Kinderzeichnung entliehen, so zitronengelb prangte sie, der Luft war ihre Reinheit und Kälte mit bloßem Auge anzusehen.

Ich blieb noch einen Augenblick liegen, um zu den ladenlosen Fenstern hinauszuschauen. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Mein Körper barst vor Energie, wollte rennen, springen ... Vieles gab es, was er wollte. Auf gar keinen Fall aber wollte er ein morgendliches Gymnastikprogramm absolvieren - dergleichen hatte er nämlich nicht nötig.

Ein Glückspilz war ich! Ein Meister! Ein Funktional! Ein Zöllner. Ganz allein konnte ich eine Handvoll Banditen ausschalten, Wunden jagten mir keinen Schrecken ein, vor mir lag ein langes und ganz unbedingt glückliches Leben!

Ich hüpfte aus dem Bett, sprang herum - und berührte mit den Händen die Decke. Oho! Die war mindestens drei Meter hoch.

»Der Morgen taucht in zartes Licht des alten Kremls Mauer!«, summte ich fröhlich eine Zeile aus einem alten Volkslied. Plötzlich verstummte ich. Zartes oder güld’nes? Ach, was! Als ob das eine Rolle spielt! Hauptsache, die Sonne scheint lustig, der Himmel ist klar - und zwar bei uns, nicht in diesem idyllischen Kimgim. Die sollten sich mal ja nicht für was Besseres halten. Wir waren nämlich auch nicht ohne!

Ich öffnete das Fenster und lehnte mich hinaus. In Moskau musste das recht komisch aussehen: In einem verdreckten Wasserturm geht plötzlich im ersten Stock ein kleines Fenster auf und ein Mann mit nacktem Oberkörper und zufriedenem, ausgeschlafenem Gesicht steckt den Kopf heraus ...

Es beachtete mich jedoch niemand. Die Autos rasten vorbei, in der Ferne surrte eine davonfahrende Eisenbahn (anscheinend hatte dieses Geräusch mich geweckt). Dick eingemummelte Menschen eilten zum Bahnhof. Natürlich, heute war Samstag ... Vermutlich wollten sie den letzten warmen Herbsttag nutzen. Nun gut, so warm war er nicht, der Tag, aber immerhin sonnig. Ich selbst schnappte mir an Tagen wie diesem immer Cashew und rief Anka an, damit wir beide zu ihrer Datscha fuhren, die schon alt war und gerade deshalb so charmant.

Mit einem Mal packte mich eine ungeheure Sehnsucht. Nicht wegen Anka. Das war einmal und kam nicht wieder, wir hatten uns getrennt und Lebewohl gesagt, denn zwischen uns war es nicht wirklich gut gelaufen, allerdings hatten wir beide uns auch nicht die rechte Mühe gegeben. Wie vernünftige Menschen waren wir auseinandergegangen. In beiderseitigem Einvernehmen. Meine Freunde, die aus meinem Leben verschwunden waren, ja, selbst meine Eltern vermisste ich ebenfalls nicht sonderlich. Meine Freunde, dessen war ich mir sicher, würde ich einfach noch einmal kennenlernen. Mit Kotja hatte das ja schließlich auch geklappt. Und meine Eltern? Das Wichtigste war ja, dass sie wohlauf waren und sich um mich keine Sorgen machten - weil es mich ja sozusagen nie gegeben hatte.

Nein, ich hatte Sehnsucht nach Cashew. Ich wollte seinen Hundekopf bei den Ohren packen und ihn ordentlich zausen. Anschließend würde ich ihm einen Nasenstüber geben, ihn hinter den Ohren kraulen, den Bauch streicheln...

Puh! Wenn ich das Kotja erzählen würde, hätte der glatt das nächste literarische Kabinettstückchen parat. Vermutlich saß er sowieso gerade rum und beklagte den Mangel an neuen Ideen.

Aber warum sollte ich mir Cashew eigentlich nicht einfach holen können? Gewiss, mein Hund hatte mich vergessen. Aber was hieß das schon! Er würde sich wieder an mich gewöhnen! Ob einer der Nachbarn ihn zu sich genommen hatte? Gut, ich würde ihm danken. Ja, ich war sogar bereit, für meinen Hund zu zahlen. Denn ich brauchte ihn!

Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, besserte sich meine Laune schlagartig. Ich schloss das Fenster und lief die Treppe in den zweiten Stock hoch, nahm eine eiskalte Dusche (nicht dass ich darauf sonderlich Wert legte, doch das Wasser wollte einfach nicht heiß werden), machte mir in der Küche ein paar belegte Brote zurecht und stellte Teewasser auf. Ich ließ mich auf einen Stuhl plumpsen, und während ich aß, beschäftigte ich mich mit der Frage, ob ich den Turm mit einem Fernseher ausstatten sollte. Aus dem Nichts würde er sich natürlich nicht materialisieren. Aber ich könnte ja einen kaufen. Brauchte ich diesen Hirnsarg nun in meinem Leben oder nicht?

Vermutlich schon. Damit ich mich nicht gänzlich von meinem Land entfremdete. Schließlich guckten alle fern. Und ich hielt mich ja wohl nicht für etwas Besseres, oder? Wer würde mir denn sonst raten: Iss Joghurt! Putz dir die Zähne! Geh ins Kino!

Ich säbelte mir noch ein Stück Wurst ab, goss mir einen Tee auf, erhob mich und inspizierte die Küche, betastete die Messer, die scharf waren, besah mir die Töpfe und Teller. Ich würde lernen müssen, für mich zu kochen. Bislang umfasste mein Repertoire insgesamt nur zwei Gerichte: Spiegeleier und Suppenhuhn. Fast könnte man meinen, ich hege persönliche Vorbehalte gegenüber dem armen Vogel und versuche ihn samt seiner Nachfahren auf jede nur denkbare Weise zu vernichten. Wenn mich das Gastronomenfunktional Felix einmal besuchte, müsste ich mich ja schämen.

In dem Moment begriff ich, dass mir seit einiger Zeit schon ein kaum hörbares Geräusch keine Ruhe ließ. Es kam von draußen. Ein leises Dröhnen, als arbeite eine riesige Maschine.

Aufmerksam lauschend trat ich ans Fenster, an jenes, das mit Läden verschlossen war, links neben dem nach Moskau. Ich presste das Ohr an die kalte Metallplatte.

Hinter den Läden gluckerte, zischte und toste es. Maschinen? Als ich mich daranmachte, die Schraube zu lösen, fiel mir quasi nebenbei auf, wie meine Finger die Mutter gleich einer Flachzange umspannten. Im Nu vermochte ich die Läden zu öffnen.

Auch hier schien die Sonne, die allerdings noch kaum über dem Meer aufgegangen war, sondern nur mit einem schmalen purpurfarbenen Rand den Osten anzeigte. Warum bringt man das wohl nie durcheinander, ob die Sonne auf- oder untergeht, wenn man sie über dem Meer sieht?

Links und rechts zog sich die Linie des Strands dahin. Ich riss das Fenster auf, sog die salzige und gleichzeitig süße Meeresbrise ein, ohne mich sattatmen zu können, lehnte mich mit dem Oberkörper hinaus und schaute mich um. Der Turm stand, als handle es sich um einen Leuchtturm oder einen Vorposten gegen mysteriöse Meeresungeheuer, auf einer sandigen Landzunge.

Dennoch spürte ich, dass nicht mit den Kimgimer Kraken zu rechnen war. Und sollte es sie doch geben, dann würde ich am Fuße meiner Funktion jeden Kraken mit bloßen Händen in Stücke reißen.

Ich sauste nach unten und riss die Tür auf. Als ich hinaushüpfte, versanken meine Füße im Sand. Ich rannte um den Turm herum. Ein Sandstrand erstreckte sich hier, dreihundert Meter vom Turm entfernt leuchtete das Ufer grün. Keine Spuren von Menschen. Nur die gegen das Ufer brandenden Wellen.

Man durfte nicht im kalten Moskau leben und nur einmal im Jahr das Meer sehen, um sich anders zu verhalten. Ich zog mich nackt aus, flitzte zum Strand hinunter und stürzte mich in die Fluten. Das Wasser erwies sich zwar als morgendlich kühl, dabei jedoch als durchaus erträglich. Fünf Meter watete ich noch, bis es mir bis zur Taille reichte, dann schwamm ich los. Nach einer Minute wollte ich mit dem Fuß vorsichtig den Boden ertasten, doch da lag er bereits zu tief unter mir. Ich ließ mich im kalten Salzwasser treiben, nur leicht mit den Armen rudernd, und betrachtete die aufgehende Sonne. Irgendwann drehte ich mich um und schaute zum Ufer, zu meinem Turm, zurück.

Selbstverständlich wunderte ich mich nicht im Geringsten darüber, dass der Turm in dieser Welt wie ein Leuchtturm aussah. Die Mauern bestanden aus grauem Stein und rosa Muschelkalk. An der Spitze gab es eine vergitterte Plattform, leicht funkelnde Spiegel und Glas. Welcher Art von Licht man sich hier wohl bediente? Und ob es zu meinen Pflichten gehörte, es anzuzünden?

Vermutlich schon.

Ich tauchte unter und schwamm ans Ufer zurück.

Eine neue Welt war gut. Ein alter Freund besser. Ich musste Cashew retten.

Ich ging ein zweites Mal unter die Dusche, schließlich war das Meerwasser salzig. Und ich konnte es mir nicht verkneifen, noch einmal ausgiebig am Fenster zu stehen, das zum Meer hinausging.

Die Sonne hatte sich inzwischen über den Horizont erhoben. Vom Meer wehte nun eine leichte warme Brise heran.

Schon immer hatte ich diejenigen beneidet, die am Meer leben.

Und jetzt hatte ich mein eigenes Meer direkt vor der Haustür. Fünfzehn Minuten zu Fuß von der Metrostation Alexejewskaja entfernt.

Es gab nichts, womit ich die Tür von außen hätte abschließen können. Allerdings dürfte das wohl auch nicht nötig sein. Wenn der Turm über Nacht eine ganze Etage mit Küche und Bad zustande brachte, dann würde er es auch schaffen, keine Obdachlosen hereinzulassen. Ich zog mir die Kapuze über die nassen Haare (die Sonne war ja schön und gut, änderte aber nichts am Herbst) und machte mich auf den Weg zur Metro. Mir war nur noch wenig Geld geblieben - und dabei wollte ich Cashew doch ehrlich auslösen!

Plötzlich schoss mir eine überraschende Idee durch den Kopf.

Ich blieb stehen und tat per Handzeichen kund, dass ich eine Fahrgelegenheit suchte. Schon eine Minute später hielt ein Shiguli mit einem vollwangigen kahlen Mann hinterm Steuer, der an den jungen Schauspieler Jewgeni Morgunow erinnerte.

»Zur Studeny-Passage«, sagte ich freundlich.

»Was springt dabei raus?«

»Ein Fünfziger.« Mein Lächeln verbreiterte sich, obwohl ich von Verhandlungen, die mit weniger als einem Hunderter anfingen, im Prinzip auch gleich hätte absehen können. »Ich glaube, das ist fair.«

»Soll mir recht sein!«, stimmte der Fahrer ehrlich überzeugt zu. Er beugte sich über den Sitz und öffnete die Beifahrertür. »Steig ein!«

Die Fähigkeiten eines Zöllners erschöpften sich also tatsächlich nicht in der Kenntnis seltener Wörter und in der Fähigkeit, Messer aus der Luft abzufangen. Der Fahrer murmelte zufrieden etwas vor sich hin, ich betrachtete entspannt die an uns vorbeiziehenden Häuser. Wir kamen gut durch, ohne Staus.

»Neulich habe ich Henry Miller gelesen ...«, fing der Fahrer völlig überraschend zu berichten an.

Das Äußere meines Chauffeurs deutete eigentlich nicht einmal darauf hin, dass er die zurzeit so angesagten Autoren Murakami oder Coelho las. Ehrlich gesagt, würde ich selbst bei Turgenjew, Jack London und den Strugatzkis erhebliche Zweifel anmelden.

»Was denn?«, fragte ich. »Wendekreis des Krebses? oder Wendekreis des Steinbocks?«

Der Mann schaute mich mit grenzenloser Verwunderung an. »Ist nicht wahr! Was hat dich denn dazu gebracht, diese Bücher zu lesen?«

»Hat sich so ergeben ...« Jetzt war es mir sogar selbst etwas peinlich. »In meiner Jugend, die standen in der Bibliothek meiner Eltern ...«

»Verstehe.« Der Fahrer beruhigte sich wieder. »Also ich kann mit dieser Hochliteratur nichts anfangen! Da lese ich Seite um Seite ... Aber was ist das für ein Zeug? Hohe Literatur - heißt das etwa, dass alle Scheiße fressen oder sich in den Arsch ficken?! Muss ich mir das wirklich antun und diesen Mist lesen?«

»Das müssen Sie nicht«, beteuerte ich. »Lesen Sie doch einfach die Klassiker!«

»Tjutschew mag ich sehr«, bekannte der Fahrer zu meiner Überraschung. Daraufhin verstummte er - als beiße er sich auf die Zunge. So gelangten wir zur Studeny-Passage, beide schweigend und unseren Gedanken zur hohen Literatur nachhängend. Ich bat ihn, kurz vor meinem - ehemaligen - Haus anzuhalten. Als ich ihm die fünfzig Rubel aushändigte, akzeptierte er sie widerspruchslos.

Mitunter kommt es zu seltsamen Begegnungen - ganz ohne jedes Wunder.

Derjenige, der diese Straße Studeny-Passage genannt hatte, entbehrte weder einer scharfen Beobachtungsgabe noch eines gewissen Sinns für Humor. Sommers gibt sie eine durch und durch anheimelnde Straße ab, hinter der Moskau endet und Russland anfängt. Im Herbst und Winter rechtfertigt sie jedoch das ›Studeny‹ in ihrem Namen, diese leicht saloppe Form für kalt. Sofort fielen einem sämtliche Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzchen und weitaus realistischere, wenn auch weniger herzergreifende Kriminalstatistiken zu Alkoholikern ein, die sich in einer Schneewehe zur Ruhe gebettet hatten.

Langsamen Schrittes umrundete ich mein Haus und versuchte mir darüber klar zu werden, wie ich vorgehen sollte. Durfte ich die Fähigkeiten eines Funktionals zum Einsatz bringen? Mit einem Fußtritt die Tür einschlagen, mir meinen Hund schnappen und fliehen? Würden meine Fähigkeiten dafür überhaupt ausreichen? Bis zum Turm waren es immerhin exakt zehn Kilometer.

Exakt?

Ja, exakt. Plus, minus fünfzig Meter. Das wusste ich. Ganz wie der Summer im Telefon zu fiepen anfängt, wenn es zu weit von der Basis entfernt ist.

Falls es mir also in den Sinn käme, auf der Prager Straße eine große Nummer abzuziehen, würde mir das nicht glücken. Dort wäre ich nur ein normaler Mensch.

Aber hier müssten meine Fähigkeiten noch ausreichen. Ich könnte - ja, ohne Zweifel brächte ich das fertig - die Fassade unseres achtstöckigen Hauses zum Fenster einer der Nachbarwohnungen hochkraxeln. Auch die Eisentür könnte ich eintreten. Oder beispielsweise die guten italienischen Schlösser mit einer Büronadel knacken. All das gehörte zum Repertoire von Fähigkeiten, das einem Zöllner zur Verfügung stand.

Nur wollte ich weder stehlen noch rauben. Die fünftausend Rubel, die mir noch verblieben waren, stellten eine Summe dar, für die man jemandem einen Rassehund, an den dieser zufällig geraten war, abkaufen konnte. Andererseits musste dieser Jemand mir den Hund bei dieser Summe nicht unbedingt überlassen ...

Sobald ich jedoch zu meinem alten Hof gelangte, erübrigte sich jede Grübelei. Auf dem Kinderspielplatz, wo niemals Kinder spielten, führte das Nachbarstöchterchen Cashew zwischen tristen Betonpilzen und einer wuchtigen Schaukel Gassi.

Wie praktisch! Ich bräuchte bloß zu dem Mädchen gehen, es anzubrüllen, mir Cashew zu schnappen ... Seine Eltern würden schon nicht die Miliz rufen. Eher dürften sie froh sein, dass ihrer Kleinen selbst kein Haar gekrümmt worden war.

Allerdings strahlte das Mädchen vor Glück. Mit festem Griff hielt sie die Leine, spähte in alle Richtungen, denn es verlangte sie nach Zuschauern. Sie ging mit einem Hund Gassi. Mit einem echten. Mit ihrem eigenen Hund! Ich fing ihren fröhlichen Blick auf, doch sie erkannte mich natürlich nicht. In dem Moment begriff ich, dass ich ihr den Hund nicht wegnehmen konnte. Na ja, zumindest nicht, wenn mir Cashew nicht entgegengesprungen kam.

Das tat er nicht. Geschäftig wuselte er über den Spielplatz und suchte eine trockene Stelle. Er beschnupperte die Markierungen der Nachbarhunde. Irgendwo hob er dann das Bein, um seinerseits eine Botschaft zu hinterlassen.

Ich näherte mich den beiden, holte die Zigaretten heraus und zündete mir eine an. Cashew kläffte fidel und kam auf mich zu. Er war nie sehr aggressiv gewesen, und wenn seinem Herrchen - oder Frauchen - nach seinem Dafürhalten keine Gefahr drohte, war er bereit, Passanten zu begrüßen.

Natürlich nur, wenn ihm der Passant gefiel.

Ich streckte die Hand aus und ließ ihn mit der kalten Hundenase dagegenstupsen. Mit den Fingerspitzen kraulte ich Cashews Kehle. Der Hund sah mich freundlich an, sprang an mir hoch, wobei er mit seinen verdreckten Pfoten meine Jeans beschmutzte, und bellte mir ein Hallo zu.

Das Nachbarmädchen lächelte. »Cashew begrüßt so nur nette Leute!«, erklärte sie.

»Cashew? Was für ein ausgefallener Name.« Ich zauste den Hund am Kopf. »Ich hatte auch mal ... so einen Hund.«

Ich erwartete schon, dass das Mädchen daraufhin auf der Hut war. Immerhin gehörte ihr der Hund erst seit zwei Tagen.

»Wirklich? Das ist ja ein Zufall!«, rief das Mädchen. »Und? Hatten sie ein Weibchen oder ein Männchen? Wir haben einen Rüden. Papa hat ihn mir geschenkt, als ich eingeschult worden bin. Und er hat mir gesagt, wenn ich nicht ordentlich lerne, nimmt er ihn mir wieder weg!«

Ein Versprechen, wie es typischer für Pjotr Alexejewitsch nicht sein konnte! Aufmerksam betrachtete ich das Mädchen. Es log nicht. Ganz bestimmt nicht!

»Wie alt ist er denn?«, fragte ich.

»Dreieinhalb Jahre. Er ist noch jung! Aber er ist schon bei zwei Ausstellungen der Champion gewesen!«

Ich dagegen hatte Cashew niemals zu einer Ausstellung gebracht. Dafür war keine Zeit gewesen. Zwar hatte die Züchterin mir versichert, es würde sich lohnen, mit dem Tier an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen, aber ...

»Anscheinend bist du gut in der Schule«, sagte ich. »Schließlich hat dir dein Papa den Hund nicht weggenommen.«

Das Mädchen brach lauthals in Gelächter aus. »Na klar, ich habe nur Einsen! Aber mein Papa hat sowieso nur Spaß gemacht! Glauben Sie etwa, er würde so etwas im Ernst sagen? Cashew würde er doch niemals hergeben!«

Ich nahm einen tiefen Zug an der Zigarette und fing an zu husten. Mist. Was ging hier vor? Nicht nur, dass Cashew mir nicht mehr gehörte! Er hatte auch Natalja Iwanowa niemals gehört! Der tüchtig dem Alkohol zusprechende und grobschlächtige Pjotr Alexejewitsch hatte den Hund seiner Tochter geschenkt. Daraufhin musste sich in der Familie etwas verändert haben. Die schüchterne, wortkarge Dreier-Schülerin lachte aus vollem Hals, brachte hervorragende Zensuren nach Hause und sprach mit echter Liebe in der Stimme von ihrem Vater.

»Heh, du Rabauke!«, flüsterte ich, nachdem ich mich hingehockt und Cashew gestattet hatte, mir die Nase abzuschlecken. »Du erinnerst dich also nicht mehr an mich? Aber es geht dir gut, ja? Wirklich? Und deinetwegen geht es ihnen jetzt auch besser?«

Cashew leckte mir übers Gesicht. Ihm ging es gut. Er liebte sein kleines Frauchen und war absolut davon überzeugt, die meisten Menschen verdienten seine Liebe.

»Du hast einen tollen Hund«, sagte ich. »Pass gut auf ihn auf. Mir ist ... genau so einer abhandengekommen.«

Prompt spiegelte sich im Gesicht des Mädchens der ganze Horror einer solchen Situation wider. Sie nickte. »Wir geben ihn bald zum Decken und bekommen dann einen Welpen«, informierte sie mich. »Wenn Sie wollen, kommen Sie vorbei. Nur wird der junge Hund sehr teuer sein. Leider.«

»Ich denk drüber nach«, versprach ich. »Übrigens suche ich eine Bekannte. Natalja Iwanowa heißt sie. Kennst du sie?«

Nachdem das Mädchen kurz überlegt hatte, schüttelte es den Kopf.

»Ich weiß nur noch, dass sie in dieser Gegend wohnt«, fuhr ich fort. »Und im fünften Stock. Ich habe sie einmal nach Hause gebracht ...«

»Wir wohnen auch im fünften Stock«, zeigte sich das Mädchen hilfsbereit. »Aber da wohnt keine Natalja. Auf dem Absatz gibt es drei Wohnungen. In der einen wohnt Tante Galina ...« Das Mädchen senkte die Stimme, um Worte zu wiederholen, die es irgendwo aufgeschnappt hatte: »Eine seltene Giftschlange. Gegenüber wohnen meine Eltern, Cashew und ich. Und die Einzimmerwohnung in der Mitte steht leer. Die Besitzer scheinen die gar nicht zu brauchen! Da könnten sie die Wohnung doch vermieten, oder? Obendrein würden sie auf diese Weise gutes Geld verdienen. Aber die nutzen sie weder für sich selbst, noch lassen sie andere darin wohnen! Mein Papa sagt, man müsste mal die Gesetze genauer unter die Lupe nehmen, vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, ihnen die Wohnung wegzunehmen. Wegen Nichtnutzung.«

»Das dürfte wohl kaum der Fall sein«, bemerkte ich nachdenklich. »Ich lass mir die Sache mit dem Welpen durch den Kopf gehen. Vielen Dank!«

Zum Abschied streichelte ich Cashew noch einmal über den Nacken. Dann ging ich, ohne mich umzudrehen, davon.

Auf dem Weg zur Metro rief ich Kotja an.

»Ja?«, meldete sich dieser höchst misstrauisch.

»Richtig geraten«, bestätigte ich. »Treffer. Ich bin’s.«

Es folgte ein schwerer Seufzer.

»Kotja, hör mit den Albernheiten auf«, bat ich. »Ich brauche deinen Rat.«

»Und ich muss arbeiten!«, entgegnete Kotja stolz.

»Was ist? Verdienst du dir schon was für die Sommerfrische?«, fragte ich in unschuldigem Ton.

»Warum denn nicht?!«

»Dann lass mich mal raten, woran du gerade sitzt. Einst war ich ein fröhliches und geselliges Mädchen, bis ich sie im Fernsehen gesehen habe ...«

»›Früher war ich ein einfacher Junge aus Petersburg namens Ljocha‹, sagte Mary lächelnd. › Mach die Zigarette aus, Rauchen schadet der Gesundheit!‹«

»Bei dir tauchen ja gesellschaftlich positive Botschaften auf«, staunte ich.

»Das ist für die Zeitung Deine Gesundheit«, gestand Kotja. »Sie legen größten Wert darauf, dass neben den literarischen Perlen etwas über die verheerenden Folgen des Trinkens, Rauchens und des sonst was erscheint. Weshalb rufst du an?«

»Besorg ein Dutzend Bier und komm her«, bat ich. »Aber sieh zu, dass das Bier kalt ist. Und bring auch noch ein paar Chips mit und Nüsse und ...«

Kotja brauchte seine Zeit, um das Gesagte zu verdauen. »Warmes Bier zu bekommen wäre zu dieser Jahreszeit ein Problem, insofern ...«, sagte er schließlich. »Was ist passiert? Hat sich das dritte Türchen geöffnet? Wohin führt es?«

»In den Sommer«, antwortete ich, bevor ich das Handy ausschaltete.

Kluge Gedanken schleichen sich von hinten an.

»Wenn du in der Lage wärst, systematisch zu denken, Kirill«, knurrte Kotja, während er sich vom Rücken auf den Bauch drehte, »hättest du mich gebeten, Sonnencreme mitzubringen.«

Allmählich stach die Sonne wirklich gehörig.

»Wenn du nicht so ein Faulpelz wärst, würdest du jetzt loslaufen, um welche zu besorgen«, konterte ich. »Ich sorge für den Sommer, du für den Rest.«

»Und wo soll ich jetzt Sonnencreme herkriegen?«, fragte Kotja träge. »Die müsste ich zu Hause suchen oder in einer Drogerie à la Twerskaja Hautevolee kaufen. Gib mir noch ein Bier ...«

Ich reichte ihm eine Flasche Obolon. »Hör mal«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen, »was findest du eigentlich an diesem Bier?«

»Ihre Werbestrategie gefällt mir«, grinste Kotja. »Stell dir vor, sie fordern Phantastikschriftsteller auf, das Bier der Marke Obolon in ihren Büchern zu erwähnen.«

»Ja, und?«

»Also, wenn in einem Buch zehnmal das Wort Obolon erwähnt wird, zahlen sie dem Autor eine Prämie. Kaum zu glauben, oder?«

»So einfach geht das?«, begeisterte ich mich. »Obolon, Obolon, Obolon - und das ist alles?«

»Zehnmal hintereinander Obolon«, insistierte Kotja. »Nicht weniger.«

»Was soll das überhaupt sein? Obolon?«, fragte ich.

»Das sumpfige Ufer eines Flusses.«

»Im Ernst? Dann ist Obolon also Bier aus sumpfigem Wasser?«

»Aber es schmeckt doch!«

Ich widersprach nicht.

An diesem Meer und unter dieser Sonne - noch dazu im November! - hätte mir jedes Bier gemundet.

»Das alles ist sehr seltsam«, bemerkte ich. »Weißt du ... ich hatte damit gerechnet, dass Cashew Natalja vermissen würde ... dann hätte ich ihn mitgenommen. Selbstverständlich hätte ich etwas für ihn gezahlt! Aber dann stellt sich heraus, er ist schon seit drei Jahren bei dem Mädchen. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.«

»Doch, das tut es«, schnaubte Kotja. »Verstehst du es denn immer noch nicht?«

»Was?«

»Weder Rosa noch Felix erwähnen irgendwelche obskuren Individuen, die ihren Platz eingenommen haben. Anscheinend solltest du aus dem Leben herausfallen ...«

»Hmm ...«

»Deshalb hat man dich herausgestoßen. Ersetzt.«

Trotzdem war mir schleierhaft, worauf er hinauswollte. »Und wie hat man mich ersetzt?«

»Sie hat sich ins Messer gestürzt?«, fragte Kotja seelenruhig. »Die Brust ans Messer gepresst und dann allez hopp, ja? Direkt ins Fleisch? Dann liegt die Leiche blutüberströmt da, Sirenen heulen, du fliehst ...«

»Scheiße!«

Endlich ging mir ein Licht auf.

Ich sprang auf. Wie wahnsinnig stampfte ich mit dem Fuß im Sand herum. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

»Ist der Groschen gefallen?« Kotja drehte mir den Kopf zu und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Deine Natalja Iwanowa, diese graue Maus, diese unscheinbare Motte, ist genauso ein Funktional wie du. Offenbar hast du dich nicht so verhalten, wie sie es gewohnt sind. Das haben sie vorausgesehen. Deshalb haben sie dir diese hässliche, ekelhafte Puppe als Katalysator ins Nest gesetzt. Sag mal, ist sie zufällig genau der Typ, den du am schrecklichsten findest? Nicht nur einfach eine fremde Frau, sondern eine widerwärtige fremde Frau? Ist es so?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Mit dir war es nicht ganz so einfach wie mit dem Zimmermädchen und dem Restaurantbesitzer«, fuhr Kotja ungerührt fort. »Gestern habe ich überreagiert, das tut mir leid. Diese Landkarte hat mich einfach aus der Bahn geworfen ... Mit dir muss es sich komplizierter verhalten, Kirill. Du bist kein gewöhnlicher Zöllner, die es wie Sand am Meer gibt. Du hast etwas Besonderes. Ehrlich gesagt, bin ich aber noch nicht dahintergekommen, was genau.«

»Hast du es denn versucht?«, fragte ich mit finsterer Miene.

»Ja. Die halbe Nacht habe ich darüber nachgedacht.« Kotja setzte sich im Sand auf und schob sich die Brille auf die Nase. Er warf mir einen strengen Blick zu. »Hör mal, Kirill. Wir waren vermutlich wirklich mal gute Freunde ...«

Etwas in mir zog sich zusammen - wie es immer der Fall ist, wenn du mit Freunden über Freundschaft zu sprechen anfängst. So was klappt nur bei Bekannten.

»Ein Meer mitten in Moskau, dieses vermaledeite Kymgym ...«

»Kimgim!«

»Dann eben Kimgim, das ist doch völlig irrelevant! Jedenfalls ist das alles höchst interessant. Es ist ebenso angenehm wie nützlich, mit dir befreundet zu sein.« Kotja grinste. Dann fuhr er ernsthaft fort: »Nur bist du kein schlichter Freimaurer ... verzeih, kein simples Funktional. Dir passiert immer wieder etwas Schlimmes. Und irgendwann wirst du nicht alle Messer abfangen, Kirill. Selbst für mich wird die Geschichte kein gutes Ende nehmen, das spüre ich. Heute morgen wollte ich meinen üblichen Artikel schreiben, und da schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn Kirill nicht bis Mittag anruft, schalte ich alle Telefone ab und versuche mir einzureden, ich hätte das alles nur geträumt. Aber dem bist du zuvorgekommen. Du Monster.«

Verlegen sah ich Kotja an. Er hatte ja recht. Ich hatte ihn da in ein Abenteuer hineingezogen, das zwar ganz faszinierend zu sein schien, gleichzeitig jedoch lebensgefährlich war. Allerdings hatte ich ein paar Trümpfe im Ärmel: die Fähigkeiten eines Funktionals.

»Kotja ...«

»Gut, genug des salbungsvollen Geschwätzes.« Kotja winkte ab. »Das Meer ist großartig. Das Bier kühl. Die Umwelt sauber, dass es dir die Sprache verschlägt. So lässt sich’s leben ... Hast du das Lehrbuch zur Geschichte Kymgyms gelesen?«

»Durchgeblättert«, gab ich zu.

»Was hat dich am meisten beeindruckt?«

»Das Fehlen von Staaten.«

»Eben!« Kotjas Finger schoss belehrend in die Höhe. »Die Stadt Kimgim liegt an der Stelle von Kaliningrad, das ist doch kinderleicht. Die Stadt Sarchtan an der von Petersburg, so einfach ist das! Bei der Phonetik haben sie kein glückliches Händchen bewiesen ... Aber wenn es auf dem gesamten Erdball keinen einzigen Staat gibt, sondern nur Städte und freie Territorien ... dann ist das was?«

»Feudalismus?«, bot ich an.

»Was soll denn das für ein Feudalismus sein!« Kotja verzog das Gesicht. »Feudalismus heißt Krieg, heißt Kampf um die Macht, heißt Intrigen... O nein, ich habe nicht das Geringste dagegen, dass niemand auf der Welt kämpft! Dem kann ich nur aus vollem Herzen zustimmen! Bloß ist das eben grundsätzlich unmöglich. Das wäre ja eine künstliche Welt!«

»Kotja, wir haben doch gar keine Informationen über ...«

»Wir haben mehr als genug!« Kotja stand auf und schwenkte seine magere Faust. »Die springen dir doch förmlich ins Auge! Ich habe sogar den Bifurkationspunkt mehr oder weniger exakt berechnet ...«

In diesem Moment klang vom Turm ein monotones Klopfen herüber. Synchron drehten wir beide uns um.

»Soll man ruhig klopfen«, entschied ich. »Hat ein Zöllner nicht auch das Recht, mal auszuspannen?«

»Hast du etwa vergessen, dass sich für heute die Kommission bei dir angemeldet hat?«, fragte Kotja.

Rasch begann ich mich anzuziehen.

Kotja ebenfalls. »Darf ich eigentlich bei dir sein?«, überlegte er im Gehen. »Vielleicht sollte ich mich besser hier verstecken?«

»Buddel dich doch in Kimgim in eine Schneewehe!«, zischte ich. »Kommt gar nicht in die Tüte. Ich werde ja wohl noch das Recht haben, Freunde einzuladen. Nehme ich jedenfalls an ...«

»Kirill, stell dich jetzt so dumm, wie du nur kannst«, meinte Kotja plötzlich. »Normalerweise gelingt dir das ganz vorzüglich. Denn diejenigen, die dich nun besuchen, sind mit allen Wassern gewaschen.«

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