Drei

Ich erwachte früh am Morgen, erstaunlich frisch und munter. Der alte Witz fiel mir ein, dass man mit zwanzig die ganze Nacht trinken und feiern kann und morgens munter ist, dass man mit dreißig die ganze Nacht trinkt und feiert, morgens aufsteht und merkt, dass man getrunken und gefeiert hat, während man mit vierzig nachts schläft und sich am Morgen fühlt, als habe man die ganze Nacht lang getrunken und gefeiert. Da ich noch zwischen zwanzig und dreißig lag, machte mir die bei Kognak durchquatschte Nacht nichts aus.

Immerhin ein Vorteil.

Kotja ratzte noch. Ich duschte, putzte mir unter Zuhilfenahme eines mit Zahnpasta eingeschmierten Fingers die Zähne, durchstöberte den Kühlschrank und machte mir ein paar belegte Brote mit Fleischwurst. Zu warten, bis der Geistesschaffende mit Gleitzeit erwachte, verspürte ich nicht die geringste Lust. Ich wollte handeln. Ich wollte aufbrechen und suchen, wollte finden und nicht klein beigeben. Ich linste ins Schlafzimmer.

Kotja schlief in einem breiten Doppelbett, schutzbedürftig an die Wand geschmiegt. Ich rüttelte ihn bei der Schulter. »Aufgestanden, Graf!«

Brabbelnd schlug Kotja die Augen auf. Verblüfft starrte er mich an.

»Ich gehe jetzt. Die Wahrheit suchen. In den Direktionen für Gebäudenutzung, den Notariaten und bei Anwälten. Mach mal hinter mir die Tür zu.«

»Ah ... Kirja ...« Kotja rieb sich über die Nasenwurzel. »Das macht mich noch ganz kirre ...«

Ich hasse einfallslose Wortspiele! Selbst wenn ich verkatert bin.

»Fährst du zum Tscherkisowski-Markt?«

»Um die Dame unter die Lupe zu nehmen? Ich erinnere mich noch an alles, keine Sorge.« Mit einem Grunzen setzte sich Kotja im Bett auf. »Gut, mach, dass du wegkommst! Ich stehe auch auf.«

»Hast du deinen Text fertig?«, erkundigte ich mich.

»Blöde Frage! Das Mädchen und ihr Hund.« Kotja erhob sich und folgte mir in die Diele. »Mir ist da eine exzellente Geschichte gelungen, die zu Herzen geht ... Ein minderjähriges Mädchen wird vom eigenen Onkel verführt, anschließend vergewaltigen sie nacheinander alle Klassenkameraden, danach arbeitet sie in einem Bordell auf Malta, kehrt irgendwann nach Russland zurück und züchtet fortan Malteser Schäferhunde ... hier findet sie auch ihre Liebe ...«

»Humbug!«, unterbrach ich ihn. »Es gibt keine Malteser Schäferhunde! Es gibt Malteser, aber das sind Schoßhündchen!«

»Du bist der Hundezüchter von uns beiden, du musst das wissen«, meinte Kotja unerschüttert. »Aber ein durchschnittlicher Leser schert sich doch einen Dreck darum, ob es ein Malteser Schoßhündchen oder ein Yorkshireterrier ist ... Und dann der Schlusssatz: ›Menschen können lügen. Ein Hund verrät dich niemals!‹«

»Na, damit ist dir der Booker sicher«, sagte ich, während ich zur Tür hinausging. Dann fiel mir allerdings Cashew ein - und meine Laune sank sofort.

Die nächsten vier Stunden verbrachte ich damit, kreuz und quer durch die Stadt zu fahren. Ich hatte - typisch für die heutigen Moskauer Verhältnisse - ein Privatauto mit einem Kaukasier am Steuer angehalten. Sein fahrbarer Untersatz war robuster als sonst üblich, auch der Mann selbst gefiel mir, weshalb ich ihn ohne zu zögern zu einem Pauschalpreis für vier Stunden anheuerte. Damit begann die Tour durch die Stadt. Zur Direktion für Gebäudenutzung, zum Notar, zur Abteilung zur Registrierung von Wohnraum, kurzum, zu all den Orten, die du nie freiwillig aufsuchst. Immerhin lachte mir heute hier und da das Glück. Ich brauchte kaum irgendwo anzustehen, fast alle Bürokraten »standen gern zu meiner Verfügung«.

Kotja hatte recht gehabt.

Sämtliche Wohnungsunterlagen lauteten auf den Namen Natalja Stepanowna Iwanowa.

Den Aufstand probte ich deshalb nicht. Waren sie auf ihren Namen ausgestellt - na gut, dann waren sie das eben. Es brachte wenig, die Herren Beamten gegen sich aufzubringen. Vielmehr galt es, mir ein lückenloses Bild von der Situation zu machen.

Meine letzte Station war die Telefongesellschaft in Ostankino. Auch das Telefon gehörte der Bürgerin Iwanowa.

Mit einem Mal schoss mir eine unangenehme Vermutung durch den Kopf. Ich bat den Fahrer, zur Filiale der Mobile TeleSystems im Prospekt Mira zu fahren, trat ans Kassenfensterchen heran und nannte meine Nummer.

»Nachname«, fragte das Fräulein mit zungenbrecherischer Schnelligkeit.

»Maximow.«

»Das stimmt nicht«, erklärte die Frau kalt. »Wiederholen Sie die Nummer.«

»Der Nachname ist Iwanowa«, fabulierte ich. »Ich habe ganz vergessen, dass meine Frau den Vertrag abgeschlossen hat ...«

»Mit wie viel soll die Karte denn aufgeladen werden?«

»Mit hundert Rubeln«, sagte ich düster.

Natürlich, man hatte mir auch das Handy genommen. Immerhin schien mir der Verlust nicht allzu gravierend. Ich bräuchte mir nur in einem Shop ein Paket von B+ oder JEANS zu kaufen oder einen neuen Vertrag abzuschließen. Wie hoch war denn mein Guthaben noch gewesen? Höchstens fünfhundert Rubel.

Angst jagte mir etwas anderes ein. Sie hatten an alles gedacht! Nicht die kleinste Kleinigkeit hatten sie übersehen, nicht einmal den Vertrag für das Mobiltelefon!

Sollte ihnen wirklich rein gar nichts entgangen sein?

»Fahren wir in die Poliklinik«, wies ich den Kaukasier an. »Das ist hier ganz in der Nähe ...«

Bei der Poliklinik handelte es sich um eine dieser stinknormalen Sowjeteinrichtungen. Ein altes Gebäude, das ewig instand gesetzt wird, mit schier endlosen Reihen hustender Jugend und lamentierender Greisinnen. Die jungen Leute kamen der Krankschreibungen wegen her, die alten, um sich zu unterhalten. Wer sich hier behandeln ließ, scherte sich nicht sonderlich ums Ergebnis. Mich selbst hatte es nur wenige Male wegen einer zumindest als solcher diagnostizierten Grippe hierher verschlagen.

Meine schmale Akte fand sich nicht. Natürlich existierte eine Akte der Bürgerin Iwanowa, ein dickes, zerfleddertes Ding. Offenbar ließ sie sich mit Vergnügen behandeln ...

Nachdem ich die Klinik verlassen hatte, blieb ich kurz stehen, den Blick auf meinen geduldig wartenden Chauffeur gerichtet. Wo fand ein Obdachloser Unterschlupf? Na gut, so schlecht sah meine Lage nicht aus. Immerhin konnte ich zu meinen Eltern, zu meinen Freunden, zur Arbeit ...

»Die vier Stunden sind gleich um«, warnte mich der Kaukasier.

»Den Rest erledige ich zu Fuß«, sagte ich. »Es ist nicht weit.«

Ich gab ihm achthundert Rubel, ein für Moskauer Verhältnisse mehr als akzeptabler Preis.

»Ich bring dich«, erbot sich der Fahrer. »Einfach so.«

Wenn ich ihm meine Geschichte erzählt hätte, hätte er vermutlich mit mir mitgefühlt. Der Fahrer war ein Mingrelier, der während des Kriegs aus Abchasien geflohen war. Auch er besaß irgendwo ein Haus, das ihm jetzt nicht mehr gehörte. Ja, er konnte es sich nicht einmal mehr ansehen: »In Abchasien würde man mich sofort abmurksen.«

Ich konnte mir mein ehemaliges Heim immerhin noch angucken.

»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich vertrete mir ein bisschen die Füße. Ich wohne hier in der Nähe.«

Der Kaukasier fuhr fort, und ich machte mich zu meinem Haus auf. Unterwegs kaufte ich mir ein Päckchen Zigaretten, denn meine Nerven ließen mich allmählich im Stich. Und die Gesundheit konnte mir gestohlen bleiben - wenn mein Leben gerade den Bach runterging!

Eine Zeitlang trieb ich mich vor dem Haus herum, rauchte und musterte die Gardinen. Fremde Gardinen. Ich hatte gar keine gehabt, sondern Jalousien angebracht.

Dann ging ich ins Treppenhaus, lief hoch und blieb vor der Wohnungstür stehen. Alles still. Cashew ratzte vermutlich auf dem Sofa.

Ich holte das Schlüsselbund heraus und schloss das erste Schloss auf.

Am zweiten scheiterte ich. Als ich es daraufhin inspizierte, erkannte ich, dass der Zylinder ausgetauscht worden war.

»Was machen wir denn da?«, erklang hinter mir eine Stimme.

Ich wandte mich um. Mein Nachbar kam die Treppe herauf.

»Pjotr Alexejewitsch, ich bin’s doch, Kirill!«, rief ich.

»Ach ja ...« Er nickte und baute sich vor seiner Tür auf. »Sie hat das Schloss heute Morgen ausgewechselt. Sie hat das selbst erledigt, eine patente Dame ...«

Bei dem Wort »Dame« fiel mir prompt Kotja ein.

»Was soll ich denn bloß machen?«, jammerte ich. »Die haben mir meine Wohnung geklaut ... Stellen Sie sich vor, alle Unterlagen sind auf ihren Namen ausgestellt! Überall!«

Pjotr nickte. Er holte seinen Schlüssel heraus und schloss seine Tür auf. »Ehrlich gesagt, Nachbar«, meinte er dann, »habe ich deine Papiere nie zu Gesicht bekommen ...«

Das versetzte mir den Todesstoß. Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte antworten können. In dem Moment klapperte eine andere Tür, und der alte Giftzahn Galina tauchte auf.

»Was ist denn das für einer, der da zu uns gekommen ist?«, erkundigte sie sich bei Pjotr Alexejewitsch, mich rundum ignorierend.

»Das ist doch Kirill, unser Nachbar ... unser ehemaliger Nachbar«, brummte Pjotr.

»Was für ein Kirill? Was für ein Nachbar? Hier wohnt doch Natascha Iwanowa!«, zischte die Alte biestig.

»Was für ein altes Miststück du doch bist!«, explodierte ich. »Hast du denn kein Gewissen? Pass auf, dass du Gott nicht vergisst, schließlich stehst du ihm bald gegenüber.«

»Ich rufe die Miliz!«, geiferte die Alte und zog sich in ihre vier Wände zurück. Noch im selben Augenblick fing sie hinter der Tür an zu zetern.

»Die Miliz kannst du jetzt wirklich nicht brauchen!«, meinte Pjotr, während er in seine rechtmäßige Wohnung ging. »Genehmigen wir uns einen?«

Schweigend ging ich die Treppe hinunter. Auf den Fahrstuhl vermochte ich einfach nicht zu warten, zu stark brodelte das Adrenalin in meinen Adern.

Wen sollte ich mir als Nächstes vornehmen? Einen Handwerker? Oder die Hundezüchterin? Gut, fing ich mit der an.

Ich kramte mein Handy heraus und suchte im Adressbuch nach der Nummer der Frau, die ich schon seit zwei Jahren nicht mehr angerufen hatte. Sie ging nicht gleich an den Apparat. Ihrer Stimme nach zu urteilen, hatte ich sie aus etwas herausgerissen. Allerdings klingelt bei Züchtern von Rassehunden alle naselang das Telefon.

»Polina Jewgenjewna?«, gab ich mich bewusst unbeschwert. »Hier ist Kirill Maximow. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich habe Cashew von Ihnen gekauft.«

»Cashew ... Cashew ...«, murmelte Polina Jewgenjewna. Wie alle Züchter erinnerte sie sich eher an die Hunde als an ihre Besitzer. »Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ein prachtvoller kleiner Rüde. Wollen Sie ihn zum Decken geben? Oder ist er erkrankt?«

»Aber nein, mit ihm ist alles in Ordnung«, log ich. »Ich würde Sie gern um einen Rat bitten, falls das möglich ist. Ein guter Freund von mir hat plötzlich Probleme mit seinem Hund.«

»Aber machen Sie es kurz«, verlangte Polina Jewgenjewna von vornherein. Den Freunden ehemaliger Kunden einen Rat zu erteilen, gehörte eben nicht zu ihren Pflichten.

»Er hat ebenfalls einen Skye, einen braven kleinen Hund«, erklärte ich. »Und der hat von einem Tag auf den andern aufgehört, ihn als Herrchen anzuerkennen. Stattdessen hat er die nächstbeste junge Frau als sein Frauchen akzeptiert, während er meinen Freund anknurrt, verbellt und kurz davor ist, ihn zu beißen. Wie kann so etwas passieren?«

»Akzeptiert er ihn überhaupt nicht mehr?«, wollte die Züchterin wissen.

»Überhaupt nicht! Er beäugt ihn, als wäre er ein Fremder! Der Frau gehorcht er aber ganz vorzüglich.«

»Haben Sie den Hund bestraft?«, fragte Polina Jewgenjewna, mir auf diese Weise signalisierend, dass meine lächerliche Lüge von dem ›Freund‹ bei ihr nicht verfing.

»Nein, natürlich nicht«, brummte ich.

»Sie haben ihn doch noch nicht kastrieren lassen, oder? Vielleicht hat die Dame jetzt ihre ...« Polina Jewgenjewna geriet ins Stocken. »... ihre kritischen Tage. Der Hund ist schließlich noch jung, aktiv, da wird er mit ihr schmusen. Aber dass er Sie nicht mehr als sein Herrchen anerkennt ...«

»Meinen Freund!«

»Ja, schon gut. Ihren Freund. Sagen Sie Ihrem Freund doch bitte, ein Skye sei ein sehr emotionaler, intelligenter Hund, der eine grobe Behandlung durchaus verübeln kann. Selbst wenn sie von seinem Herrchen kommt. Man muss zärtlich zu einem Tier sein. Sich eventuell sogar bei ihm entschuldigen. Schließlich versteht es alles, ganz wie ein Mensch! Falls Sie mir nicht glauben, ich erinnere mich da an einen Fall ...«

»Dann ist dergleichen also möglich?«, unterbrach ich Polina Jewgenjewna.

»Mir selbst ist so etwas, ehrlich gesagt, noch nicht untergekommen«, antwortete die Züchterin kalt. »Aber irgendwann passiert alles zum ersten Mal. Güte und Zuwendung, merken Sie sich das! Mit Güte und Zuwendung kann man von einem Hund alles bekommen, keinesfalls aber mit Gewalt und einer Befehlsstimme! Hunde sind wie Menschen, nur besser. Im Unterschied zu den Menschen verraten sie einen nicht!«

»Herzlichen Dank ...«, säuselte ich. »Das werde ich meinem Freund ausrichten ...«

»Tun Sie das! Und einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin ... Natascha hieß sie doch, oder?«

Ich erschauderte. In der Leitung vermeinte ich das Rascheln von Papier zu hören.

»Da irren Sie sich, ich bin nicht verheiratet.«

»Was heißt das, Sie sind nicht verheiratet? Hier steht doch alles Schwarz auf Weiß: Cashew von Archibald, Rüde, Besitzerin Natalja Iwanowa ...«

»Ja, Sie haben recht«, sagte ich. »Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung. Auf Wiedersehen.«

Nichts hatten sie übersehen! Sogar die Papiere in der Wohnung der Züchterin hatten sie ausgetauscht!

Aber weshalb? Um sich eine Einzimmerwohnung in einem alten Plattenbau unter den Nagel zu reißen?

Quatsch! Blödsinn! Nonsens!

Ich setzte mich auf eine Bank und steckte mir eine weitere Zigarette an. Ich spielte mit meinem Mobiltelefon herum. Das Handy, die Wohnung, der Hund - all das gehörte mir nicht mehr. Und wenn das bloß der Anfang war? Was konnten die mir noch nehmen?

Meine Familie. Meine Freunde. Meine Arbeit.

Ich wählte die Nummer der Einzelhandelsabteilung meiner Firma. Besetzt. Okay, das war normal. Alle möglichen Gören riefen uns an, die die neueste Grafikkarte möglichst billig abstauben wollten. Dann also die Nummer vom Boss.

»Ja.«

»Guten Tag, Valentin Romanowitsch!«

»Tag!«

»Tut mir leid, Sie zu stören. Hier ist Kirill Maximow. Der Einzelhandelsmanager.«

»Von welcher Firma?«

Beinah wäre mir das Handy aus den Fingern entglitten.

»Aus Ihrer! Aus ›Bit und Byte‹!«

Eine Pause. Ein Knistern, als halte jemand das Mikrofon mit der Hand zu. Technisch ist unser Chef eine absolute Nullnummer, nie wird er es lernen, mit der entsprechenden Taste die Verbindung zu trennen. Ich meinte: »Arbeitet bei uns ein Kirill Maximow? Im Einzelhandel?« zu hören. Anschließend wandte sich der Chef mir wieder mit ungebrochen höflichem Ton zu: »Ja?«

»Ich kann heute nicht zur Arbeit kommen, Valentin Romanowitsch. Es sind bestimmte Umstände eingetreten ...«

Erneut eine Pause und Geflüster bei abgedeckter Sprechmuschel.

»Äh? Kirill Maximow?«

»Kirill«, bestätigte ich, am Boden zerstört.

»Und wo bitte arbeiten Sie?«

»In der Einzelhandelsabteilung. Ich bin der Verkaufsmanager. Fragen Sie Andrej Isaakowitsch!«

»Andrej Isaakowitsch«, sagte der Chef absichtlich laut, »arbeitet in Ihrer Abteilung ein Kirill Maximow?«

»Nein«, vernahm ich die Antwort unseres Chefmanagers für den Einzelhandel. »Ich liege Ihnen doch ständig in den Ohren, Valentin Romanowitsch! Wir brauchen noch jemanden! Bei unserem Umsatz schaffen wir die ganze Arbeit zu dritt kaum! Das ist einfach absolut unmöglich!«

»Äh ... Kirill Maximowitsch ...«, wandte sich der Chef wieder an mich.

»Kirill Maximow!«

»Kirill Maximow. Mir ist nicht ganz klar, was Sie mit diesem Scherz beabsichtigen, aber wenn Sie in unsere Firma eintreten möchten und Erfahrungen vorweisen können ...«

»Das kann ich. Ich habe drei Jahre in dem Bereich gearbeitet.«

»Wo?«

»Bei ›Bit und Byte‹!«, brüllte ich und beendete das Gespräch.

Ein leichtes Frösteln durchlief mich. Hier ging es nicht mehr um Papiere. Valentin Romanowitsch wollte mich nicht erkennen? Nun gut. So oft hatte ich schließlich mit ihm nicht zu tun. Aber Andrjuschka Liwanow, mein Kollege, mit dem zusammen ich Industriealkohol getrunken und Arbeitsschweiß verströmt hatte?

Papiere konnte man fälschen. Wenn man mir denn unbedingt meine Wohnung abspenstig zu machen gedachte.

Menschen konnte man kaufen. Oder einschüchtern. Falls man sich das Ziel gesteckt hatte, mich zu vernichten.

Aber woher sollten mein Chef und Andrjuschka plötzlich diese schauspielerischen Fähigkeiten nehmen? Andrej mochte Liwanow heißen, vermochte sich jedoch mit seinem berühmten Namensvetter, dem Schauspieler, nicht zu messen. Dieses improvisierte Lamento über den dringend benötigten Manager hätte er nie und nimmer zustande gebracht!

Meine Hände zitterten - und daran trug das gestrige Gelage keinesfalls die Schuld. Ich sah mich um. Das war mein Hof. Meiner, ist das klar? Meiner! Diese Bänke, diese Karussells auf dem Spielplatz, die zum Stadtjubiläum frisch gestrichen worden waren, all das war meins! Dieser Hausmeister, der die feuchten Herbstblätter zusammenfegte, war meiner! Der kleine Eckladen, wo ich Brot, Wurst und Pelmeni kaufte, war meiner! Alles, was ich hier kannte und mochte, war meins. Sogar die Pfütze in dem schmalen Durchgang zwischen unserem und dem Nachbarshaus, war meine, denn sie war mir vertraut, hundert Mal hatte ich mir da nasse Füße geholt, einmal war ich sogar ausgerutscht und hineingefallen, hatte wie ein Clown mit den Armen gefuchtelt beim Versuch, den Fall abzufangen. Am Ende war ich doch auf dem Hosenboden gelandet. Anka hatte damals wie irrsinnig gelacht, und ich, in der Pfütze sitzend, stimmte bei ihrem Anblick in das Gelächter ein, während eine alte, an uns vorbeizuckelnde Oma nicht mit dem hinterm Berg zu halten vermochte, was sie über die heutige Jugend dachte, die sich um Anstand und Gewissen soff.

Ich wählte Anjas Nummer.

»Kirill, ruf mich nicht mehr an, ja?«, klang es mir entgegen. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Wirklich nicht.«

Aufgelegt.

Vermutlich war unsere Beziehung tatsächlich nicht zu kitten. Ich nahm ihr das nicht übel. Vielmehr freute ich mich! Anka hatte meine Nummer erkannt! Sie erinnerte sich an mich!

Was ging hier vor?

Ich setzte mich gemütlicher hin, lächelte dem Hausmeister zu, der mich jedoch nicht erkannte und meinen Gruß nicht erwiderte. Dann fing ich an, sämtliche Freunde, Bekannte und Geschäftspartner anzurufen, einen nach dem anderen, so wie sie im Adressbuch standen, angefangen mit dem Manager Aschimow, dem ich manchmal Rechner für unsere Firma abnahm, bis hin zu einem Bekannten meines Vaters, dem Zahnarzt Jablonski, der mir vor einem halben Jahr eine neue Füllung verpasst hatte.

Nach einer halben Stunde, als das Handy beinah leer war, gab ich die Telefoniererei auf.

Ein seltsames Bild. Nein, nicht seltsam, das wäre nur der Fall gewesen, wenn sich überhaupt keine Gesetzmäßigkeit hätte erkennen lassen. Die gab es jedoch.

Zufallsbekanntschaften wie Jablonski oder die Manager von bedeutenden Großhandelsfirmen hatten mich völlig vergessen. Bekannte, mit denen mich mehr oder weniger persönliche Erlebnisse verbanden, erinnerten sich zwar nicht auf Anhieb an mich, aber nach Sätzen wie: »Ljoschka, was ist? Leidest du an Gedächtnisschwund? Wir haben doch erst letzte Woche zusammen im Rechen ein Bierchen getrunken!« fiel ihnen wieder ein, wer ich war, und sie setzten zu verlegenen Entschuldigungen an, wobei sie die viele Arbeit vorschoben, die ihr Gedächtnis blockierte, oder die Folgen des gestrigen Besäufnisses. Ein Fünftel erinnerte sich sofort an mich: Kotja, obwohl bei ihm der noch nicht lange zurückliegende Kontakt ins Gewicht fallen dürfte, drei Frauen, mit denen mich recht warmherzige Beziehungen verbanden, und - völlig überraschend - ein Typ von der Konkurrenz. Mit ihm traf ich mich noch nicht einmal allzu häufig ... Er hatte so etwas an sich ... etwas von einem warmen Bruder ...

Ich krächzte. Na klar! Diese Geschichte hätte auch aus Kotjas Feder stammen können. Der Typ war wirklich schwul! Und offenbar hatte ich ihm gefallen. Deshalb erinnerte er sich an mich!

Warum auch immer, aber der Gedanke, Objekt der sexuellen Phantasien eines Schwulen zu sein, erschütterte mich stärker als der akute Gedächtnisschwund in meinem Bekanntenkreis. Ich erhob mich, steuerte den kleinen Laden an und kaufte Bier. Die Verkäuferinnen erkannten mich nicht wieder. Zu meiner Bank zurückgekehrt, versuchte ich, mich zu konzentrieren. Zum Teufel mit ihm, mit diesem Typ, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Heute Abend würde auch er mich mit Sicherheit vergessen, der Widerling.

Danach würden mich wohl die Frauen vergessen, mit denen ich mal verbändelt gewesen war.

Wie ging es jetzt weiter?

Ohne Arbeit. Ohne Wohnung. Ohne Freunde.

Mein Ausweis? Was brachte mir der schon! Gefälscht, würde es heißen. Auf dem Schwarzmarkt gekauft.

Und meine Eltern?

Würden sie die Miliz rufen, wenn sie mich in ihrer Wohnung vorfanden?

Ich wählte die Nummer meines Vaters. Ich vernahm das Rascheln und Knacken des internationalen Äthers.

»Ja?«, meldete sich mein Vater aufgeräumt. »Hallo. Hier ist Kirill«, sagte ich.

»Wer ist da?«, hakte mein Vater nach.

»Kirill! Was ist? Erkennst du dein eigen Fleisch und Blut nicht mehr?«

»Ich kann dich kaum verstehen, Kirillka«, erklärte mein Vater zärtlich. »Das ist keine Mobilfunkverbindung, sondern die reinste Feldpost ... Wie geht’s? Was macht die Arbeit?«

»Hab viel zu tun«, berichtete ich und nippte an meinem Bier.

»Deine Mutter fragt, ob du gesund bist.«

»Wie ein Fisch im Wasser.«

»Ist sonst alles in Ordnung? Es ist doch nichts passiert, oder?«

Ich schluckte die Antwort ›Man hat mich rausgeschmissen, mir die Wohnung geklaut, und meine Freunde erkennen mich nicht mehr‹ herunter.

»Alles bestens! Wie ist euer Urlaub?«

»Prima. Die Türken renken sich ein Bein für uns aus, würden sich aber am liebsten die Finger nach unserem Portemonnaie verrenken«, flachste mein Vater. »Es war ein Fehler von dir, nicht mitzukommen.«

»Schön«, freute ich mich.

»Rufst du einfach so an oder aus einem bestimmten Grund? Vermisst du uns?«

»Hm.«

»Komm, in drei ... nein, in vier Tagen sind wir ja wieder da. Deine Mutter hat sich schon mit Souvenirs eingedeckt.«

Ich nickte. Ein paar T-Shirts mit Aufdrucken à la: »Die Türkei, das Land der tollen Frauen«, eine - gleichsam in Ausübung eines Rituals - am Strand gesammelte Muschel, eine Flasche irgendeines türkischen Anisschnapses.

»Mach’s gut, Kirill«, fuhr mein Vater fort. »Meine Karte ist fast leer, und zu roamen ist verdammt teuer.«

»Soll ich dir was überweisen?«, fragte ich.

»Nicht nötig, so schlimm ist es nicht. Tschüs!«

»Tschüs, Papa«, sagte ich.

Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich mein Inneres. Okay, sie hatten mich erkannt, besorgten sogar Geschenke, aber ...

Durfte ich mich darauf verlassen? Wenn vierundzwanzig Stunden ausreichten, damit sämtliche Freunde mich vergaßen, dann brauchten meine Eltern dafür halt länger. Viel länger. Vielleicht eine ganze Woche. Aber früher oder später - da war ich mir fast sicher - würden auch sie mich vergessen. Verwundert würden sie meine Fotos anstarren. Das heißt: Wer garantierte mir denn, dass nicht auch die Bilder verschwinden würden? Oder an ihre Stelle ganz andere Aufnahmen träten?

Was sollte ich tun?

»Ich brauche einen Experten«, murmelte ich. Daraufhin nickte ich mir selbst zu. Ja, ich brauchte in der Tat einen Experten. Einen Menschen, der wenigstens ansatzweise etwas von dem verstand, was hier vor sich ging. Einen Bullen? Kaum. Einen Anwalt? Unter gar keinen Umständen. Einen Parapsychologen? Vielleicht. Schließlich handelte es sich um eine Geschichte, die auf logische Weise nicht zu erklären war. Also einen Parapsychologen! Oder einen Priester?

Verlegen berührte ich das Kreuz, das mir um den Hals hing. Formal war ich orthodox. Getauft war ich nicht im Kindesalter worden, sondern als ich bereits alles voll begriff. Als ich das alles schon bewusst miterlebte. In die Kirche ging ich auch. Ab und an. Einmal im Jahr legte ich sogar die Beichte ab. Ob jetzt der Zeitpunkt gekommen war, Gott um Hilfe anzuflehen?

Mannomann, ich saß ganz schön in der Tinte! Mit Gott verhielt es sich so einfach ja auch nicht. Auf eine persönliche Audienz bei ihm brauchte ich nicht zu hoffen. Ich müsste zu einem irdischen Stellvertreter gehen. Und was würde ein vernünftiger Priester - und die meisten sind ja sehr vernünftig - wohl davon halten, wenn ich ihm meine Geschichte erzählte?

Eben. Ein kranker Mensch. Bestenfalls ein Besessener. Mit Sicherheit würde er mir Trost spenden. Er würde mir raten zu beten. Vielleicht würde er sich sogar mit mir zusammen ins Gebet versenken.

Aber wirklich glauben würde mir doch niemand. Allenfalls einer, bei dem von Vernunft keine Rede sein kann. Auf diese Hilfe konnte ich freilich verzichten.

Vorsichtshalber betete ich trotzdem. Mir wurde etwas leichter zumute - wie immer, wenn du versuchst, dein Problem auf jemand anderen abzuwälzen und dir das scheinbar auch gelingt.

Dennoch brauchte ich noch einen realen Rat - und zwar in diesem Leben.

Erneut wählte ich Kotjas Nummer.

»Ja?«, meldete sich der Held an der literarischen Front.

»Hallo. Ich bin’s, Kirill.«

»Äh ... Was für ein Kirill?«

Der Prozess schritt weiter fort. Und ganz offenbar funktionierte er nach den Schneeballsystem.

»Kotja, ich habe dich erst vor einer halben Stunde angerufen. Weißt du das denn nicht mehr?«

»Hm ...«, gab Kotja ausweichend von sich.

»Ich bin Kirill. Der Manager aus der Firma ›Bit und Byte‹. Wir kennen uns schon seit fünf Jahren! Gestern Abend bin bei dir gewesen, und wir haben zwei Flaschen Kognak geleert!«

Eine lange Pause.

»Kirill, könntest du jetzt herkommen?«, fragte Kotja.

»Ja«, antwortete ich erleichtert.

»Gut. Aber beeil dich. Hier ist etwas Merkwürdiges in Gang.«

»Ach nee? Das ist mir auch schon aufgefallen«, zischte ich giftig, während ich mich von der Bank erhob.

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