Dreiundzwanzig

Will man Borges glauben, dann lassen sich alle Sujets und damit alle Geschehnisse der Welt leicht auf drei Grundmuster reduzieren: die Schatzsuche, die Belagerung oder Verteidigung einer Festung und die Rückkehr nach Hause. Einige Skeptiker ergänzen diese Liste noch um den Selbstmord, einige Pedanten erweitern sie auf ein Dutzend Sujets. Besonders Boshafte behaupten, es gäbe drei goldene Sujets, nämlich Liebe, Indianer und Neujahr. Borges hätte ihnen vermutlich kaum widersprochen, denn die Liebe ist nichts anderes als eine Schatzsuche, kriegerische Indianer und der Kampf um die Festung sind untrennbar miteinander verbunden, und womit lässt sich der Festtag des Neujahrs vergleichen? Nur mit der Rückkehr nach Hause.

In einer guten Geschichte folgen diese drei Sujets aufeinander. Odysseus begab sich auf Schatzsuche, belagerte Troja und segelte nach Hause. Iwan Zarewitsch reitet aus, die Äpfel der ewigen Jugend zu finden, plündert das Schloss des bösen Zauberers Kaschtschej und kehrt zu seinem Vater zurück. Der Wolf belauert nacheinander die Häuser der drei kleinen Schweinchen und muss mit Schimpf und Schande abziehen.

Meine Schatzsuche mündete jetzt fraglos in die Verteidigung der Festung. Nur hatte ich keine Chancen, nach Hause zurückzukehren.

Beim Turm erwartete uns niemand. Zuallererst überprüfte ich sämtliche Türen. Dann begab ich mich in den ersten Stock und schaute aus den Fenstern.

Ringsum war es still. Und menschenleer.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Nastja.

»Du hast dir ja alle Mühe gegeben ...«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Und was hat uns das gebracht? Ich habe dir doch gleich vorgeschlagen, mit zu mir zu kommen. Nur geht jetzt eine Prügelei mit einem Polizisten auf mein Konto.«

»Auf unser.«

Ich winkte nur ab. Dann holte ich das Handy heraus und wählte Kotjas Nummer. Ich musste lange warten, was nicht erstaunlich war, schließlich ging es auf Mitternacht zu.

»Ja?«, meldete sich Kotja missmutig.

»Hier ist Kirill. Nastja ist bei mir.«

»Welche Nastja? Die, die den Zettel ...«

»Ja. Ein Polizistenfunktional hat sie beehrt. Ich habe sie da rausgehauen und mit zu mir genommen.«

»Du hast einen Polizisten geschlagen?«, begeisterte sich Kotja. »Krass!«

»Krasser geht’s gar nicht. Die können mich jeden Moment holen kommen.«

»Das ja wohl kaum«, beruhigte mich Kotja. »Die werden in einer Situation wie dieser kaum in Aktionismus verfallen, sondern sich die Sache in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

»Sie könnten auch zu dir kommen.«

»Was habe ich denn damit zu tun?«

»Du gewährst Illan Asyl. Ich glaube, Illan interessiert sie nicht weniger als Nastja.«

Kotja schnaubte. »Und was sollen wir deiner Ansicht nach jetzt tun?«, wollte er wissen. »Abhauen?«

»Vielleicht. Oder kommt zu mir. Hier im Turm dürfte ich euch vermutlich verteidigen können. Selbst gegen einen Polizisten. Frag Illan, sie kennt sich in diesen Dingen besser aus.«

»Moment ...«

Eine Zeitlang herrschte Stille in der Leitung. Das Handy mit der Schulter ans Ohr pressend, wartete ich und schaute zu Nastja hinüber. Sie stand vorm Fenster, das nach Arkan hinausging. Als spüre sie meinen Blick, drehte sie sich um. »Ist das wirklich Erde-1?«

»Ja.«

»Es ist schön. Da hinten ist ein Fernsehturm ...«

»Das ist der von Ostankino. Er ist genau wie unserer. Anscheinend hielten sie die Konstruktion für gelungen.«

»Wozu brauchen sie das alles?«, fragte Nastja plötzlich. »Wenn bei ihnen alles zum besten steht, wenn sie so mächtig sind ... Sie könnten es sich doch leisten, sich wie normale Menschen aufzuführen. Sich mit uns anfreunden, sie bräuchten uns doch nicht auszubeuten.«

Mit einem Mal begriff ich, was für ein Kind sie noch immer war. »Sich wie ein normaler Mensch zu verhalten, Nastja, das heißt andere auszubeuten. Leider.«

»Das sollte aber nicht so sein.«

»Aber es ist so.«

»Wir müssen sie unbedingt besiegen!«

»Besiegen?« Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Dazu müssten wir andere Menschen ausbeuten. Sie in den Tod schicken. Wir müssten alle Pläne von denen aus Erde-1 durchkreuzen. Wenn du gewinnst, wirst du dich gar nicht so schnell umschauen können, wie alle ihre Plätze tauschen. Und schon bald würde wieder eine Frau von Erde-1 sagen: ›Weshalb lassen sie uns nicht leben? Das ist doch ungerecht!‹«

»Was sollen wir denn sonst tun?«, fragte Nastja leise. »Das Recht des Stärkeren gelten lassen?«

Glücklicherweise kehrte Kotja in dem Moment an den Apparat zurück und entband mich von der Notwendigkeit zu antworten.

»Kirill? Illan sagt, wir sollten jetzt lieber nicht bei dir aufkreuzen. Besser wäre es, wir würden aus Moskau verschwinden. Sie kennt ein paar Gegenden, in denen es keine Funktionale gibt und wohin die Polizisten nicht gelangen können. Wollt ihr euch uns nicht anschließen?«

»Und wie soll das gehen?«, entgegnete ich verärgert. »Du vergisst anscheinend, dass ich an den Turm gebunden bin.«

»Entschuldige«, druckste Kotja. »Also ... wir sehen zu, dass wir Land gewinnen. Ich werde versuchen, dich anzurufen!«

»Mach das«, erwiderte ich.

Das war’s also.

Sie zogen von dannen. Nein, Kotja hatte natürlich recht. Besser, sie tauchten jetzt ab. Und ich? Mit Sicherheit würde ich es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Ich würde versuchen, den Konflikt beizulegen. Schließlich hatten wir niemanden umgebracht ...

»Sie kommen nicht her?«, fragte Nastja.

»Nein«, gab ich zu. »Illan hält es für klüger, wenn die beiden abtauchen. In eine Gegend, in der es noch keine Funktionale gibt. Sie kennt solche Orte. Aber ... ja, du könntest mit ihnen fahren!«

»Klingt verlockend.« Sie verstummte. »Ich würde nicht sagen, dass dein Freund meiner Idealvorstellung von einem Mann entspricht, aber er hat was, ohne Frage ... Und was würdest du dann machen?«

»Verhandeln. Ich würde versuchen, eine friedliche Lösung zu finden. Immerhin ist das hier ein schönes Plätzchen, mit dem ich den Funktionalen nützlich bin.«

»Dann bleibe ich bei dir«, verkündete Nastja in aller Entschlossenheit.

»Und fängst wieder mit dem Sermon an, du wolltest sie bekämpfen? Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, das mögen die überhaupt nicht.«

»Ich verspreche, dass ich es nicht sagen werde. Aber bilde dir ja nicht ein, ich würde lügen!«

Mir blieb nichts weiter übrig, als die Arme auszubreiten. Lügen? Pah! Ein Polizistenfunktional anzulügen - das bringt niemand so leicht zustande.

Inzwischen war Nastja zum nächsten Fenster hinübergegangen. »Kirill«, rief sie mich überraschend, »schau mal! Wie schön!«

Es war wirklich schön. Der Vollmond, ganz wie er bei uns auf der Erde aussah, nur wirkte er noch größer. Und Millionen von winzigen Lichtern, die auf der Meeresoberfläche funkelten. Es ging kaum Wind, das Meer atmete ruhig und wiegte die auf den Wellen blitzenden Lichter.

»Das ist Plankton, was da leuchtet«, sagte ich. Die Worte kamen mir völlig überraschend über die Lippen und passten überhaupt nicht zur Stimmung.

»Plankton? Interessant!« Nach wie vor schaute Nastja zum Fenster hinaus. »Wenn eine Frau ›Der Mond, wie schön!‹ sagt, fängst du also an, mit ihr über die chemische Zusammensetzung des Regoliths und die Albedo der Mondoberfläche zu reden?«

»Ich begegne zum ersten Mal einer Frau, die das Wort ›Regolith‹ kennt«, erwiderte ich ehrlich. »Also habe ich früher noch nie mit einer Frau darüber geredet.«

»Ich kenne da jemanden, einen Mathematiker«, meinte Nastja. »Als er einmal mit dem Zug gefahren ist, hat er sich in die Zugbegleiterin verliebt, weil sie sich imstande zeigte, mit ihm ein Gespräch über Funktionale zu führen. Über mathematische natürlich. Sie sind zusammen ausgestiegen und hätten beinahe geheiratet.«

»Und was hat sie daran gehindert?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie verstand nicht das Geringste von Tensorrechnung ...«

Behutsam fasste ich Nastja bei den Schultern. Ich beugte mich vor und vergrub mein Gesicht in ihren Haaren. Langsam drehte sie den Kopf herum - und wir küssten uns. Sich mir mit einer geschmeidigen Bewegung ganz zukehrend, suchte sie meine Umarmung, schmiegte sich an mich und sah mir in die Augen. Wir hatten fast die gleiche Größe, worauf mir unpassenderweise einfiel, dass meine bisherigen Freundinnen alle einen halben Kopf kleiner gewesen waren als ich.

»Wenn wir jetzt weggingen ... dorthin ...« Sie nickte in Richtung Fenster. »... dann wäre das wie in einem schlechten Hollywood-Film.«

»Ich liebe schlechte Hollywood-Filme«, sagte ich - und glaubte sogar selbst daran.

Trotzdem brachen wir nicht gleich zum Strand auf. Zum Bett war es weitaus näher.

»Bist du böse auf mich, Kirill?«

»Nein.« Ich lag auf einer Decke, die wir im Sand ausgebreitet hatten, schaute in den durchscheinenden Nachthimmel hinauf - die Luft war so sauber, als ob es im Reservat die ganze Atmosphäre in den Kosmos hinaufgetragen hätte - und streichelte Nastjas Gesicht. Meine Hände fanden ihre Lippen, ich prägte mir die Züge ihres Gesichts ein, als sei ich blind. »Weshalb sollte ich denn, du Dummerchen?«

»Meinetwegen hast du dich ... mit deinen Leuten zerstritten. Das tut mir leid. Ich bin einfach stinkwütend gewesen. Mischa hat sich wie der letzte Feigling aufgeführt, und du fingst auch schon an, den Schwanz einzuziehen.«

Unvermittelt stemmte sie sich auf die Ellbogen und sah mich an. Silbermatt schimmerte ihre Haut im Mondlicht. Sie klatschte sich auf den Mund.

»Was ist denn?«

»Ich bin eine Idiotin. Wieso musste ich auch von ihm anfangen? Ich weiß doch, dass Männer das nicht mögen ...«

»Du bist ja wirklich umfassend informiert ... Sprich ruhig von ihm, mir ist das egal.«

»Nein, ich verliere kein Wort mehr über Mischa. Noch nicht mal etwas von ihm hören will ich. Geschweige denn über ihn reden. Gefalle ich dir wirklich?«

»Ja.«

»Illan hat behauptet, Funktionale hätten nicht oft eine Beziehung zu einem Menschen. Eine lange Beziehung. Erinnerst du dich noch, was der Zauberer in Das gewöhnliche Wunder gesagt hat? Über seine Frau, die altert und stirbt, während er immer weiter und weiter lebt ...«

»Wie kommt es, dass du so belesen bist? Bist du vielleicht auch ein Funktional? Ein Bibliothekarsfunktional?«

»Da hätte ich nichts gegen ...« Nastja strich mir mit der Hand über den Bauch. »Das wäre vermutlich ganz interessant.«

»Ich werde oben eine Bibliothek haben«, sagte ich. »Das heißt, eigentlich ist sie schon da, aber noch leer. Wenn wir uns jetzt mit den Funktionalen einigen ... Aber was heißt hier wenn! Natürlich einigen wir uns mit ihnen. Danach können wir eine sagenhafte Bibliothek aufbauen! Und wir werden darum bitten, dich zum Funktional zu machen.«

»Ist das denn möglich?«

»Irgendwie müssen sie es ja machen ...« Ich streckte die Hand aus und berührte ihre Brüste. »Nein, ich möchte nicht, dass du eine Bibliothekarin wirst. Damit verdirbst du dir nur die Augen, und dann musst du eine Brille tragen. Außerdem wirst du immer verschwinden, um dich in deine Bücher zu vergraben.«

»Die Brille werde ich einfach nicht tragen. Und ich werde immer nur verschwinden, um mich in dir zu vergraben. Ungefähr so ...«

Sie legte sich sanft auf mich. Dann fing sie an, mir die Lippen, den Hals und den Bauch zu küssen, bis sie noch weiter nach unten wanderte.

»Nastja, selbst Funktionale sind mal müde ...«, bekannte ich in tragischem Flüsterton.

»Das werden wir ja gleich sehen ...«

»Das ist ... unfair ...« Doch schon im nächsten Moment rief ich: »Nein, das ist mehr als unfair!«

Nastja lachte leise. Eine Minute lang betrachtete ich ihre Silhouette vor dem Hintergrund des Himmels, wie sie sich, vom Mondlicht und der Meeresbrise liebkost, immer wieder in die Höhe hob, um sich sodann abermals auf mir niederzulassen. Als ich spürte, wie ihr Atem sich beschleunigte, griff ich nach ihren Händen und hielt sie fest. Nastja seufzte, stöhnte kaum hörbar und presste sich an mich. Ihren Körper durchliefen noch zarte Wellen, aber sie hörte nicht auf, weshalb es nun an mir war, aus dem ältesten und stärksten Wohlgefühl heraus zu stöhnen.

»Du untergräbst meinen Kampfgeist ...«, bemerkte ich kurz darauf. »Da stehen mir komplizierte Gespräche bevor, aber ich werde glückselig lächeln und jede Antwort verpatzen ...«

»Du wirst dich zusammenreißen ...«

»Hmm.« Ich setzte mich auf. Meine inneren Alarmglocken schrillten. Ein menschenleerer Strand, der Mond am klaren Himmel, der reglose Widerschein auf den Wellen, eine schöne Frau neben mir - was braucht der Mensch noch zu seinem Glück? Wahrscheinlich den Glauben an den morgigen Tag ... »Wollen wir baden?«

»Gehen wir.«

Behänd sprang sie auf. Wir liefen über den Sand zum Meer - ja, ganz genauso wie in den billigen Filmen.

»Merk dir eins: Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich dich eigentlich liebe oder nicht!«, rief Nastja, während sie ins Wasser stürmte. »Ich! Weiß! Es! Nicht!«

»Ich auch nicht«, rief ich zurück.

Das entsprach der Wahrheit. Aber gerade weil wir uns nicht fürchteten, darüber zu reden, hatte für diese Wahrheit das letzte Stündlein geschlagen.

Sie kamen am Morgen zu uns.

Ein Pochen unten an der Tür weckte mich. Sie klopften nicht sehr laut, nicht bedrohend, ja, nicht einmal energisch. Allerdings unermüdlich. Poch, poch. Eine lange Pause. Poch. Wieder eine Pause. Poch, poch.

In allen Fenstern schien die Sonne.

Poch, poch.

Wer auch immer das sein mochte, da stand jemand vor der Tür und klopfte maßvoll an. Dieser Jemand musste viel Zeit haben, alle Zeit der Welt, und sehr viel Geduld, mehr als einem Menschen zu eigen ist.

Nastja erwachte ebenfalls und setzte sich im Bett auf. Alarmiert sah sie mich an.

»Zieh dich an«, sagte ich ihr. »Kotja hatte recht, unsere Auszeit ist zu Ende.«

»Werden sie den Turm stürmen?«

»Nein! Du hast Ideen! Vermutlich haben sie einen Vorschlag ausgearbeitet.« Beruhigend strich ich ihr über die Schulter. »Irgendwelche Forderungen, die sie an mich und an dich stellen ... Selbstverständlich werden wir mit ihnen handeln. Wir werden ihnen versprechen, ihnen in Zukunft nicht mehr in die Quere zu kommen ... Ich habe nur eine Bitte an dich: Sei ehrlich! Sie spüren eine Lüge.«

Poch. Poch, poch.

Es klopfte an der Moskauer Tür, sie klang nämlich am »eisernsten«. Schade. Ich hätte es lieber gesehen, wenn es auf der Kimgimer Seite geklopft und Zei uns seinen Besuch abgestattet hätte.

»Ich werde sehr überzeugend sein.« Nastja stand auf und zog sich rasch an. Eine weiße Hose, eine weiße, kurzärmelige Bluse, sommerliche, für das herbstliche Moskau absurde Kleidung. »Ich habe ein bisschen Angst.«

»Das macht nichts.« Ich zwinkerte ihr zu. »In schlechten Hollywood-Filmen gewinnen immer die Guten.«

»Sind wir denn die Guten?«

»Bessere gibt’s gar nicht«, versicherte ich, während ich in meine Jeans stieg.

»Kirill ...«

»Ja?«

»Ach, nichts.« Nastja schüttelte den Kopf. »Ich erzähl’s dir später.«

In der Straße herrschte noch jene Leere, wie sie für Moskauer Straßen um sechs Uhr morgens beim ersten Schnee typisch ist. In kleinen Städten stehen die Menschen früh auf und gehen ebenso früh ins Bett. Nur in Moskau, wo man sich die halbe Nacht um die Ohren schlägt, triumphiert winters die Leere der morgendlichen Straßen.

Vor der Tür stand Natalja Iwanowa. Sie trug leichte Kleidung, verwaschene Jeans, eine kitschige Bluse - riesige rote Rosen auf schwarzem Untergrund - und ausgelatschte Turnschuhe. Arbeitete sie etwa tatsächlich auf dem Tscherkisowski-Markt? Es schneite leicht, Nataljas Haare überzog in null Komma nichts das winterliche Weiß.

»Kann ich reinkommen?«, fragte sie.

»Und wenn ich Nein sage?«

»Das würde die Sache nur komplizieren«, antwortete Natalja ernst.

»Na ... dann komm rein.«

In meinem Schlepptau (eigentlich missfiel es mir, ihr den Rücken zuzudrehen, aber noch viel weniger wollte ich, dass sie meine Angst mitbekam) stieg Natalja in den ersten Stock hinauf.

»Wo ist deine Freundin?«, fragte sie, indem sie sich umsah.

»Sie macht das Frühstück.« Ich schob Natalja einen Stuhl hin. »Setz dich, stehend kommen wir der Wahrheit auch nicht näher.«

»Danke.« Sie nahm Platz, lehnte sich über den Tisch und stützte das Kinn in die Hand. Einen ausgedehnten Moment lang sah sie mich an. Dann lächelte sie nahezu unmerklich und zwinkerte mir zu: »Was ist, mein Schützling? Hast du Mist gebaut?«

»Ja«, gestand ich reumütig.

»Halb so schlimm. Wir werden uns etwas einfallen lassen.« Das sagte sie bereits in ernsterem Ton. »Was für ein Teufel reitet dich eigentlich, Kirill?«, fragte sie schließlich tadelnd. »Woher kommt dieser Hochmut? Du hast die Tür nach Arkan geöffnet. Das geschieht erst zum zweiten Mal im Laufe der Geschichte eurer Welt. Eine erstaunliche Leistung, keine Frage! Denn das ist ... hm, sagen wir mal, ein energetisch komplexer Prozess. Als ob man gegen den Strom schwimmt. Gut, du hast das hingekriegt. Haben dich unsere Leute angesprochen? Ja, das haben sie. Und sie haben dir sogar einen großherzigen und ganz exzellenten Vorschlag unterbreitet. Nämlich uns ebenbürtig zu werden. Einer von uns zu werden.«

»Von euch?«

»Was soll ich dich anlügen, Kirill? Dir ist doch inzwischen sowieso alles klar. Ja, ich bin von Arkan. Und meine Arbeit besteht darin, Funktionale zu rekrutieren.«

»Weshalb tut ihr das?«, wollte ich wissen. »Warum ihr herumexperimentiert, ist klar. Aber wozu braucht ihr uns? Zur Gesellschaft? Wollt ihr Personal, das aus der Ureinwohnerschaft stammt? Warum ausgerechnet ich? Warum nicht der ehrgeizige Politiker Dima oder der Geschäftsmann Mischa?«

»Bist du nicht dahintergekommen?«, fragte Natalja ehrlich erstaunt. »Das wundert mich, Kirill ... Aber nein, von mir kriegst du jetzt keine Erklärungen. Zunächst müssen wir beide uns darüber verständigen, wie es mit dir weitergeht.«

»Dann tun wir das«, murmelte ich. »Wie sieht’s aus? Wollt ihr mal wieder eine Bombe zünden?«

»Wir arbeiten auch noch nach anderen Methoden«, stellte Natalja klar. Ohne jede Drohung, sondern schlicht zu meiner Kenntnisnahme. »Und die Bombe ... Wir mussten uns damals vergewissern, ob eure Technologie der unseren einen Schaden zufügen kann ... Was soll ich bloß mit dir machen, Kirill?«

»Soll das etwa heißen, dass du mit mir machen kannst, was immer dir beliebt?«

»Richtig«, antwortete sie lapidar. »Also vergiss deine Absicht, mit mir zu feilschen. Was ich entscheide, wird gemacht. Du kannst noch froh sein, dass wir dir wohlgesonnen sind ...«

»Vielen Dank auch«, brummte ich finster.

»Nach Arkan wirst du nicht mehr gehen. Zumindest nicht in den nächsten zehn Jahren.« Natalja grinste. »Damit du gar nicht erst in Versuchung gerätst, werden wir das Fenster und die Tür zubetonieren.«

Ich behielt meine bittere Miene bei, doch der Eisklumpen in meinem Innern schmolz sofort. Hatte ich also doch recht gehabt! Die Funktionale wollten mich keineswegs umbringen! Sie brauchten mich noch. Oder sie mochten mich einfach.

»Wir werden dir eine gesellschaftliche Rüge erteilen, indem wir dich unter Hausarrest stellen. Sagen wir ... für ein Jahr? In Ordnung? Lebensmittel werden dir geliefert. Aber wenn du den Turm verlässt ...« Nataljas Mundwinkel verzogen sich plötzlich erneut zu einem Lächeln, einem ziemlich falschen zwar, das aber dennoch gewinnend wirkte. »Ach was! Wollen wir mal nicht so sein! Ich gestatte dir den Zugang zum Reservat. Sonst versauerst du hier völlig. Einverstanden?«

»Ja«, stimmte ich rasch zu.

»Bei Andrej Petrowitsch musst du dich entschuldigen.« Natalja drohte mir tadelnd mit dem Finger. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Seine Distanz von seinem Revier auszunutzen, dich mit ihm zu prügeln und ihm Körperverletzungen zuzufügen! So was gehört sich nicht! Außerdem nimmt dadurch die Autorität der Polizei insgesamt Schaden.«

»Ich werde mich entschuldigen«, versicherte ich. »Es ist mir sogar selbst peinlich. Er ist ... ein so intelligenter Mensch. Deshalb werde ich mich gern entschuldigen.«

Oben klapperte das Geschirr. Ich sah zur Treppe, Natalja ebenfalls. Schließlich seufzte sie.

»Kommen wir zum schwierigsten Punkt ...«

»Sie bleibt bei mir«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.

»Alles hat seine Grenzen, Kirill. Auch unser Mitleid. Es war ein Fehler, dieses Mädchen aus Nirwana wegzubringen, denn da gehört sie hin. Vielleicht hätten wir sie sogar selbst nach ein, zwei Monaten zurückgelassen. In dieser Zeit wäre sie vermutlich zur Besinnung gekommen.«

»Folglich ist es meine Schuld, nicht ihre.«

»Erstens hat sie an diesen dummen terroristischen Aktionen teilgenommen.« Zur Illustration des Gesagten bog Natalja einen Finger um. »Zweitens hat sie einer flüchtigen Verbrecherin Unterschlupf gewährt. Drittens hat sie das Versprechen gebrochen, das jeder Mensch, der etwas von den Funktionalen weiß, abgeben muss, nämlich nichts auszuplaudern und sich nicht einzumischen. Viertens hat sie auf die Aufforderung zu bereuen erklärt, sie werde ihr Tun fortsetzen. Und fünftens, was am schwersten wiegt, sie hat ein Funktional angegriffen! Ein Polizistenfunktional im Dienst!«

Geräuschvoll schlug Natalja mit der offenen Hand auf den Tisch.

»Das wird nicht wieder vorkommen«, versprach ich. »Sie wird dem Terrorismus abschwören und niemandem mehr Unterschlupf bieten. Und sie wird bereuen. Und sich bei Andrej Petrowitsch entschuldigen.«

»Wir sind hier nicht im Kindergarten, Kirill.« Natalja schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich werde es nie wieder tun - und dann geht es weiter mit den Faxen. Nein, Kirill, Nastjas Schicksal ist bereits besiegelt.«

Ich spürte, wie ich allmählich ausrastete. Ich legte meine Hand auf ihre und drückte sie auf den Tisch.

»Nastja wird nirgendwohin gehen«, sagte ich. »Schluss. Aus. Basta. Ende.«

Natalja runzelte die Stirn. Ihr Gesicht sah jetzt noch hässlicher aus. »Ich habe schon vermutet, dass bei diesem Punkt die größten Schwierigkeiten auftreten ... Was willst du mit dem abgelegten Flittchen eines kleinen Geschäftsmannes? Was ist, fehlt es dir an Weibern? Du brauchst dir doch bloß eine auszusuchen! Erfahrene Nutten, hochanständige Gattinnen und Mütter, naive Minderjährige - wirf einen Blick aus dem Fenster, da wackeln ganze Herden mit dem Hintern!«

»Ich habe meine Wahl getroffen.«

»Ihr Schicksal ist bereits besiegelt«, sagte Natalja. Mit einem Mal ging mir auf, dass sie das ›bereits‹ betont hatte.

»Nastja!«, schrie ich aufspringend. »Nastja!«

Niemand antwortete mir.

»Aber ich werde dir entgegenkommen«, fuhr Natalja fort, als habe sie mein Verhalten gar nicht bemerkt. »Sie wird von hier aus nirgendwo mehr hingehen.«

Ich stürmte zur Treppe, preschte einen Stock höher. Die Küchentür stand offen.

Nastja lag neben dem Herd auf dem Fußboden. In der Pfanne brannten Spiegeleier an. Ein Winkel meines Bewusstseins registrierte, dass Nastja sie wie für ein Kind zubereitet hatte, als lustiges Gesicht, mit Eigelbaugen und einem Speckstreifen als lachendem Mund. Der metallene Heber, mit dem Nastja die Eier auf den Teller bugsieren wollte, war in einer Ecke der Küche gelandet.

Als ich mich über Nastja beugte, gab es in ihren Augen noch Leben. Leben und Furcht, wie sie immer untrennbar miteinander verbunden sind. Mir schien, sie würde mich erkennen. Ich glaubte sogar, sie freue sich darüber. Doch schon im nächsten Moment trat der Tod in ihre Augen und vertrieb die Furcht.

Ich schüttelte den Kopf.

Nein!

Wie konnte das sein? Das hier war mein Haus. Meine Burg. Selbst die leicht beschränkten Angestellten der dummen Alten Weiß hatten sich binnen weniger Minuten regeneriert. Ich war Zöllner. Fast ein Soldat. Ich hatte es überstanden, als man aus meinem Bauch Hackfleisch gemacht hatte. Und hier ließ sich nicht einmal eine Wunde erkennen!

»Nastja!«, schrie ich. »Du darfst nicht sterben.«

Ich schüttelte sie an den Schultern, obwohl ich genau wusste, dass sie bereits tot war. Nachdem ihr Herz ausgesetzt hatte, war ihr nur eine knappe Minute geblieben. Nastja war hingefallen. Der Pfannenheber, der ihr entglitten war, hatte über meinem Kopf gelärmt. Warum hatte sie nicht geschrien? Konnte sie es nicht mehr? Oder wollte sie es nicht? Sie hatte nicht losgeschrien. Aber sie hatte noch knapp eine Minute gelebt, auf mein Kommen gewartet.

»Leb!«, befahl ich. »Leb!«

Ich legte ihr die Hand auf die Brust. Ich stellte mir vor, wie sich aus meinen Fingern unsichtbare Fäden schlängelten, sich in ihr Herz bohrten ... wie der Defibrillator mit blauen Blitzen einen Stromstoß anzeigt ...

Es musste klappen.

Ja?

Aber nichts geschah.

Ihr Herz stand still, die Frau war tot. Mystik verfing hier nicht.

»Sie ist tot«, sagte Natalja. Sie stand in der Tür und betrachtete mich nachdenklich.

»Beleb sie!«, brüllte ich.

»Nein.«

»Kannst du es nicht? Oder willst du es nicht?«

»Ich will es nicht«, bekannte Natalja. »Wie ich bereits gesagt habe: Es gibt Dinge, die wir nicht verzeihen. Ein Angriff auf einen Polizisten gehört dazu. Beruhige dich. Es ist alles vorüber.«

»Ich bin die Ruhe selbst«, sagte ich mit einem Blick auf Nastja.

»Gut. Dieses Mädchen hatte schon drei Männer, obwohl sie noch nicht einmal neunzehn ist. Was willst du mit so einer? Und du bist kein Dummkopf - du willst mir doch wohl nicht weismachen, ihr hättet euch geliebt. Von Liebe kann keine Rede sein, es ging einzig und allein um Sex! Ich habe euch diese Nacht absichtlich nicht gestört, sondern dir die Gelegenheit gegeben, dich zu entspannen.«

»Weshalb bist du so ... grob?« Ich sah Natalja an.

»Damit dir klar wird, dass wir grob sein können.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Dieses Mädchen brauchen wir nicht. Aber dich würden wir gern behalten. Wenn du akzeptierst, was bisher geschehen ist, kannst du bei uns bleiben. Wenn nicht, folgst du ihr.«

»Ist das die Alternative?«

»Ja.«

Ich fuhr mit der Hand über Nastjas Gesicht, um ihr die Augen zu schließen. Ich zupfte die aus der Hose gerutschte Bluse wieder zurecht. Dann erhob ich mich. »Mir ist nicht klar, warum sie damit hausieren gegangen ist«, erklärte ich Natalja traurig. »Ich meine, dass sie lieber stehend sterben würde. Aber der Polizist hatte sich bereit erklärt, uns noch eine Chance zu geben ... Das war doch keine Lüge, oder?«

»Nein. Er hätte sie am Leben gelassen.«

»Wie unsagbar dumm das doch alles ist«, sagte ich. »All diese großen Worte und schönen Posen ... Non passeran!, Und sie bewegt sich doch!, Vaterland oder Tod!, Ich bin bereit, für meine Überzeugungen zu sterben! ... All das klingt lächerlich, sobald der echte Tod eintritt ... All das ist etwas für Kinder. Und für Erwachsene, die sie manipulieren ...«

Natalja nickte zustimmend.

»Und sie bewegt sich doch«, sagte ich. »So ist es doch, oder? Sie bewegt sich, sie kommen nicht durch, das Vaterland bleibt das Vaterland, selbst wenn der Tod zum Tod wird, und niemand ist bereit zu sterben, aber manchmal ist es leichter zu sterben, als Verrat zu üben ... Du bist ein hässliches mieses Weibsstück, das niemals jemand um deiner selbst willen geliebt hat, du bist noch nicht einmal deshalb in unsere Welt gekommen, weil du deine so liebst, sondern weil du Macht brauchst.«

Natalja schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wie eine Lehrerin, deren Liebling zwar bei der Lösung jeder Integralgleichung glänzte, aber nicht wusste, wie viel zwei mal zwei ist. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich offenkundig Enttäuschung wider.

»Du bist eine Kanaille«, sagte ich. »Ihr seid alle Kanaillen. Und zwar nicht, weil ihr uns klammheimlich lenkt, die Welten dreht und wendet, wie ihr wollt. Irgendjemand würde sowieso über uns herrschen, irgendjemand uns sowieso manipulieren. Und unser Unglück besteht auch nicht darin, dass ihr uns die Freiheit nehmt und einen goldenen Käfig als Ersatz anbietet. Freiheit lässt sich nicht in Quadratkilometern messen. Ich werfe euch noch nicht mal vor, dass ihr uns unsere Familien und Freunde nehmt. Schließlich erinnern wir uns noch an sie, und das ist das Wichtigste. Nein, ihr seid Kanaillen, weil ihr uns denjenigen nehmt, denen wir am Herzen liegen! Ihr lasst ihnen nicht mal die Erinnerung an uns. Aber dir reicht sogar das nicht, stimmt’s? Die Menschen sind für euch nur Figuren, die man nach Belieben auf dem Schachbrett umstellen kann, damit der eine Bauer in eine Dame verwandelt wird, während ihr den anderen vom Brett fegt, um so eure Partie durchzuziehen ...«

Ich verstummte.

Verstummte, weil ich alles begriffen hatte. Das Wichtigste.

Ich wusste jetzt, warum sie mich in ein Funktional verwandelt hatten. »Wer sollte ich werden?«, fragte ich.

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