Vier

Mit den Anschlüssen hatte ich heute Glück. Schon in vierzig Minuten war ich bei Kotja. Ich klingelte an der Tür.

Kotja öffnete mir nicht sogleich. Außerdem musterte er mich mit unverhohlener Neugier.

»Kotja, ich bin’s, Kirill«, sagte ich. »Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben gestern Abend ...«

»... einen gehoben«, murmelte Kotja. »Noch erinnere ich mich daran. Komm rein.«

Dennoch hörte er nicht auf, mich reichlich misstrauisch zu beäugen. Nicht wie einen Fremden, aber doch wie einen ausgesprochen seltsamen Bekannten.

»Was ist nun? Erinnerst du dich?«, bohrte ich. »Hier ist irgendeine Schweinerei im Gang. Ich habe meine Freunde angerufen ...«

»Gehen wir an den Compi«, verlangte Kotja. »Lies, was da steht.«

Gehorsam setzte ich mich vor den Rechner. Auf dem Bildschirm war eine Textdatei geöffnet. Fragend blickte ich Kotja an.

»Lies alles von Anfang an«, forderte er mich auf und ließ sich aufs Sofa plumpsen.

Ich fuhr mit dem Cursor zum Textanfang und fing brav an zu lesen.

Einzelunterricht

Semjon Makarowitsch, ein vierzigjähriger Sportlehrer, beobachtete aufmerksam die frühreifen Achtklässlerinnen, die gerade im Sportsaal der Schule turnten. Da kam Julja zu ihm und sagte: »Nie kriege ich einen Spagat hin.«

»Dann wirst du für dieses Quartal nur eine Drei bekommen«, erklärte Semjon Makarowitsch. »Du bist nicht geschmeidig genug.«

Julja, die unumstrittene Musterschülerin, erbleichte. »Bloß keine Drei, Semjon Makarowitsch! Lässt sich denn da gar nichts machen?«

»Warum sollte sich da nichts machen lassen? Komm nach der letzten Stunde zu mir. Dann kriegst du von mir Einzelunterricht zur Verbesserung deiner Geschmeidigkeit.«

Ich sah Kotja an.

»An diesem Machwerk habe ich gesessen, als du angerufen hast«, rechtfertigte sich dieser mit gerunzelter Stirn. »Lies weiter.«

Die hochspannende Geschichte von dem vierzigjährigen Sportlehrer und der ungeschmeidigen Musterschülerin brach an dieser Stelle ab. Nun würde ich also nie erfahren, mit welchen Methoden der alte Lüstling für die weitere Entwicklung der ohnehin frühreifen Schülerin zu sorgen gedachte. Dafür betraf der folgende Passus mich selbst.

Eben hat mich mein alter Freund Kirill Maximow angerufen. Etwas stimmt da nicht, denn ich habe ihn nicht erkannt. Dabei haben wir den ganzen gestrigen Abend bei einer Flasche Kognak zusammengehockt...

»Bei zwei Flaschen«, korrigierte ich.

Erst als er das erwähnte, fiel mir wieder ein, wer er war. Allerdings ist diese Erinnerung höchst merkwürdig. Den gestrigen Tag habe ich anscheinend lückenlos präsent. Ich erinnere mich genau, woran ich gearbeitet habe. Und auch, dass ich abends mit jemandem etwas getrunken habe. Aber mit wem, das war mir vollständig entfallen, bis Kirill dann anrief. Auch an sein Gesicht erinnere ich mich nur mit Mühe. Überhaupt herrscht in meinem Kopf ein einziges Chaos, wenn es um ihn geht. An manches erinnere ich mich, an anderes nicht.

»Zu viel ›erinnern‹«, krittelte ich. »Du solltest auf deinen Stil achten, Herr Literat.«

»Der Stil interessiert mich einen Scheißdreck«, zischte Kotja. »Lies weiter!«

Im Folgenden hatte Kotja unser gestriges Gespräch und meine Misslichkeiten recht detailliert wiedergegeben. Der Text riss mit dem Satz: »Ich habe den starken Verdacht, dass, wenn Kirill eine halbe Stunde später angerufen hätte und es mir nicht gelungen wäre, diesen Text zu schreiben, ich ihn überhaupt nicht mehr erkannt hätte.«

Seufzend drehte ich mich auf dem Stuhl Kotja zu.

»Solange ich an dich denke«, sagte Kotja niedergeschlagen, »ist alles im Lot. Ich erinnere mich an dich und alles, was mit dir zusammenhängt. Aber kaum beschäftige ich mich mit was anderem ... Vorhin bin ich rausgegangen, um mir einen Kaffee zu kochen. Als ich zurückgekommen bin, wollte ich die Erzählung über den Sportlehrer fortsetzen. Doch sobald ich auf den Bildschirm geblickt habe, habe ich diesen Text entdeckt, der da nicht hingehört. Da habe ich angefangen, ihn zu lesen. Darauf fiel mir alles wieder ein. Allerdings ... war alles irgendwie vernebelt.«

»Was geht hier vor, Kotja?«, fragte ich.

»Vergisst du vielleicht auch etwas?«, fragte Kotja hoffnungsvoll.

»Nicht das Geringste. Die Leute vergessen mich. Meine Eltern erinnern sich noch gerade so an mich, Anka auch ... und noch ein paar Frauen ...«

»Alle, die eine engere emotionale Beziehung zu dir haben«, schlussfolgerte Kotja.

»Wie meinst du das?«

»Es sind diejenigen, die ständig an dich denken. Das gibt ihnen keine Gelegenheit, dich zu vergessen ... zumindest nicht so schnell. Schließlich vergessen wir alle ständig was. Das ist doch ganz normal. Wenn eine Information ohne Belang für uns ist, wenn wir sie nicht brauchen, dann löscht das Gedächtnis sie ... oder packt sie in irgendeinen entfernten Kasten. Mein Computer macht das genauso, in regelmäßigen Abständen fragt er mich: ›Sie haben bereits seit einem halben Jahr nicht mehr auf dieses Programm zugegriffen, brauchen Sie es noch oder wollen Sie es löschen?‹ Insofern wäre das ganz normal ... wenn es nicht so schnell ginge. Als ob du Gedächtnisschwund hast.«

»Wieso ich? Ich erinnere mich an alles! Den Gedächtnisschwund haben meine Freunde.«

»So etwas gibt es nicht«, sinnierte Kotja düster. »Hör mal, Kirill, du bist ein feiner Kerl, ich mag dich sehr gern, aber ich habe nicht die Absicht, den lieben langen Tag an dich zu denken. Stell dich darauf ein! Denn wenn ich nicht ständig an dich denke, vergesse ich dich total. Da helfen keine Aufzeichnungen.«

»Heldentaten werde ich von dir keine verlangen«, brummte ich. »Was ist? Soll ich das Geschreibsel löschen und gehen?«

Kotja ließ sich die Sache einen Moment lang durch den Kopf gehen. In erster Linie wohl, um an meinen Nerven zu zerren.

»Nein, warte. Ich bin doch neugierig. Was hast du heute gemacht?«

»Als Erstes habe ich die Behörden abgeklappert ...«, fing ich meine Aufzählung an. Kotja hörte mir gespannt zu und nickte hin und wieder.

»In der Kirche bist du also noch nicht gewesen?«, fragte er.

Ich glotzte ihn mit großen Augen an. Kotja war zwar kein eingefleischter Atheist, glaubte jedoch nicht an Gott. »Ist das dein Ernst?«

»Warum denn nicht? Ich bin schließlich kein Atheist, sondern Agnostiker. Ein solcher lässt theoretisch die Existenz höherer Kräfte zu. Und wenn wir es nun schon mal mit mystischen Dingen zu tun haben ...«

»Nein, ich bin nicht in der Kirche gewesen. Aber ... ich habe für mich allein gebetet ...«, gestand ich mit einem Anflug von Scham.

»Du musst in die Kirche gehen«, beharrte Kotja.

»Meinst du?«

»Unbedingt. Einen anderen Weg sehe ich nicht für dich.«

Darauf blieben wir beide stumm.

»Ich brauche Hilfe, Kotja«, sagte ich schließlich. »Vielleicht sind ja tatsächlich mystische Dinge in Gang? Kennst du nicht einen Parapsychologen?«

»Woher sollte ich den denn kennen?«

»Na ja ... du schreibst in deiner sexfreien Phase schließlich über allerlei phantastisches Zeug ... Kennst einen Haufen Leute ...«

»Was soll das heißen?! Die Leute, die ich kenne, kochen auch nur mit Wasser! Glaubst du etwa, ich gehe bei so einem Pseudomedium vorbei, um anschließend über ihn zu schreiben? Nimmst du womöglich sogar an, ich würde Schäferhunde bumsen, um das danach zu beschreiben? All das entsteht in meinem Kopf, Kirill! All das ist dem Bedürfnis der Leserschaft geschuldet! Es gibt keine echten Übersinnlichen ... zumindest kenne ich sie nicht ...«

»Dann bleibt mir wohl tatsächlich nichts anderes übrig, als in die Kirche zu gehen«, stellte ich fest.

»Wart mal. Ich weiß noch jemanden, an den wir uns wenden können.«

Fragend schaute ich Kotja an.

»Dmitri Melnikow. Was sagst du dazu? Ist das nicht ein guter Gedanke?«

»Was denn? Den kennst du?«, verwunderte ich mich.

»Oh! Jetzt fängt bei dir der Gedächtnisschwund also auch schon an!«, kicherte Kotja. »Ja, den kenne ich. Zwar nicht sehr gut, aber Melnikow ist ein zugänglicher, ein geselliger Mann. Allerdings kostet uns das eine Flasche Kognak.«

Dmitri Melnikow war ein Mann mit einem seltenen Beruf. Bereits seit zwanzig Jahren schrieb er utopische und phantastische Literatur und hatte anscheinend Erfolg in diesem Genre. Zumindest lebte der Experte für außerirdische Monster und russische Vampire in einem modernen Hochhaus im Kutusowski-Prospekt, das mit einem sauberen Aufgang und einem wackeren Großväterchen als Concierge aufwartete, dessen stramme Haltung und stechender Blick auf eine frühere Tätigkeit als Lageraufseher hindeuteten.

Melnikow besaß eine weitläufige und teuer eingerichtete Wohnung, er selbst machte einen durchaus gut situierten Eindruck. Insgeheim hatte ich schon immer geargwöhnt, ein Autor, dessen Helden Armaturen mit den Zähnen verbiegen und mit einem Fußtritt Betonmauern einreißen, würde selbst nicht von sonderlich heroischem Körperbau sein. Melnikow stellte sich denn in der Tat als Mann in mittleren Jahren, von mittlerer Größe und mit mittlerer Schulterbreite heraus - trug dafür aber einen exzeptionellen Bauch vor sich her.

Kotja empfing er gleichsam mit offenen Armen. Auch ich war eines Handschlages des Herrn über die Seelen naiver Jungs und romantischer Mädels würdig.

»Gehen wir in mein Arbeitszimmer, Leute«, schlug er, ganz der unsere, vor. »Wenn ihr wollt, könnt ihr gern Hausschuhe anziehen.«

Irgendwo in den Tiefen der Wohnung klapperte Geschirr, plärrte eine Kinderstimme, belferte ein Hund. Hinter der massiven Tür des Arbeitszimmers trat dann jedoch sofort Stille ein. Hier schnurrte bloß ein neumodischer Player, so ein absolut durchsichtiges Ding, bei dem man beobachten konnte, wie sich die CD dreht und sich Unmengen überflüssiger, vermutlich einzig um des ästhetischen Effekts willen integrierter Leuchtdioden zuzwinkern.

»Und innen drin hat sie eine Neonröhre!«, murmelte ich.

»Oh!« Melnikow musterte mich erfreut. »Wie angenehm, einen gebildeten Menschen zu treffen! Wer erinnert sich denn sonst noch an die Klassiker? Als ich einmal die Strugatzkis ohne Anführungszeichen zitiert habe, sozusagen, um ihnen literarisch Reverenz zu erweisen, hielten die Leser das für meine Worte.«

Selbst ohne dieses alberne Geschwätz war meine Laune schon nicht gerade fabelhaft. »Wenigstens haben die Leser einen guten Geschmack.«

Daraufhin verstummte Melnikow. Offenbar grübelte er darüber nach, ob er die Bemerkung ignorieren oder Kotja und mich rausschmeißen sollte.

Er ignorierte sie. »Zum Geschmack sollte möglichst auch die allgemeine Belesenheit hinzukommen«, murmelte er bloß. »Wie kann man sich nur auf einen einzigen Autor stürzen? Bloß ihn lesen? Selbst wenn dieser Autor ich wäre!«

Kotja kicherte. Er holte aus einer Tüte, die Melnikows Blick ohnehin nicht entgangen war, eine Flasche Kognak.

»Ah ja«, sagte Melnikow. Er öffnete den Schrank, der eine Bar beherbergte, die einiges von einem Ödland trennte. Ihr entnahm er Schwenker, die er auf den Glastisch vorm Sofa stellte. »Soweit ich es verstanden habe, seid ihr nicht nur gekommen, um mit mir ein Gläschen zu trinken«, meinte er nach kurzem Nachdenken.

»Wir sind dringend auf Ihre Hilfe angewiesen«, sagte Kotja. »Kirill ist da in eine merkwürdige Situation hineingeraten ...«

»Ich bin kein Verleger«, wehrte Melnikow rasch ab. »Ich könnte ihm raten, bei wem er einen Roman einreichen soll ...«

»Aber nein, nicht doch, Kirill schreibt nicht.« Kotja fegte den Gedanken gleichsam mit den Händen fort.

Auf Melnikows Gesicht spiegelte sich unverkennbar Erleichterung wider. »Womit kann ich dann helfen?«, wollte er wissen. »Das Einzige, wovon ich wirklich etwas verstehe, ist Literatur. Genauer gesagt, Science Fiction und Fantasy.«

»Kirills Geschichte entbehrt nicht eines gewissen phantastischen Aspekts«, begann Kotja. »Aber was mische ich mich da ein? Kirill kann das selbst erzählen.«

Ohne jede Begeisterung sah mich der Schriftsteller an. Seufzend nahm ich auf dem Sofa Platz, griff nach dem Glas mit dem Kognak und fing an zu erzählen: »Gestern bin ich von der Arbeit nach Hause gekommen. Ich lebe allein ... na ja, fast allein, ich habe einen Hund ...«

Die nächsten fünf Minuten langweilte sich der Schriftsteller ganz unverhohlen. Dann jedoch schlich sich eine leichte Neugier in sein Gesicht.

Frappierenderweise brauchte ich nicht mehr als eine Viertelstunde, um den ereignisreichsten Tag meines Lebens zu schildern.

»Eine gute Geschichte.« Melnikow schenkte sich einen weiteren Kognak ein. »Also ... das ist vermutlich die Fabel Ihres ...«

»Das ist mir wirklich passiert«, widersprach ich mit düsterer Miene. Ich hatte ja vermutet, dass Schriftsteller dieses Genres als Ratgeber nicht die erste Wahl darstellten. Sie glauben noch weniger an Wunder als Prostituierte an die Liebe.

»Dmitri Sergejewitsch, das stimmt alles«, sprang Kotja mir bei.

»Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis«, bat Melnikow.

Ich zuckte mit den Schultern - was sollten ihm meine Papiere nutzen? -, holte meinen Ausweis aber dennoch heraus.

»Meine Güte, Kirill Danilowitsch«, entrüstete sich Melnikow, während er meinen Ausweis inspizierte. »Was um alles in der Welt haben Sie denn mit Ihren Papieren angestellt? In Ihrer Lage ...«

Ich entriss ihm das Dokument und starrte auf die Seite mit dem Foto. Ein stinknormaler Ausweis. Nur ... nur dass die Schrift extrem verblichen war. Und die Fotografie wirkte ebenfalls verblasst. Die Seiten waren vergilbt, mürbe.

»Gestern war er noch völlig in Ordnung«, versicherte ich. »Guck mal!«

Ich hielt Kotja den Ausweis hin. Entsetzt blickte dieser auf die fahlen Schriftreihen.

»Langsam wird die Sache interessant«, bemerkte Melnikow in einem Ton, der mir nicht gefiel. »Geben Sie ihn mir noch mal!«

Abermals musterte er eingehend den Ausweis, blätterte ihn durch und gab einige Laute der Verwunderung von sich.

»Was ist denn?«, wollte ich wissen.

»Wissen Sie eigentlich, Kirill, dass Sie nirgendwo gemeldet sind?«, fragte Melnikow.

Auf der Seite für die Adresse prangte in der Tat Leere. Selbst wenn ich sie unter der hellen Lampe, am Fenster, von der Seite oder gegen das Licht betrachtete - es gab keine Spuren eines Stempels.

»Du bekommst Schwierigkeiten, wenn du nicht in Moskau gemeldet bist«, meinte Kotja seufzend. »Vielleicht kannst du dich vorübergehend anmelden? Schon gut, das war nur Spaß, beruhige dich!«

Mir stand in keiner Weise der Sinn nach Scherzen. Ich steckte den Ausweis in die Tasche zurück und sah Melnikow an

»Soll ich Ihre Erzählung also für blanke Münze nehmen?«, erkundigte sich Melnikow.

Ich nickte.

»Und Sie wollen von mir als ... äh ... als Mensch, der sich verschiedene fiktive Geschichten ausdenkt, einen Rat?«

Abermals nickte ich.

Melnikow lehnte sich im Sofa zurück und bettete einen Ellbogen auf ein ledernes Kissen. Gedankenverloren drehte er den Kognakschwenker in der Hand.

»Wenn ich Strugatzki wäre, A. und B.«, begann er, »dann verhielte es sich wie folgt ... Sie wären ein Mensch, dessen Leben völlig sinnlos ist, den niemand braucht ... Sie müssen entschuldigen, das dient einzig der Veranschaulichung.«

»Schon gut, fahren Sie fort«, bat ich.

»Deshalb würde das Leben selbst, die Realität an sich, dazu ansetzen, Sie aus dem Universum zu löschen. Nach und nach würden all Ihre Spuren getilgt, zunächst sämtliche offizielle Papiere, dann die Erinnerungen von Zufallsbekanntschaften, schließlich die Erinnerungen von Freunden und Verwandten ... Enden würde alles damit ...« Er dachte einen kurzen Moment nach, dann nickte er. »Enden würde alles damit, dass Sie gleichsam zerschmölzen, sich in eine nicht wahrnehmbare und von allen vergessene Geistererscheinung verwandelten. Etwas in der Art wäre vorstellbar.«

»Ich danke Ihnen«, sagte ich, wobei mein Mund mir seltsam trocken vorkam. »Gäbe es noch andere Varianten?«

»Selbstverständlich!«, erklärte Melnikow begeistert. »Wäre ich Globatschow, dann würde ich Außerirdische die Erde erobern lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste würden sie sich einen Vorposten erkämpfen, indem sie einen Menschen aus dem Leben verdrängen, die Erinnerung an ihn löschen, seine Papiere fälschen ... Ihren Platz würde dann ein Agent der feindlichen Zivilisation einnehmen. Enden würde alles damit, dass Sie gegen die Aliens in den Kampf ziehen, heimlich auf ihrem Planeten landen und ihnen die Hölle heiß machen.«

Diese Version stimmte mich schon optimistischer. Freilich vermochten mich meine Fähigkeiten, außerirdische Invasoren einzuschüchtern, nicht gerade zu überzeugen.

»Wenn ich Sarow wäre, der schriftstellernde Held aus Lukianenkos Roman Herbstbesuche«, fuhr Melnikow fort, »dann wären Sie ein kleiner Junge oder naiver Teenager. Eine außerirdische Zivilisation, die, wenn auch nicht gerade freundlich, so doch längst nicht derart bösartig wie bei Globatschow, würde Ihre Standfestigkeit auf die Probe stellen. Sie würden heranreifen und sich im Kampf stählen, schließlich allen die Hölle heiß machen, nebenbei zufällig Allmacht erlangen, auf diese jedoch aus unerfindlichen Gründen verzichten.«

»Das kommt für mich nicht infrage«, gab ich zu bedenken. »Aus Altersgründen. Gibt es noch mehr?«

»Wäre ich Welessow«, sinnierte Melnikow, »dann würde man Sie auf diese Weise auf den Eintritt in eine andere Welt vorbereiten - in der Sie bereits Ihre frühe Kindheit verbracht haben. In dieser Welt gäbe es eine Menge unterschiedlicher Götter, Monster und Zauberer. Sie selbst stammten vermutlich auch aus einem Götter- oder Heldengeschlecht. Und ...«

»... dann würde ich allen die Hölle heiß machen«, vermutete ich. »Um anschließend den mir gebührenden Platz einzunehmen.«

»Richtig. Allerdings würden Sie dann feststellen, dass es noch durchtriebenere Götter gibt. Sie machen sich auf, gegen sie zu kämpfen ...«

»Haben Sie noch weitere Versionen in petto?«, fragte Kotja. Offenbar liebte er dieses literarische Genre, denn jetzt schaute er Melnikow zufrieden lächelnd an.

»Wäre ich Ochotnikow, dann würde ich überhaupt nichts erklären.« Melnikow lächelte schadenfroh. »Jeder, dem es gerade in den Sinn kommt, würde Sie piesacken. Sie würden zunächst sehr lange leiden, dann einsehen, dass Sie Ihr Leben noch einmal von Null anfangen müssen. Daraufhin würden Sie erneut wie gehabt alles erreichen und die Liebe der Frau, die Sie vergessen hatte, zurückgewinnen ...«

»Irgendwie gefällt mir das nicht«, gestand ich.

Kotja grinste.

»Wäre ich Tschudow«, meinte Melnikow mit zusammengekniffenen Augen, »dann wären Sie ein arroganter Fatzke. Ein Intelligenzler, der zwar über ausgefeilte Kenntnisse zur Psychologie seiner Mitmenschen verfügt, sich aber wie ein Armeesergeant verhält. Eine gemeine Frau würde Sie mit der Scheiße aus ihrem Nachttopf übergießen, die Bullen würden lange auf Sie einknüppeln. Bis das Blut spritzt. Aber Ihre Geistesstärke würde all das überwinden.«

Kotja prustete los.

»Wäre ich das Ehepaar Inotschenko ...« Melnikow dachte kurz nach. »... dann würden sich etliche Menschen mit solchen Gemeinheiten konfrontiert sehen, und zwar regelmäßig, alle würden damit rechnen und sich entsprechend vorbereiten. Sie wären vermutlich ein Mädchen oder eine junge Frau. Alles würde traurig, aber optimistisch enden.«

Jetzt brach Kotja lauthals in Gelächter aus. Ich selbst musste unwillkürlich schmunzeln.

»Wäre ich der junge und ehrgeizige Autor Iwan Dingsbumski, dann würde ich die Religion aufs Korn nehmen«, spann Melnikow sein Garn weiter. »Ich würde aus Ihnen zum Beispiel einen modernen Hiob machen, den der Herr in Versuchung führt und mit Leid überhäuft. In dem Fall hielte ich für Sie noch Probleme mit der Gesundheit, der Miliz und dem Verbrechermilieu bereit.«

»Das gefällt mir absolut nicht«, flocht ich ein.

»Wäre ich Dromow, dann bräche plötzlich und in der ganzen Welt eine Epidemie aus, bei der die Menschen aus der Realität getilgt würden. Sie würden beim Geheimdienst arbeiten und dieses Mysterium aufzuklären haben - bis mit Ihnen dasselbe passiert. Ich würde ein paar Erklärungen anbieten, die jedoch nicht allzu überzeugend wären - schließlich geht es ja nicht um die.«

»Und wenn Sie Melnikow wären?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

Melnikow seufzte. »Wenn ich Melnikow wäre ... und schließlich bin ich Melnikow ... dann würde ich kühn einen Roman mit irgendeinem vergleichbaren Plot schreiben. Sie müssen sich vor Augen halten, dass ich auch jetzt meiner Phantasie freien Lauf lasse, verschiedene Varianten entwickle ... und nur um des Vergnügens willen diese Parallelen ziehe.«

»Trotzdem! Was trifft Ihrer Meinung nach am ehesten zu?«

»Nichts von alldem!« Melnikow stürzte den Kognak in einem Zug hinunter. »Ich glaube nicht an diese dämlichen Außerirdischen, an diese Götter und Helden, an geheime Gesetze des Universums, Leiden und ähnlichen Mist! Und weder Welessow noch Dromow oder das Ehepaar Inotschenko glaubt daran! Niemand tut das! Alle Fantasy- und SF-Schriftsteller sind vernünftig denkende Menschen. Sie unterhalten lediglich ihre Leserschaft. Gut ... sie übertragen die Probleme unseres Alltags in einen phantastischen Kontext, aber doch nur, damit die Lektüre interessanter wird. Insofern sind alle Varianten möglich - und gleichermaßen irreal.«

»Aber mit mir geschieht etwas«, beharrte ich. »Ich verstehe ja, dass Sie mir nicht glauben wollen. Es nicht können. Dass Sie es für eine alberne Fopperei halten ... für die Fieberphantasie eines Kranken ... Aber lassen Sie sich doch nur mal einen Moment darauf ein! Was soll ich tun?«

Melnikow grübelte. »Hm ... Für den Anfang ... Sich an die Miliz zu wenden ist zu spät. Man würde Sie wohl vorsichtshalber verhaften, und damit wäre Ihr Schicksal besiegelt ... Halten Sie sich an diejenigen, die sich noch an Sie erinnern. Ihre engen Freunde.« Er sah Kotja an. »Ihre Eltern. Ihre Freundinnen. Lassen Sie es nicht zu, dass sie Sie vergessen. Spielen Sie auf Zeit, schließlich kann sich das Blatt noch wenden ... Was bleibt Ihnen sonst noch? Versuchen Sie, irgendein Schriftstück zu finden. Ihre Geburtsurkunde zum Beispiel. Bescheinungen von x-beliebigen Einrichtungen ... Haben Sie mal in einem Film mitgewirkt? Sind Sie mal im Fernsehen aufgetreten? Gibt es bei ihnen zu Hause Videoaufnahmen von Ihnen? Fotografien? Gehen Sie zum Arzt, lassen Sie eine Patientenakte von sich anlegen. Private Polikliniken werden keinen Ausweis von Ihnen verlangen ... Und gehen Sie in die Kirche! Beten Sie!«

»Vermutlich bleibt mir nur noch das«, sagte ich. »Zu beten.«

»Kirill«, meinte Melnikow, »ich bin bereit, Ihnen zu glauben. Und ich will ganz offen sein: Bei dem Gedanken, Sie könnten sich keinen Scherz erlauben, wird mir angst und bange. Denn wenn Ihnen dergleichen widerfahren kann, dann bin auch ich nicht dagegen gefeit. Aber ich weiß keine Antwort. Ich bin kein Orakel. Ich bin nur ein Schriftsteller. Ich kann mit Ihnen mitleiden, wir können zusammen einen trinken, ich kann Ihnen ein paar alberne Ratschläge geben. Aber damit hat’s sich!«

»Verzeihen Sie, dass wir hier so eingefallen sind«, schaltete sich jetzt Kotja ein, der wohl innerlich spürte, dass die Audienz nunmehr beendet war.

Melnikow erhob sich und schenkte den restlichen Kognak ein. »Ein letztes Gläschen auf den Weg«, sagte er.

Apathisch trank ich mein Glas aus. Wie merkwürdig: Obgleich ich kein Wunder erwartet hatte, packte mich Verzweiflung.

»Berichten Sie mir, wie sich die Dinge weiterentwickeln«, forderte Melnikow mich auf. »Und falls mir noch etwas einfallen sollte, rufe ich ... äh ... Kotja an.«

»Ich habe ein Handy«, teilte ich ihm aus irgendeinem Grund mit. »Schreiben Sie sich doch die Nummer auf.«

»Ja, selbstverständlich.« Allzu hastig sprang Melnikow auf, um auf seinem Schreibtisch nach einem Stück Papier zu angeln und die Nummer aufzukritzeln. Vermutlich würde der Zettel binnen der nächsten halben Stunde im Mülleimer landen.

Der Abschied fiel ein wenig unterkühlt aus. Unter anderen Umständen wäre Melnikow womöglich ein interessanter Gesprächspartner gewesen, und wir hätten mit ihm nicht eine Stunde, sondern den ganzen Abend zusammengesessen. Die Schuld daran trugen ohne Zweifel Kotja und ich: Wir hatten uns an einen Menschen gewandt, der seit ewigen Zeit nicht mehr an Wunder glaubte, und hatten von ihm verlangt, genau das zu tun.

Unter mehrfachen Beteuerungen, wir würden einander ›auf dem Laufenden halten‹, drückten wir uns an der Tür herum, bis Melnikow sie geschickt und irgendwie unbemerkt aufschloss, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als ins Treppenhaus hinauszutreten. Aus den Tiefen der Wohnung drang der unverwechselbare Geruch frisch gebratener Hacksteaks. Der Schriftsteller wurde allmählich nervös.

»Wir telefonieren noch miteinander!«, versicherte Kotja aufgeräumt der sich schließenden Tür, worauf er ein vages »Hmm« erhielt und mich bedripst anschaute.

Ich zuckte bloß mit den Schultern.

»Normalerweise ist er nicht so kurz angebunden«, brummte Kotja. »Er ist sogar ganz gesellig. Ich habe eigentlich angenommen, wir würden länger bei ihm bleiben.«

»Prostituierte glauben an die Liebe«, sagte ich.

»Wie bitte?« Kotja drückte den Fahrstuhlknopf. »Was für Prostituierte? Also, nicht dass ich was gegen sie hätte ...«

»Diese Schriftsteller glauben noch weniger an ein Wunder als Prostituierte an die Liebe. Das ist mir eben bei Melnikow durch den Kopf gegangen. Dabei glauben Prostituierte an die Liebe. Insgeheim zwar und ohne ein Wort darüber zu verlieren, aber sie glauben daran. Sie träumen davon, dass es noch etwas anderes als verschwitzte dicke Männer gibt, die Sex für Geld nötig haben. Sie träumen davon und fürchten sich, daran zu glauben. Dein Melnikow dagegen ... Im Grunde will er ja, dass es das alles gibt, die Wunder, die Aliens und die Parallelwelten. Dass das nicht nur das Einwickelpapier für den Bonbon, sondern der Bonbon selbst ist ... die bunten Drops im Döschen. Aber er hat Angst, daran zu glauben! Für ihn ist es viel leichter, sich einzureden, ich sei ein Schwindler oder Irrer. Jetzt wird er nach dem Hacksteak einen Wodka trinken, sich den Hinterkopf kratzen und schließlich eine Geschichte über heimtückische Außerirdische schreiben.«

»Wie du die Sache auf den Punkt bringst!«, rief Kotja begeistert aus. Er trommelte mit den Fingern auf den Fahrstuhlknopf. »Das mit den Prostituierten, das gefällt mir!«

»Bau es in eine Geschichte ein«, schlug ich ihm vor. »Lass uns zu Fuß gehen, der Fahrstuhl ist kaputt.«

»Von wegen kaputt! Das Drahtseil bewegt sich doch!«

Ich winkte ab und nahm die Treppe.

»Elf Stockwerke zu Fuß?«, empörte sich Kotja. »Wir werden ja sehen, wer schneller ist!«

Ich hatte gerade den sechsten Stock erreicht, als der Fahrstuhl nach oben fuhr. Ihm folgte ein zweiter. Ich legte einen Zahn zu, doch etwa im dritten Stock überholte mich der hinunterfahrende Aufzug.

Letzten Endes haben die Faulen doch die Nase vorn ...

Zwei Stufen auf einmal nehmend, kam ich unten an. Kotja wollte gerade zur Haustür hinausschlüpfen.

»Hey, warte doch!«, schrie ich. »Wo willst du denn hin?«

Kotja erstarrte in der Haustür und schielte zu dem Zeitung lesenden Concierge hinüber. Ich machte ein paar Schritt auf ihn zu - und blieb stehen.

Kotja sah mich mit leerem, fremdem Blick an.

»Kotja?«, sprach ich ihn an.

»Ja?«, fragte Kotja hüstelnd.

»Was ist? Erkennst du mich nicht mehr?«

»Äh ...«, druckste Kotja. Abermals linste er zum Concierge hinüber.

»Haben die jungen Herren irgendwelche Probleme?«, fragte dieser argwöhnisch.

»Nein, überhaupt nicht«, antwortete ich, während ich, mich an Kotja vorbeischlängelnd, nach draußen ging. »Es ist alles in Ordnung!«

»Wo kommen Sie eigentlich her?«, schrie der Concierge mir nach.

Ich gab keine Antwort. Ich blieb stehen und wartete, bis Kotja unsicher aus dem Haus trat. Er hatte zwar keine Angst, war aber merklich nervös.

»Kotja?«, sagte ich noch einmal. »Kostja?«

»Ich erinnere mich nicht an ... an Sie«, erklärte Kotja aufrichtig und entspannte sich ein wenig. »Sind Sie ein Bekannter von Melnikow?«

»So gesehen, ja«, antwortete ich. »Ein Bekannter. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich?«

Kotja schüttelte den Kopf. »Was ist denn passiert?«, fragte er.

»Du ... Sie haben doch eben Melnikow besucht, oder?«, kapitulierte ich.

Kotja nickte.

»Ist er zu Hause?«

»Ja, natürlich.« Unbehaglich trat Kotja von einem Fuß auf den anderen. »Sie wollen also zu Melnikow? Entschuldigen Sie, Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich bringe Sie einfach nicht unter ...«

»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, beruhigte ich ihn. »Ich habe so ein Allerweltsgesicht, das prägt sich niemand ein.«

»Gut, dann gehe ich jetzt mal ...« Kotja machte einen Schritt, lugte noch einmal zu mir her, als wolle er etwas sagen, schüttelte dann jedoch bloß den Kopf und wandte sich ab.

Ich holte meine Zigaretten heraus und zündete mir eine an. Der Rauch war süß und bitter zugleich. Hinter dem kleinen Glasfenster in der Eingangstür tauchte das Gesicht des Concierge auf. Das wackere Großväterchen war auf der Hut. Fehlte bloß noch, dass er die Miliz holte!

Erneut versenkte ich eine Hand in die Tasche, diesmal um meinen Ausweis herauszuholen. Ich schlug ihn auf. Die mürben Seiten zerfielen in meinen Händen, das Foto löste sich mit einem Schnalzen und segelte auf den Asphalt. Als ich es aufhob, vermochte ich in dem grauen Quadrat mein Gesicht schon nicht mehr zu erkennen.

Mir war kalt. Immerhin hatten wir schon Herbst. Und der Winter versprach streng zu werden ...

»Also gut«, grummelte ich, als wollte ich jemandem drohen oder einen Plan schmieden. »Also gut? Also gut!«

Erstens: Wunder gibt es nicht.

Zweitens: Ausnahmen schon, aber nur bei bösartigen Wundern.

Doch wenn die Zeit der bösartigen Wunder gekommen ist, dann hat es keinen Zweck, ein guter Mensch zu bleiben.

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