Sechzehn

Ich weiß nicht, wie es anderen ergeht, aber ich erlebe bei jeder mildtätigen Geste einen Moment, in dem ich mich nicht wohlfühle. Man wirft eine Handvoll Kleingeld in das Futteral der Gitarre, auf der ein junger Mann in einer Straßenunterführung unbekannte Melodien spielt; man drückt eine kleinere Banknote in die zitternde Hand einer armen Alten oder gibt seine alten Klamotten in der Kirche ab, »für die Armen« - immer beschleicht einen ein leichtes Schuldgefühl.

Weil ich reicher bin? Nicht immer verdient ein Bettler, der gramerfüllt vor einem Geschäft steht, weniger als unsereins. Weil ich erfolgreicher bin? Erfolg ist eine flatterhafte Dame, und diese Mildtätigkeit garantiert dir keinesfalls dieselbe Reaktion von anderen, falls eines Tages das Unglück an deine Tür klopft.

Vermutlich kommt der Bettelei als solcher - und ihrer Billigung - ausschlaggebende Bedeutung zu. Nicht umsonst hat Kissa Worobjaninow, einer der Protagonisten aus den Zwölf Stühlen, bis zum letzten Moment das Betteln abgelehnt, geschrien, er würde die Hand nicht ausstrecken, und am Ende seinen Kumpan Ostap Bender, der diesbezüglich unablässig Druck auf ihn ausübte, getötet. Zur Bettelei gezwungen zu sein ist nicht weniger widerwärtig als zur Prostitution gezwungen zu sein. Und jede in die Schale geworfene Münze ermuntert letzten Endes zur Bettelei.

Insofern hielt die alte Volksweisheit nicht zufällig dazu an, einem Menschen keinen Fisch, sondern das Netz zu geben, mit dem er diese Fische fangen kann.

Während ich am Flussufer zum Dorf zurückwanderte, merkte ich, dass ich mich für diese seltsame Siedlung verantwortlich fühlte. Selbst wenn nicht ich es gewesen war, der diesen extravaganten Verbannungsort und die Pläne zur Besiedlung Nirwanas ersonnen hatte. Aber schließlich war ich ein Funktional. Einer von denjenigen, die die Menschen hier einpferchten. Sie an die Nadel brachten. Aus ihnen hilfloses Menschenmaterial machten, dessen einzige Funktion darin bestand, sich fortzupflanzen und zu vermehren.

Gewiss, im Großen und Ganzen ist das die natürliche Funktion eines jeden Menschen. Wir nähren jedoch immerhin die Illusion, wir würden nicht nur geboren, um zu einem Glied in der Kette von Generationen zu werden und uns dann begraben zu lassen. Der eine hegt die Illusion des Geldes, der andere die der Macht, der dritte die der Kreativität.

Genau daher rührt wahrscheinlich auch die Verlegenheit, wenn man Menschen trifft, die ihre Illusionen bereits eingebüßt haben, deren Leben sich auf die simpelsten Funktionen beschränkt: essen und trinken, schlafen und sich paaren, den Verstand mit Alkohol und Narkotika betäuben.

Der Spaziergang entlang dem Flussufer mit dem schweren Bündel auf der Schulter lud förmlich zu solchen philosophischen Überlegungen ein. Das ist nun einmal die augenfälligste Eigenschaft des russischen Charakters: zur Nächstenliebe gegenüber den Gestrauchelten anzuhalten, mit Krüppeln und Schwachsinnigen mitzuleiden und die Unzulänglichkeit der Welt als persönliche Schuld zu empfinden. Vermutlich ist es auch ebendiese Eigenschaft, die das Land daran hindert, seine »nationale Idee« zu finden und aufzublühen. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich Dima als nationale Idee nicht das Motto »Jeder ist sich selbst der Nächste« auftischen. Möglicherweise würde das Land davon tatsächlich profitieren - nur wäre es dann ein anderes Land.

Im Dorf fand ich alles wie gehabt vor. Allerdings hatte sich die Gruppe der Angler etwas gelichtet, nur noch zu fünft saßen sie zusammen und quittierten mein Erscheinen mit dem treuherzigen Lächeln von Menschen mit einem Down-Syndrom. Meine Augen suchten nach meinem Bekannten, aber Onkel Saschko hatte sich nach dem Borschtsch mit Huhn anscheinend schlafen gelegt. Wassilissa hatte mir geraten, die Sachen entweder ihm, einem mir unbekannten Marek oder einer Frau namens Anna auszuhändigen. Soweit ich es verstanden hatte, waren das die ältesten und am besten angepassten Bewohner Nirwanas.

»Marek!«, rief ich. »Anna!«

Niemand antwortete mir. Immerhin schauten ein paar der Junkies freundlich zu mir herüber. Seufzend watete ich ins Wasser. Ich hätte durch die Schmiede ans andere Ufer gehen sollen. Dass ich daran nicht gleich gedacht hatte! Na ja, jetzt ließ sich das nicht mehr ändern. Wassilissas Sachen würden schon wieder trocknen.

Nass und infolgedessen verdrossen, die Turnschuhe voller Schlamm, kam ich am anderen Ufer an. Das Bündel mit den Kleidungsstücken war völlig durchweicht, weshalb es katastrophal an Gewicht gewonnen hatte. Wäre ich kein Funktional gewesen, hätte ich es vermutlich nicht zu tragen vermocht. Der Dolch, den Wassilissa mir geschenkt hatte, klatschte in seiner Lederscheide sanft gegen meinen Oberschenkel. Kein sonderlich praktisches Geschenk - aber es abzuweisen oder jetzt wegzuwerfen wäre unhöflich gewesen.

»Wo finde ich Anna?«, fragte ich den erstbesten Fischer, einen jungen ausgemergelten Mann mit ungesunder gelber Gesichtsfarbe, in scharfem Ton. Als ich näher hinschaute, bemerkte ich, dass der Mann eine höchst eigenwillige Art hatte, seine Fische zu fangen. Seine Angelschnur hing ohne Haken im Wasser.

»Anna«, meinte der Mann. »Anna ...«

Sein Blick war leer und stumpf. Er würde mir wohl kaum weiterhelfen können.

»Anna ist da«, erklärte mir ein neben ihm sitzender Mann, der älter war und etwas gesünder aussah. »Da.«

Ich folgte der vagen Handbewegung, wobei ich beim Anblick der langen schmutzigen Fingernägel angewidert das Gesicht verzog: »Danke«, sagte ich.

Anna traf ich tatsächlich in besagtem Häuschen an. Die Tür stand sperrangelweit offen; im einzigen Zimmer, das recht sauber war und dessen Boden nach einer kürzlich erfolgten Reinigungsaktion noch feucht schimmerte, befanden sich zwei Frauen. Eine lag reglos mit dem Rücken zu mir auf einem groben, aus Brettern gezimmerten Bett. Offensichtlich hinderte sie das blanke Holz nicht am Schlaf, obwohl sie nur mit einem BH und einem Slip bekleidet war. Die andere trug ein gepunktetes Kattunkleid, aber keine Schuhe und wusch Wäsche in einer roten Plastikwanne, die in der Mitte des Zimmers auf einem wackeligen Stuhl von gleicher Farbe und gleichem Material stand. Die Frau sah zerzaust und verbraucht aus, schien aber hartnäckig und ausdauernd zu sein. Auf das in der Wanne eingeweichte Hemd blickte sie so zärtlich hinab, als handle es sich um einen jungen Hund oder ein Kätzchen, das sie ins Haus geholt hatte und nun vom Dreck der Straße reinigen musste.

»Anna?«

»Ja?« Mein Erscheinen rief keinerlei Neugier ihrerseits hervor. Vermutlich liegt darin ihr größtes Unglück: in diesem Fehlen von Neugier.

»Wassilissa hat mir das mitgegeben ...« Ich ließ das feuchte Bündel auf den Boden plumpsen. Die Schmiedin schien die Sachen, die offenbar aus zweiter Hand waren, in eine Gardine oder eine Decke gewickelt zu haben. Durch den feuchten Stoff zeichnete sich deutlich die Sohle eines kleinen Kinderstiefels ab.

»Gut«, sagte die Frau. »Danke.«

Fraglos hatte sie nicht die Absicht, ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gefiel ihr die Arbeit sogar. Kaum hörbar flüsterte sie dem Hemd, das sie gerade wusch, etwas zu. Von ihren Lippen meinte ich: »Ach du mein gutes Stück ...« abzulesen.

Welch ein Horror. Ich stellte mir Hausfrauen vor, die ihren Staubsauger liebkosten, mit den Töpfen spielten und die Waschmaschine anbeteten. Die häusliche Pflicht war nicht länger Sklavenarbeit, sondern wurde zum Vergnügen - wofür nicht mehr als ein paar Psychedelika in der Luft vonnöten waren.

»Was ist mit ihr?«, fragte ich schon im Aufbruch.

Anna schielte zu der Frau auf der Liege hinüber. Diese bewegte sich, als hätte sie den Blick aufgefangen.

»Sie ist neu hier«, teilte Anna mir mit. »Sie schläft. Am Anfang schlafen sie alle viel. Und denken viel nach.«

Etwas an dieser Frau, die da auf dem Bett döste, irritierte mich. Mir kam es so vor ... ja, als ob ich sie schon einmal getroffen hätte ... damals war sie natürlich nicht ganz so leicht bekleidet ... genauer gesagt, sie trug warme Kleidung...

Ich trat an die Liege heran, packte die Frau bei der Schulter und drehte sie vorsichtig um.

Die Frau, die vor zwei Tagen im Turm die Nachricht auf den Boden hatte fallen lassen, lächelte mich an. »Der Zöllner...«, sagte sie.

Aus ihrem Mund sickerte ein feiner Speichelfaden. Die rechte Wange, bis eben noch auf die Bretter gepresst, glühte rot.

Wenn sie mich nicht erkannt hätte, wären mir vielleicht Zweifel gekommen. Aber so nicht.

»Ich nehme sie mit«, erklärte ich.

»Sie kann sich momentan kaum auf den Beinen halten«, erwiderte Anna, nicht um Protest einzulegen, sondern um mich von dieser Tatsache in Kenntnis zu setzen. Vermutlich stellte es die schärfste Form von Widerspruch dar, zu der sich die Bewohner Nirwanas aufzuraffen vermochten.

»Es wird schon gehen. Ich helfe ihr«, versicherte ich, während ich die Frau hochhob und mir über die Schulter legte. Das Leben eines Funktionals hält in der Tat einige Vorteile bereit! »Wie ist sie denn zu euch gekommen?«

»Der Meister hat sie uns gebracht. Gestern.«

»Welcher Meister?«

»Der Meister.« Anscheinend wusste sie seinen Namen nicht. »Der Meister wird böse sein, wenn Sie sie mitnehmen.«

»Mach dir deshalb keine Sorgen«, entgegnete ich. »Hauptsache, ich bin nicht böse. Oder etwa nicht? Der Meister, den du vor der Nase hast, ist der, auf den es ankommt.«

Anscheinend rief sie mir noch etwas hinterher, doch ich verließ das Häuschen bereits. Während ich mich noch umsah, kam ich mir wie ein Terminator vor, der sich selbst umprogrammiert hatte und nun Sarah Connor rettete. Oder wie ein mittelalterlicher Soldat, der eine junge Frau kurzerhand aus einer umkämpften Stadt befreit.

Niemand versuchte, mir meine attraktive Gefangene abspenstig zu machen. In den Augen einiger Männer blitzte ein natürliches Bedürfnis auf. Mehr aber auch nicht.

»Euch ist wohl schon alles egal? Ihr armen Wichte«, murmelte ich, während ich durchs Wasser stakte. Ein kurzes Bad im kalten Wasser würde der Frau nicht schaden.

Eine Pause gönnte ich mir dann doch. In der Nähe des Turms. Im Grunde hätte ich das Stück auch noch geschafft, aber ich wollte kurz verschnaufen und sehen, wie es meiner Fracht ging.

Die Frau lächelte mich glückselig an, den Blick auf irgendeinen Punkt in ihrem Innern gerichtet. Ich schlug ihr sanft gegen die Wange, worauf ich ein zartes Geplärre als Antwort erhielt und beschloss, das Verhör zu vertagen. So steckte ich mir denn eine Zigarette an und freute mich darüber, einem normalen Gift dieses kurzweilige Vergnügen abgewinnen zu können - nicht aber dem permanenten und geistlosen Kick ausgeliefert zu sein.

»Zöllner ...«, wiederholte die Frau. Sie kniff die Augen zusammen. Anscheinend hegte sie die Absicht, ihren Blick auf mich zu heften. »Lass ... lass mich nicht im Stich ...«

Ich wusste, was sie meinte, und tätschelte ihr die Hand. »Keine Angst. Das tu ich nicht.«

Daraufhin entspannte sie sich, ihr Blick verschwamm sofort, wurde wieder stumpf. Ich rauchte, sah die Frau an und dachte voller Verwunderung darüber nach, dass sie kein sexuelles Interesse bei mir hervorrief. Absolut keins - und das, obwohl sie wesentlich hübscher war als diese Wassilissa, ja, sogar als meine Anka, offen gestanden. Weder der gebräunte junge Körper noch die teuere Spitzenwäsche erregten mich. Vermutlich lag das an den ausdruckslosen, starren Augen.

Oder weckte sie mein Interesse nicht, weil ich mich nie nach solchen Frauen umgedreht hatte? Das ist doch, als guckte man sich einen Kinostar oder ein Fotomodell an. Für einen fünfzehnjährigen Halbwüchsigen taugen sie noch als Vorlage für erotische Phantasien. Ein erwachsener Mann kann sie jedoch nicht mehr ernst nehmen. Solche Frauen sind etwas für diejenigen, die einen Bentley oder Jaguar fahren.

Oder eben für Funktionale.

Seufzend drückte ich die Zigarette im weichen Boden aus und trug die Frau, die mir mit einer reflexartigen Geste die Hände um den Hals legte, in meinen Armen zum Turm. So ließ es sich schwerer gehen. Aber nachdem sie mich um Hilfe gebeten hatte, konnte ich sie mir nicht mehr mir nichts, dir nichts über die Schulter werfen, als sei sie ein zusammengerollter Teppich.

Fünfzehn Minuten später betrat ich mit der selig lächelnden Frau den Turm. Der sah übrigens gar nicht so zauberhaft aus, wie ich zunächst angenommen hatte. Der grobe weiße Stein reichte an Marmor nicht heran. Ich konnte schon froh sein, dass es kein Sandstein war ... Mit dem Fuß stieß ich die Tür hinter mir zu, mit dem Ellbogen schob ich den Riegel vor. Das war geschafft. Was sollte ich als Nächstes tun? Sollte ich sie nach Moskau bringen? In die toxikologische Abteilung der Sklifossowski-Klinik? Nein, lieber nicht.

Ich ging in den ersten Stock hinauf und marschierte entschlossenen Schrittes ins Badezimmer. Ich setzte die Frau in die Wanne. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe, zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Schultern.

»Entschuldige ...«, sagte ich und seufzte. »Das geschieht ohne jeden Hintergedanken ...«

Nach wie vor lächelte sie. Wie lange würden die Psychotomimetika noch wirken? Ich hätte Wassilissa danach fragen sollen ...

»Das geschieht ohne jeden Hintergedanken!«, wiederholte ich, auch wenn mir unklar war, wen ich eigentlich überzeugen wollte, um ihr sodann den BH abzunehmen und ihr zu helfen, den Slip auszuziehen. Schließlich ist das ja wohl nicht die erste Frau, die ich entkleide? Nein, nicht die erste - die sechste. Nein, die fünfte.

Und wenn ich ganz ehrlich sein wollte und nur den zum Abschluss gebrachten Prozess gelten ließ: die dritte.

Ich hätte nicht behaupten können, dass sie dringend hygienischer Maßnahmen bedurfte. Nirwana war eine sehr saubere Welt, selbst der Schmutz klebte dort nicht an einem. Aber ich musste die Frau so schnell wie möglich wieder zur Besinnung bringen.

Runde drei Minuten hockte sie unter dem heißen Wasserstrahl. Dann überraschte ich sie, aufrichtig bedauernd, nur über eine normale Badewanne und nicht über eine dieser sagenhaften Jacuzzis zu verfügen, mit einer schottischen Dusche: zehn Sekunden kriegte sie nur eiskaltes Wasser, anschließend drehte ich das warme wieder auf. Als ich sah, dass das nichts nützte, dehnte ich die kalte Phase auf zwanzig Sekunden aus. Weiß Gott, ein erstaunliches Amüsement. Vor allem, da es draußen kalt war und das Wasser wirklich eiskalt aus dem Hahn kam.

Nach fünf Minuten zeitigte die Wechseldusche Wirkung.

»H... h... hör auf ...«, bibberte die Frau. »Re... reicht ...«

»Gut!«, freute ich mich. »Wie heißt du?«

Sie sah mich mit nassem und schon nicht mehr ganz so friedfertigem Gesicht an.

»Na ... na ...«

»Natascha?«

»Nastja ... es ... re... reich...«

»Nastja Esreich?«

»Es reicht!«

Für den Anfang gar nicht so schlecht. Ich stellte das Wasser ab und schnappte mir den Bademantel vom Haken. Nastja stand folgsam auf, ich warf ihr den Mantel über und half ihr, aus der Wanne zu klettern.

»Kannst du sprechen? Oder bist du zu bekifft?«

»Weiß nicht ...«

»Komm.«

»Wa... warte.« Sie drehte sich um und schielte zum Klo. »Geh raus ... ich muss ...«

Mit dem starken Verdacht, ich müsste nach fünf Minuten ins Bad vordringen und würde dort eine tumb lächelnde Nastja auf halbem Weg zum heiß ersehnten Ziel vorfinden, verließ ich den Raum. Doch sie stellte sich als stärker heraus, als ich angenommen hatte. Sie fand allein heraus, selbst wenn sie sich dann sofort wieder an mich hängte. »Alles schwankt ...«, gab sie unumwunden zu.

In der Küche setzte ich sie auf den Fußboden, von einem Stuhl wäre sie ohnehin heruntergerutscht. Ich brühte ihr einen starken süßen Kaffee auf, gemischt aus drei Löffeln Pulver, drei Löffeln Zucker und heißem Wasser, sicherlich nicht sonderlich schmackhaft, aber koffeinreich. Dieses Gebräu zwang ich sie zu trinken. Ich sah zum Fenster hinaus, das nach Kimgim führte, und schüttelte nur den Kopf. Der Abend brach schon herein. Es wäre unhöflich, nicht in Felix’ Restaurant zu gehen. Arrogant. Als ob ich nichts mit meinen Nachbarn zu tun haben wollte.

»Wie fühlst du dich?«

»Ich ratz gleich weg«, brachte Nastja deutlich hervor. »Ich bin völlig ausgepumpt ...«

»Was ist dir passiert? Warum haben sie dich nach Nirwana gebracht?«

Allem Anschein nach überforderte ich sie damit jedoch. Der Frau fielen die Augen zu, hartnäckig versuchte sie immer wieder, sich auf dem Boden auszustrecken. Schließlich gab ich nach, brachte sie ins Schlafzimmer und legte sie in mein Bett, wo sie sofort in Tiefschlaf fiel. Sie fing sogar an, leicht zu schnarchen.

»Hm«, murmelte ich, während ich die Frau zudeckte. »Gute Nacht.«

Vermutlich war das ganz normal. Der Entzug der Psychedelika führte wahrscheinlich entweder zu Erregung oder zu Betäubung. Letzteres zog ich vor.

Mit festem Schritt durchmaß ich das Zimmer, um aus den Fenstern zu schauen.

Moskau. Trüb, aber immerhin kein Regen. Es dämmerte bereits, in den Fenstern brannten schon Lichter, die Straßenlaternen leuchteten jedoch noch nicht.

Kimgim. Aufgrund der fehlenden Laternen und der engen Gasse war es hier dunkler. Dafür überzog alles eine dünne Schneedecke. Ein schwerer, schneeverhangener Himmel, aber neuerlicher Schneefall hatte nicht eingesetzt.

Erde-17. Ein traumhafter Sonnenuntergang über dem Meer. Das hellere Blau des Himmels changierte erst in dunkleres, dann in Violett und schließlich in ein reines tropisches Dunkel. All das rundete das abendliche Rosarot ab. Solche Ansichten wählen ältere Buchhalterinnen und blutjunge Sekretärinnen gern als Bildschirmhintergrund.

Nirwana. Das Idyll des Apfelgartens. Grünes Gras, blauer Himmel ... Hier stand die Sonne allerdings noch sehr hoch.

Was hielt mein fünftes und letztes Fensterchen für mich bereit?

Ich zuckte mit den Achseln. Das konnte ich nicht beeinflussen, ich würde nehmen müssen, was kam.

Langsam musste ich mich fertig machen, wenn ich zu Felix wollte. Ein Anzug wäre angemessen ... nur hatte ich mir noch keinen zugelegt. Ein sauberes Hemd und frische Socken mussten genügen. Den Dolch schnallte ich ab, die nach wie vor feuchte Klinge rieb ich trocken. Einen Kamin würde ich mir zulegen und diese Familienwaffe darüber aufhängen.

Ich legte einen Zettel für Nastja auf den Tisch: »Geh nirgendwo hin, das könnte gefährlich sein. Warte auf mich. Ich bin gegen Morgen wieder da.« Nach kurzem Schwanken unterschrieb ich das Ganze einfach mit »Der Zöllner«.

Beim Verlassen des Turms löschte ich das Licht. Die Tür nach Kimgim hatte ich mit der finsteren Entschlossenheit geöffnet, die etlichen Kilometer bis zum Restaurant so schnell wie möglich zurückzulegen. Am besten im Stile Zeis.

Da aber hatte ich die Rechnung ohne Felix gemacht. Vor dem Turm wartete der mir bereits vertraute Schlitten, in dem sich der gute alte Kellner Karl die Langeweile vertrieb, indem er rauchte - und zwar keine banale Zigarette, sondern eine Pfeife von eigentümlicher Form. Bei meinem Erscheinen sprang er vom Schlitten. »Die Kutsche ist bereit, Meister!«, rapportierte er.

Ohne jeden Zweifel führte Karl den Befehl seines Herrn nicht gleichmütig, sondern voller Vergnügen aus.

»Wartest du schon lange?«

»Nicht der Rede wert«, antwortete der Mann, woraus ich entnahm, dass der Schlitten in der Tat schon eine Weile hier stand. Das bezeugten im Übrigen auch die Spuren im Schnee: Immer wieder hatte Karl das Pferd ein wenig auf und ab geführt, damit es nicht fror. »Sollen wir noch auf Ihren Freund warten?«

»Er hat sich auf eine Reise begeben«, antwortete ich finster.

Nachdem ich in den Schlitten eingestiegen war und mir eine Decke übergelegt hatte, fuhren wir los.

Es gibt nichts Neues unterm Mond. Selbst unter einem fremden Mond nicht.

An der Tür des Restaurants prangte ein Schild: Geschlossene Gesellschaft. Am Eingang stand ein warm gekleideter, äußerst repräsentativer Maître d’hôtel, der einem empörten jungen Pärchen erklärte, es sei »ganz und gar unmöglich, kein Tisch mehr frei, hier findet eine Genossenschaftsfeier statt, ich empfehle Ihnen, es im Restaurant Fischerkönig zu versuchen. Zum Zeichen unseres Bedauerns werden wir Ihnen jetzt auf Kosten des Hauses ein Glas unseres Spezialglühweins kredenzen ...«

Das Pärchen legte lautstark Protest ein, verwies auf die frühzeitige Reservierung seinerseits und schaute mich höchst feindselig an. Felix’ Restaurant genoss in Kimgim in der Tat einen guten Ruf.

»Wenn ich bitten darf, Meister«, begrüßte mich der Maître d’hôtel mit einer tiefen Verbeugung, bevor er sich wieder den Einwohnern zuwandte. Sein Ton wechselte so leicht, als habe er im Rücken einen Schalter, wie man es von einem Kinderspielzeug kennt: speichelleckerisch/ freundlich - unnachgiebig/höflich.

Nachdem ich meine Jacke bei der Garderobiere abgegeben hatte, ging ich in den Hauptsaal.

Der Abend kam gerade in Gang.

Rund zwei Dutzend Gäste hatten sich eingefunden. Am Tisch - einem großen runden Tisch, der auch die Billigung von König Artus gefunden hätte - hatte noch niemand Platz genommen. Laut Felix gab es in Kimgim zehn Funktionale ... Die Hälfte der Anwesenden musste also aus anderen Welten gekommen sein. Rosa Weiß entdeckte ich auf Anhieb. Sie trug ein langes schwarzes Kleid mit einem Dekolleté, das ihrem Alter überhaupt nicht entsprach. In einer Hand hielt Rosa ein Glas mit Champagner, in der anderen eine dicke, angezündete Zigarre. Die Alte nickte mir wohlwollend zu und flüsterte einer fülligen, nicht mehr ganz jungen Frau, die neben ihr stand, etwas zu. Daraufhin bedachte mich die Dame mit einem aufmerksamen Blick und schenkte mir ein versonnenes Lächeln. Ihr Dekolleté war ebenso provozierend, aber immerhin gab es etwas, das diesen Ausschnitt rechtfertigte. Zu der hellen Türkisfarbe ihres Kleides musste ihr allerdings ein Feind geraten haben.

Auch Zeies war gekommen, in Smoking und mit Fliege. Des Langen und Breiten setzte er einem aufmerksam lauschenden Kellner etwas auseinander. Der Kellner nickte, aber Zeies schob immer weitere Details seiner Bestellung nach. Der Polizist sah ungeheuer imposant aus und wirkte wie der würdige Sprössling eines alten Adelsgeschlechts. Selbst seine eckige Physiognomie fügte sich ins Bild.

An die strenge Anzugsordnung hatten sich fast alle Gäste gehalten, gleichsam als hätte auf ihren Einladungen gestanden: »Black Tie«. Die Männer trugen schwarze Smokings und schwarze Fliegen, die Frauen Cocktailkleider. In halbformaler Kleidung waren nur zwei oder drei Männer erschienen. Aber nein: Da am Fenster unterhielt sich ein Mann, der sich für helle Hosen und ein Leinenhemd entschieden hatte, ganz ungezwungen mit einer Frau in einem rosafarbenen Kleid. Obwohl ich seinen massigen Nacken nur flüchtig wahrnahm, wusste ich prompt, dass ich ein Designerfunktional vor mir hatte. Wie ich darauf gekommen war? Keine Ahnung. Aber wie schlichen sich all diese Formeln wie »Black Tie«, »White Tie«, »casual« und »formal« in meinen Kopf, die sich diese schwermütigen Engländer für ihren Dresscode ausgedacht hatten?

Gut, sie alle würden meinen Anblick schon verkraften. Ich schob die Finger unter den Gürtel meiner Jeans und steuerte auf den Tisch zu. Links neben mir tauchte ein Kellner mit einem Tablett auf. Ich nahm mir ein Glas mit Champagner.

»Kirill!« Felix kam auf mich zu. Auch er war tadellos gekleidet und hielt eine ledergebundene Mappe in der Hand. Ob das die Speisekarte war? »Ich freue mich sehr, dass du die Zeit gefunden hast, dich heute zu uns zu gesellen! Liebe Freunde, ich bitte um eure Aufmerksamkeit! Das ist Kirill, von der Zollstelle im Fabrikviertel.«

Seine Freude war echt. Wie übrigens das Interesse der anderen Funktionale auch. Jemand klatschte leise, auf eine sehr distinguierte Weise in die Hände, die anderen spendeten tosenden Beifall. Einen ausgedehnten Moment lang applaudierten alle, ganz wie nervöse Passagiere in einem Flugzeug, das gerade die lang ersehnte Landung sanft hinter sich gebracht hat.

»Das ist die vierte Zollstelle in unserer Stadt«, fuhr Felix fort. »Meiner Ansicht nach ist dies ein mehr als würdiger Anlass für ein Bankett. Wir verfügen jetzt über neue Türen nach Erde-17, Erde-2 und ... Was hat es heute gegeben, Kirill?«

»Nirwana«, sagte ich.

»Welcher Teil?«

»Das weiß ich nicht. Es gibt da ein Dorf von Verbannten«, erklärte ich, wobei ich Felix in die Augen blickte. »Und auch eine Zollstelle. Das Funktional heißt Wassilissa.«

»Wassilissa ...« Felix geriet ins Grübeln. »Ich werde mal im ... Ich werde nachsehen. Dort gibt es drei Dutzend Dörfer, damit muss ich mich erst eingehender befassen ... Sehr schön, Kirill! Nirwana wird uns ebenfalls von Nutzen sein. Wir haben bereits einen Zugang zu dieser Welt, aber er führt in eine absolut menschenleere Gegend. Das wäre unmenschlich. Und ein neues Lager aufzubauen kostet viel Mühe und rentiert sich nicht.«

»Felix.« Mit einem Mal begriff ich, was mich an seinen Worten verstörte. »Hast du gerade gesagt, ihr hättet bereits Türen nach Erde-2?«

»Ja. In deine Welt.«

»Und Erde-1?«

Felix brach in schallendes Gelächter aus und fuchtelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben. »Das ist blanker Unsinn. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Das ist eine Reservenummer. Damit keine unnützen Streitigkeiten über den Vorrang entstehen ... Verehrte Anwesende, ich möchte einen Toast ausbringen!«

Die Kellner flitzten los. Hier gossen sie Champagner nach, dort tauschten sie ein Glas aus. Rosa Weiß ging zu Kognak über, ihrem Beispiel folgten einige Männer.

»Auf das neue Mitglied unserer kleinen, aber innigen Familie!«, prostete Felix. »Wir sind alle unterschiedlich, dienen jedoch der gleichen Sache!«

Die Gäste erhoben die Gläser. Einige Funktionale schlugen mir jovial auf die Schulter. Ich bekam bedeutungslose, aber wohl aufrichtige Komplimente zu hören. Zeies berief sich anscheinend auf seine Rechte als alter Bekannter, boxte mir mit der Faust in die Seite und strahlte mich freundschaftlich an.

Nachdem Felix seinen Champagner ausgetrunken hatte, fasste er mich leichthin unterm Arm. »Ich werde unseren Gast jetzt ein paar Minuten entführen!«, verkündete er. »Bist du schon sehr hungrig, Kirill?«

»Nein, nicht sehr«, log ich.

»Ich werde deine Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Nimm dir einstweilen ein paar belegte Brote.« Er nahm einen Teller vom Tisch und drückte ihn mir in die Hand. Darauf türmten sich winzige, unterschiedlich garnierte Kanapees. »Die musst du probieren, sie sind sehr schmackhaft ...«

Zweifelnd betrachtete ich die aus Brotteig gebackenen Nester, in denen sich gelb-grüne, halb durchscheinende Perlen häuften.

»Das ist Kaviar von dem Kraken«, erklärte Felix. »Etwas salzig.«

»Von diesem Vieh?«, fragte ich.

»Was? Ja, genau. Alles hat auch seine positiven Seiten ... Wie sieht es aus? Hast du dich schon eingelebt?«

Ich folgte Felix in ein kleines Arbeitszimmer, das von dem großen Saal durch einen schweren Brokatvorhang getrennt war. In ihm standen einige Sessel, ein kleiner Tisch mit einem alkoholischen Getränk und einigen Zuspeisen darauf. Ich stellte meinen Teller daneben.

»Mach dir darüber keine Gedanken, Felix, ich bin dabei, mich einzuleben.«

Etwas in ihm hatte sich seit unserer ersten Begegnung verändert. Er strahlte jetzt Nervosität und eine gewisse Verlegenheit aus.

Als ob ... als ob er vor irgendetwas Angst hätte.

»Hat man dich schon instruiert?«

»Ja. Zwei Menschen und ein Hebammenfunktional haben mir einen Besuch abgestattet.«

»Ja, sicher, natürlich ... Ihr seid recht stark mit der Regierung verzahnt. Aber das ist schon in Ordnung. Aber du darfst nie vergessen, dass niemand das Recht hat, dich unter Druck zu setzen. Nicht einmal ein Politiker.«

Ich hatte ihm nicht gesagt, was für Menschen mich genau besucht hatten. Doch tat ich so, als sei mir Felix’ Versprecher entgangen. »Der Politiker hat versucht, mich davon zu überzeugen, eine Tür nach Arkan zu öffnen.«

»Wozu das? Bist du denn dazu überhaupt imstande?«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich habe es versucht, aber dabei hat sich die Tür nach Nirwana geöffnet. Und wozu ...« Während ich kurz in meine Überlegung versank, goss ich mir ein Schlückchen Kognak ein - genauer gesagt keinen Kognak, sondern eine lokale Weinbrand-Variante, die dem Bouquet nach zu urteilen recht anständig war. »Das ist die Zukunft, oder?«

»Nein, das ist nicht die Zukunft.« Felix runzelte die Stirn. »Das ist eine vulgäre Erklärung. Man glaubt, die Welt Arkans sei mit der Welt von Erde-2 annähernd identisch, ihr jedoch in der Entwicklung voraus. Als habe seine Geschichte ... sozusagen dreißig Jahre früher begonnen.«

»Das ist doch egal. Im Übrigen hegt der Politiker höchst ehrgeizige Pläne. Er möchte die Zukunft kennenlernen, um in unserer Welt erfolgreich wirken zu können.«

»Um herrschen zu können.« Felix nickte. »Warum auch nicht? Versuchen kannst du es natürlich. Aber es ist sehr schwierig, eine Tür in diese Welt zu öffnen ... sehr schwierig. Es gab mal eine Zollstelle ...«

»Felix, heißt das, es gibt in Arkan keine Funktionale?«

»Genau das heißt es.« Felix breitete die Arme aus.

»Woher sind sie eigentlich gekommen?«

»Wer?«, fragte Felix lächelnd. Mir kam es jedoch so vor, als zitterten seine Mundwinkeln.

»Die Funktionale.«

»Was soll denn dieser Unsinn?« Felix hob die Stimme, wenn auch nur leicht. »Wir sind die Funktionale! Ich bin von Erde-3. Du von Erde-2. In den Welten Zwei bis Sechs gibt es menschliche Zivilisationen. Hinzukommen noch die beiden periodisch zugänglichen Welten Arkan und Cañon. In den anderen Welten leben keine Menschen, in manchen existiert nicht mal irgendeine Form von Leben ... Ehrlich gesagt, wollte ich dich genau aus dem Grund sprechen!«

Er reichte mir die Mappe.

In ihr befanden sich zwei Stapel zusammengeklammerter Blätter. Der erste Packen war mit »Zuverlässig bekannte Welten des Multiversums« betitelt. Der zweite, etwas dünnere, mit »Erde-3, eingehende Beschreibung«.

»Wir vergessen das immer«, meinte Felix. »Das Fehlen einer Zentralverwaltung bringt uns ebenso viele Vorteile wie Nachteile ... Alles hat irgendwo seine Nachteile. Diese Papiere enthalten eine Menge nützlicher Informationen für dich.«

Rasch überflog ich die erste Seite der »zuverlässig bekannten Welten«.

Erde-2. Vollständig besiedelte und erforschte Welt. Antagonistische politische Systeme. Wichtigste Staaten: USA, China. Wichtigste Sprachen: Amerikanisches Englisch, Chinesisch. Niveau der technischen Entwicklung: 1.

»Was bedeutet Niveau der technischen Entwicklung: 1?«, wollte ich wissen.

»Deine Welt ist technisch am weitesten entwickelt und wurde deshalb als Maßstab gewählt«, erklärte Felix. »Dagegen wird der ökologische Wohlstand an unserer Erde gemessen.«

»Damit niemand beleidigt ist?«

»Richtig.«

»Vielen Dank, Felix.« Ich schloss die Mappe. »Aber ich glaube trotzdem ...«

»Ich bin dir wirklich wohlgesinnt, Kirill.« Felix bedachte mich mit einem tadelnden Blick. »Ich freue mich immer, wenn ein Mensch die Chance erhält, sich uns anzuschließen. Und mir ist durchaus bewusst, wie gern Neulinge hinter die geheimen Mechanismen und Grundlagen unserer Gesellschaft kommen möchten. Nur dass es die eben nicht gibt, Kirill! Es gibt Hebammenfunktionale, die das Auftauchen von Neulingen spüren und ihnen helfen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Es gibt Freunde, die dir immer helfen, die dir das Leben immer erleichtern. Es gibt unterschiedliche Welten, ganz schreckliche, aber auch wunderschöne ... Deine Welt ist, nebenbei bemerkt, wunderschön, nur bist du dir dessen nicht bewusst. Es gibt bestimmte Probleme ... Mitunter erfahren Menschen etwas von unserer Existenz und verschwören sich dann gegen uns ...«

»Dann schickt man sie nach Nirwana.«

»Ja. Man verbannt sie nach Erde-22. Das ist keine allzu drakonische Strafe, wenn du dir vor Augen hältst, dass die Untergrundkämpfer vor nichts zurückschrecken. Oder nicht?«

Ich zuckte nur mit den Achseln.

»Romantische Anfälle kennt jeder«, murmelte Felix. »Vor allem ein junger Mensch, der einer attraktiven Frau gegenübersteht ...«

Unsere Blicke kreuzten sich. »Und was passiert mit einem jungen Funktional, der so einem romantischen Anfall nachgibt?«, fragte ich.

»Wenn er damit keinen Schaden anrichtet«, meinte Felix seufzend, »nichts. Vielleicht gelingt es dem jungen Mann ja sogar, die naive Frau, die sich in ein gefährliches fremdes Spiel hat verstricken lassen, umzuerziehen. In dem Fall wird ihm niemand einen Vorwurf machen!«

»Ah ja.« Ungeachtet des ernsten Gesprächs fiel mir plötzlich der Film Siebzehn Augenblicke des Frühlings ein, und in meinem Kopf hallte es wider: »Wir alle stehen unter der Fuchtel von Müller!« Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte laut losgeprustet.

»Es gibt aber auch weit unangenehmere Situationen!« Mit finsterer Miene schwenkte Felix das Glas in seiner Hand, konnte sich jedoch nicht entscheiden, von dem Kognak zu trinken. »Zum Beispiel könnte ein Arztfunktional auftauchen. Eine prachtvolle Frau. Sie könnte uns helfen, aber auch den Menschen. Wer wollte dagegen etwas einwenden? Wir alle helfen den einfachen Menschen, soweit es in unseren Kräften und Fähigkeiten liegt! Sie jedoch lässt sich mit Banditen ein, fängt an, sinistre Spielchen zu spielen ... Gemäß dem Gesetz wurde sie vor die Wahl gestellt - und sie löst die Bindung an ihre Funktion! Sie verwandelt sich von einem Funktional in einen Menschen. Nun gut, wenn das ihre Wahl war! Aber danach spielt sie die Partisanin, den Robin Hood ... Sie schreckt nicht einmal davor zurück, eine arme halb schwachsinnige Alte zu foltern ... Auch du musstest ihretwegen schon Blut vergießen und törichte, ihren romantischen Phantasien verfallene Jungen umbringen!«

Was ich darauf antworten sollte, wusste ich nicht. Felix hatte recht, an meinen Händen klebte Blut. Aber was hätte ich in dieser Situation sonst tun sollen?

»Du hättest nichts tun können«, fuhr Felix fort. »Dich trifft keine Schuld. Das alles ist der angeborenen Dummheit und dem Verrat dieses Funktionals geschuldet!«

Mehrere Sekunden saßen wir schweigend da. Irgendwann erhob sich Felix. Sein Gesicht nahm wieder einen entspannten Ausdruck an, als hätte er eine unangenehme, aber unausweichliche Mission ehrenvoll erfüllt.

»Ich hoffe, du siehst dich nie mit Verrat konfrontiert!«, sagte er in pathetischem Ton. »Du begegnest ihm zwar nicht oft, aber wenn, ist er immer schmerzlich ... Lass uns jetzt gehen! Die Gäste warten schon. Der erste Gang sollte inzwischen beendet sein.«

Wir verließen das Arbeitszimmer in der Tat genau zur rechten Zeit: Gerade brachten die Kellner dampfende Teller. Mir fiel auf, dass alle Gäste das Gleiche bekamen, ihnen jedoch ein unterschiedliches Repertoire an Saucen gereicht wurde. Vor dem einem standen ein, zwei kleine Schälchen, vor dem anderen eine ganze Batterie an Saucieren, Phiolen, Fässchen und Fläschchen.

»Einen Kognak«, bat ich den Kellner, während ich auf den Teller mit etwas in der Art von Kalbsmedaillons blickte. »Das heißt, nein ... Bringen Sie mir lieber einen Wodka.«

»Und welcher darf es sein? Russki standart, Stolitschnaja, Absoljut, Ksarp, Esgir, Limonny esgir?«

»Esgir«, wählte ich.

Im Übrigen handelte es sich bei dem hiesigen Wodka um normalen Wodka. Ich hätte ihn auch in Tambow oder Stockholm trinken können. Oder in Frankreich. Überall, wo man auf die Idee gekommen war, aus Weizen Alkohol zu destillieren. Mir sollte das recht sein. Ich war wütend, auf Felix, auf Untergrundkämpfer jeglicher Couleur und auf mich selbst. Ich wollte mich betrinken.

Das gelang mir denn auch vortrefflich.

Ich erinnere mich noch, wie ich mich mit Felix zurückzog, einen sehr alten und sehr seltenen Kognak trank, wobei ich seinen Geschmack nach dem Wodka schon gar nicht mehr wahrnahm, aber enthusiastisch das Bouquet pries. Mein Zöllnergedächtnis zauberte pflichtbewusst einige spezifische Wörtchen aus dem Jargon der Degustatoren herbei, was Felix mit wohlwollenden Nicken quittierte.

Dann verschwand Felix irgendwohin, ich knutschte in seinem Arbeitszimmer ausgiebig mit einer Frau rum, einem Künstlerfunktional. Die Frau versuchte mich zu überreden, mit ihr in ihr Atelier zu fahren, wo sie sofort ein Aktportrait von mir malen würde. Ich lehnte mit der Begründung ab, dies sei ganz entschieden nicht mein Tag und dass ich eine dritte Schlappe nicht überleben würde, die aber, angesichts der getrunkenen Mengen, unausweichlich sei. Wir verabredeten uns, das Portrait irgendwann nächste Woche anzugehen, worauf die Frau sich leicht und ungezwungen an Felix heranmachte.

Am Ende des Abends trank ich mit einem Deutschen Brüderschaft, dessen Zöllnerposten ihn aus dem kleinen Kurstädtchen Wiesbaden nach Kimgim gebracht hatte. Der Deutsche prüfte lange etwas in irgendwelchen Karten nach, um abschließend feierlich zu erklären, ich könne über Kimgim zu ihm nach Wiesbaden gelangen und dortselbst in gewisse einmalige Bäder. Darauf tranken wir gleich noch ein Gläschen und versicherten einander, wie ähnlich der deutsche und der russische Nationalcharakter sich doch seien, beklagten die Tragik der deutschrussischen Kriege und sinnierten über die bedeutende Rolle, die Russland und Deutschland eigentlich in Europa spielen müssten. Der Deutsche beharrte in seiner politischen Korrektheit auf einem »Vereinten Europa«, während ich kichernd erklärte »Und auch in einem Getrennten!«. Aus irgendeinem Grund kam mir das ungeheuer komisch vor.

Danach fand ich mich - sofort und völlig nahtlos - vor meinem Turm wieder. Es war hundskalt. Der Kellner Karl gab sich alle Mühe, mich zu überreden, in den Turm zu gehen und mich schlafen zu legen, doch ich erklärte ihm, als Funktional sei ich in der Lage, mir auch im Schnee ein komfortables Nachtlager herzurichten. Angesichts der Erschütterung Karls willigte ich am Ende jedoch ein, nach drinnen zu gehen.

Dort schlief ich ein, nachdem ich es mir auf der Treppe bequem gemacht hatte. Die Frau in meinem Bett hatte ich völlig vergessen. Die Treppe hinaufzugehen erschien mir zu schwierig, als dass es die Mühe lohnte.

Загрузка...