Fünfzehn

Kinder verfügen über zwei Möglichkeiten der Fortbewegung, deren eine die meisten Erwachsenen eingebüßt haben. Die erste besteht im Trödeln und Bummeln. Die zweite in einem rennenden Gehopse. In der Regel wählt ein normales Kind die erste Form auf dem Weg zur Schule, die zweite auf dem Rückweg.

Bei Erwachsenen, wie nicht schwer zu erraten ist, verliert sich die zweite Möglichkeit.

Man kann darüber spekulieren, warum das so ist. Man kann ein paar kluge und geistreiche Bemerkungen über die Beweglichkeit der Gelenke und das Verhältnis von Körpergewicht und Muskelkraft fallen lassen. Man kann beim Gedanken an die Last der verlebten Jahre seufzen. Man kann etwas Hochtrabendes über die Reinheit der Seele, die zum Himmel strebt, und die begangenen Sünden, die uns an die Erde fesseln, vorbringen. All das wird zutreffen.

Nur ändert der Umstand, ob du Romantiker oder Pragmatiker bist, nichts am Resultat. Niemals wirst du rennend über eine grüne Wiese hopsen, wenn du dem Kindesalter entwachsen, aber dem Altersschwachsinn noch nicht anheimgefallen bist.

Ich aber hatte Lust, zu hopsen und zu rennen. Außerdem wollte ich lachen, springen, mich im grünen Gras wälzen, mein Gesicht in die Sonne halten, mich mit ausgestreckten Armen hinlegen und in den blauen Himmel schauen, bis die Welt sich einmal gedreht hatte und man sich wie Atlas vorkommt, der auf seinem Rücken die weiche, elastische Erdkugel trägt - sie trägt und mit ihr ins unendliche reine Blau fällt. Mehr als alles andere wollte ich jedoch rennen.

Das tat ich dann auch. Mit dem Sport verband mich ein herzliches, aber kein enges Verhältnis. Früher wäre es mir nie in den Sinn gekommen, so zu rennen - nämlich nicht einem abfahrenden Autobus nach, nicht in ein Geschäft kurz vor Ladenschluss hinein, nicht hinter jemandem her oder vor jemandem weg, sondern einfach so. Und ich hätte es auch nicht geschafft. Jetzt lief ich einen Kilometer oder zwei, bevor ich begriff, dass mein Organismus überhaupt nicht auf diese körperliche Ertüchtigung reagierte. Selbst mein Atem ging nicht schneller. Wenn mir jemand den Puls gemessen hätte, wäre vermutlich keine Veränderung festzustellen gewesen. Meine Bewegungen waren geschmeidig und koordiniert, ich spürte, wie sich jeder einzelne Muskel beugte, das Blut durch meine Adern rauschte, die Nerven Impulse aussandten, die meine Beine zu ihren Bewegungen veranlassten. Mein ganzer Körper hatte sich in eine großartige, faszinierende Maschine verwandelt.

Voller Bedauern zwang ich mich dazu, mein Tempo zu verlangsamen. Ich hielt auf einen Baum zu, der mich bereits vom Turm aus mit seinen knalligen Farben frappiert hatte.

Ein ganz normaler Baum. Ein Apfelbaum. Mit durchaus gewöhnlichen Blüten. Aber wie viel Schönheit verbarg sich in dieser Profanität, wie zart schimmerten die weißen und rosafarbenen Blütenblätter, wie erstaunlich flaumig war ihr Rand! Und was für ein liebliches, betörendes Aroma jede einzelne Blüte verströmte!

Als ich über einen Zweig fuhr, schluchzte ich vor Rührung sogar auf. »Es blüht der Apfelbaum - was für ein Wunder ...«, intonierte ich mit einer Stimme, die innerer Aufruhr zittern ließ.

An die nächsten Zeilen erinnerte ich mich nicht mehr. Schade. Denn ich wollte singen. Lachen. Rennen. Mit Blumen werfen. Beobachten, wie eine Raupe über ein Blatt kriecht. So ein flaumiges Ding, das an den Kopf eines Neugeborenen erinnert, so ein grünliches Etwas mit weißen Punkten, ganz wie eine frische Gurke, das bei jeder Bewegung den Rücken wölbt, dass es lustig anzusehen ist. Eine wunderbare Raupe! Zulächeln wollte ich ihr - worauf sie mit einer weiteren komisch anmutenden Verbiegung reagieren würde, mit der sie sich in einen Smiley verwandelte, dieses Computerzeichen des Lächelns. Vermutlich könnte ich mit ihr sogar kommunizieren!

Da tat ich etwas Seltsames! Aus unerfindlichen Gründen hob ich die Hand, um mir eine Ohrfeige zu verpassen. Als sei ich eine junge Frau, die einen hysterischen Anfall erlitt. Einmal hatte ich dergleichen gesehen. Die heilende Kraft einer schlichten Schelle war ganz erstaunlich gewesen.

Nun durfte ich mich davon überzeugen, dass dieses therapeutische Mittel keinem Geschlecht den Vorzug gab. Die Ohrfeige wirkte bei mir nicht weniger ernüchternd als bei der aufgelösten Frau, die sich mit ihrem Freund gestritten hatte. Ich atmete tief durch, stieß einen Fluch aus und blickte mich noch einmal um.

Das, was mir eben passiert war, irritierte mich. Es war unnormal. Gewiss, vor mir lag eine phantastische Landschaft. Gewiss, über mir hing ein klarer Himmel. Gewiss, die Bäume, Blumen, das Gras ...

Dennoch war das kein Grund, von jedem Krabbeltierchen gerührt zu sein!

Doch die Euphorie wich von einer Sekunde zur nächsten. Ich wusste nicht einmal, womit ich das vergleichen sollte. Mit der Ausnüchterung eines Betrunkenen, der seinen Kopf unter kaltes Wasser hält? Nun ja, falls kaltes Wasser diesen Effekt haben sollte ... In phantastischen Romanen begegnet dir dergleichen mitunter: Der Held feiert und trinkt die ganze Nacht, dann schluckt er eine Tablette und fühlt sich einfach wunderbar. Anscheinend träumen alle Schriftsteller genau davon: von einem Rausch ohne Kater. Aber ich hatte ja gar keine Tabletten geschluckt ...

Wozu auch? Wenn meine Wunden im Nu verheilen? Schließlich war ich ein Funktional, dem ein schönes Repertoire an wunderbaren Fähigkeiten zur Verfügung stand. Die entscheidende dürfte dabei wohl die sein, dass ich nur in eine bestimmte Situation geraten musste - und schon wurden die notwendigen Fertigkeiten aktiviert!

Eben musste etwas in der Art passiert sein.

Nun sah ich mich mit anderen Augen um. Die idyllische Landschaft entzückte mich nicht länger. Später Frühling oder früher Sommer, dazu ein normaler Apfelgarten, nur sehr verwildert.

Was war mit mir los gewesen?

Wolkows Märchen vom Zauberer aus der Smaragdenstadt fiel mir wieder ein, die Stelle, als die kleine Elli mit ihrer bunt zusammengewürfelten Gefolgschaft zu einem Mohnfeld gelangt und die Düfte inhaliert, dieser minderjährige Junkie. Nebenbei bemerkt hegte ich bereits an der Wirkung von Mohndüften ernstliche Zweifel, und unschuldige Apfelbäume hätte ich nie und nimmer verdächtigt, eine berauschende Wirkung zu haben. Sicher, die Japaner geraten beim Anblick blühender Zierkirschen in Verzückung, doch sind die Gründe dafür nicht pharmakologischer, sondern ästhetischer Art. Von diesem Garten hier wäre nicht einmal unser russischer Botaniker Mitschurin enthusiasmiert gewesen. Er hätte einfach sein Gartenmesser herausgeholt und sich darangemacht, die Bäume zurechtzustutzen ...

Gut, ließ ich es mit den Äpfeln vorerst ihr Bewenden haben. Was gab es sonst noch? Die Luft. Damit kam ich der Sache schon näher ... Konnte eine überhöhte Sauerstoffkonzentration eine solche Wirkung haben? Eventuell schon. Das Stickoxidul sollte ich ebenfalls nicht außen vor lassen, schließlich wird es auch Lachgas genannt. Allerdings entsteht Stickoxidul nicht auf natürlichem Wege. Ganz im Gegensatz zu einer erhöhten Sauerstoffkonzentration in der Luft. In der Welt Kimgim gibt es kein Öl - auch das ein entscheidender Unterschied zur Erde, ein Unterschied von planetarischem Maßstab gar.

Abermals bedauerte ich, Kotja nicht bei mir zu haben. Er hätte sofort ein paar Hypothesen zur Hand gehabt, Experimente durchgeführt ... Selbst wenn er nichts herausgekriegt hätte, allein sein brodelnder Eifer hätte mich optimistisch gestimmt. Es gibt ja diesen Typ Mensch, der in angespannten Situationen beginnt, eine Unzahl kleiner Handlungen auszuführen. Den Puls eines Opfers zu messen, intensiv in die vorbeiziehenden Wolken zu starren, aufmerksam die Ausweise der Milizionäre zu studieren, verschiedene Telefonate zu führen und seltsame Fragen zu stellen ... In der Regel haben diese Aktionen nicht den geringsten praktischen Nutzen. Dafür beruhigen sich alle Übrigen ein wenig, sie fangen an sich zu konzentrieren und andere Maßnahmen einzuleiten, die - geringer in der Zahl und nicht derart auf den Effekt angelegt - entschieden wirkungsvoller sind.

Ein Experiment konnte ich freilich auch selbst durchführen.

Ich holte meine Zigaretten und das Feuerzeug aus der Tasche und drückte es, wobei ich das Ding vorsichtshalber mit ausgestrecktem Arm weit von mir hielt.

Von einer Feuergarbe zu sprechen ginge zu weit. Allerdings sah das Feuer anders aus. Es brannte heller, die Flamme erhob sich gleichmäßig und rein.

Lag es also doch am Sauerstoff?

Möglicherweise kam er zumindest als einer der Gründe in Frage ...

Seufzend und ohne mir eine anzuzünden steckte ich die Zigaretten wieder weg. Natürlich könnte ich mit einem hermetischen Gefäß zurückkommen und eine Probe der Luft entnehmen ... Die könnte ich dann in Moskau analysieren lassen. Da würde man mir alles haarklein erklären, mir Tabellen, Grafiken und Diagramme vorlegen ...

Brauchte ich das?

Letzten Endes lief doch alles immer wieder auf ein und denselben Schluss hinaus. Diese Welt war entweder für Funktionale oder für Menschen geschaffen, die dem Konsum von Drogen zuneigten. Möglicherweise wären der Rapper und seine Leute nur zu gern hierhergekommen. Oder solide Onkels mit Abgeordnetenzeichen am Revers. Lieder würden sie dann singen und nackt im Mondschein tanzen.

In mir festigte sich der Eindruck, in eine Welt geraten zu sein, die absolut niemand brauchte. Kein schönes Gefühl, wenn ich ehrlich sein sollte. Für Kimgim und Erde-17 hatte ich aufrichtiges Lob eingeheimst ... Mit einem Mal begriff ich, dass meine Zukunft, sobald sich die fünfte und letzte Tür öffnete, besiegelt sein würde. Vier Welten (unsere Erde eingeschlossen) standen mir bereits zur Verfügung, in denen ich mich mit einem Radius von zehn Kilometern bewegen konnte. Was ergab das für eine Fläche? Pi mal r zum Quadrat ... Etwas in der Art. Mit der Geometrie hatte ich immer meine Schwierigkeiten gehabt. Aber runde dreihundert Quadratkilometer dürften mir in jeder Welt offen stehen. Insgesamt anderthalb Tausend Quadratkilometer.

Verglichen mit einer Gefängniszelle bedeutete das ein riesiges Gelände.

Verglichen mit Moskau sah die Sache schon anders aus. Die Stadt, das hatte sich mir in der Schule unauslöschlich eingeprägt, nahm eine Fläche von tausend Quadratkilometern ein.

Na schön, auf alle Fälle musste ich dieses Apfelreich gründlich erforschen ...

Zwanzig Minuten lang entfernte ich mich munteren Schrittes vom Turm, wobei ich mich immer mal wieder umdrehte. Verirren würde ich mich schwerlich. Mir war inzwischen klar geworden, dass ich den Turm sehr deutlich spürte, gleichsam als sei er ein Teil meines eigenen Körpers.

Der Garten behielt ungebrochen sein verwildertes und ungepflegtes Flair bei. Trotzdem ähnelte das Ganze einem Garten. Der Abstand zwischen den Bäumen war stets mehr oder weniger der gleiche. Die einzelnen Apfelsorten ließen sich klar voneinander unterscheiden, sie hatten sogar andere Farben. Außerdem standen die Bäume nicht in Gruppen zusammen, wie es ja die alte Weisheit, der Apfel fiele nicht weit vom Stamm, nahelegen würde. Nein, die einzelnen Sorten waren in Reihen angepflanzt, in sehr achtlosen, zugegeben, aber dennoch ... Insofern keimte in mir die schwache Hoffnung auf, in dieser Welt könnten doch Menschen leben.

Tatsächlich durfte ich mich ein paar Minuten später davon überzeugen. In der Luft hing plötzlich Essensgeruch. Ich rannte los, allerdings nicht in dieser ausgelassenen, sorglosen Weise, mit der ich in diese Welt gestürmt war, sondern eher in der entschlossen Art von Zei. Durch die Bäume hindurch schimmerte eine Wasserfläche, ein ruhiger, nicht sehr breiter Fluss. Ich lief zu ihm und blieb stehen.

Am anderen Ufer lag ein Dorf.

Selbst wenn man mir ein Bein ausriss: Das war eines von uns, eines von der Erde, das war ein russisches Dorf. In seiner schlechtesten Variante, eines, das die Patrioten ihr Geschrei von den Machenschaften des Feindes anstimmen ließ, während etwas vernünftiger denkende Menschen Projekte wie etwa die Suche nach einer nationalen Idee initiierten.

Kleine Holzhütten, schmutzige Fensterscheiben, schiefe graue Lattenzäune - all das strahlte jene jämmerliche Tristesse aus, die im Frühling in russischen Dörfern herrscht. In kargen Gemüsegärten wuchsen nur braune oder fahle Mohrrüben, die auf Leinen hängende Wäsche zeigte denselben staubfarbenen Ton. Zwischen den Häusern huschten magere bunte Hühner herum, die etwas im Staubboden suchten.

Ich selbst bin ein Städter. Solche Dörfer sehe ich normalerweise aus dem Fenster eines Zuges heraus, der einen gut situierten Moskauer nach Piter oder Jekaterinburg bringt. Immer tröste ich mich dabei mit dem Gedanken, solche Dörfer existierten nur entlang der Eisenbahnstrecken, in der Nähe der großen Städte, in die die Jugend, kaum hält sie einen Pass in Händen, flieht. Ansonsten gäbe es natürlich richtige Dörfer, wie sie aus dem Heimatkundelehrbuch bekannt sind. Mit ordentlichen Häusern, erbaut aus Ziegelstein oder Holz, gepflegten Vorgärten und geschnitzten Fensterrahmen ... Irgendwo musste es sie geben. Im Kubangebiet. Oder in Sibirien.

Hier hingegen drückte das triste Grau allem seinen Stempel auf, zumal vor dem grellen Hintergrund und der blühenden Natur.

Auch Menschen lebten hier. Am anderen Ufer des kleinen Flusses saß eine Gruppe von Männern und kleinen Jungen mit Angeln. Die Kinder waren sehr jung, hatten das Schulalter noch nicht erreicht. Aus irgendeinem Grund fiel mir das sofort auf, dieser Altersunterschied, denn beim Angeln erwartet man doch eigentlich Erwachsene und Jugendliche, aber keine Kleinkinder, die noch nicht mal in der Lage sind, eine Angel richtig in den Händen zu halten.

Außerdem lächelten sie durch die Bank. Sie unterhielten sich leise über etwas, indem sie sich Einwortsätze zuwarfen. »Fang!«, drang es zu mir herüber, »Aha!«, »Deiner!« und »Ja!« Als wollten diese Menschen sich nicht mit komplizierten Wörtern abmühen. Oder als könnten sie es nicht.

Ich setzte mich ihnen gegenüber ans Ufer. Mein Erscheinen nahmen die Angler gleichmütig hin, ja, sie interessierten sich kaum dafür. Hier und da lächelte jemand, mancher winkte mir munter zu. Aber das war’s auch schon.

Abermals holte ich meine Zigaretten heraus, zündete mir eine an und stierte aufmerksam zu den Anglern hinüber. Das waren Menschen von uns. Sie alle waren durchweg von der Erde. Nicht von hier und auch nicht aus Kimgim.

»Nein, Dima«, murmelte ich. »Ich glaube, diese Welt taugt nicht als neue nationale Idee. Und ich hoffe inständig, dass es nicht Arkan ist. Dass es nicht Russland im Jahre 2040 ist ...«

Einer der Angler erhob sich, sah mich an und legte seine Angel weg. Dann watete er ins Wasser - ohne sich auszuziehen oder die Schuhe abzulegen, ja, selbst die Hose krempelte er nicht hoch. Bis zur Mitte des Flusses lief er, dann schwamm er fünf Meter, um schließlich, abermals durch das flache Wasser stakend, auf mich zuzuhalten.

Das war doch immerhin eine Reaktion!

Ohne auf das an ihm heruntertriefende Wasser zu achten, trat der Mann an mich heran und ließ sich ins Gras plumpsen. Er lächelte mich gutmütig an. Obwohl er bereits einiges über vierzig gewesen sein dürfte, sah er muskulös, gesund und völlig zufrieden aus.

»Guten Tag, Jungchen!«

»Guten Tag, Onkelchen«, erwiderte ich.

Was sollte dieses Onkelchen? Wie kam ich darauf? Nur wegen des ›Jungchens‹? Der Mann nahm mir die Anrede jedoch nicht übel. »Hast wohl nichts zu rauchen?«, fragte er.

»Wieso nicht? Natürlich hab ich«, ging ich auf seinen Ton ein. Ich hielt ihm die Zigaretten hin. Der Mann zündete sich eine an, zwei weitere steckte er sich, mit einem Blick meine Zustimmung einholend, in die Tasche seines Hemds. Die immer noch feucht war. Ich zuckte bloß mit den Achseln.

»Mmh ...«, sagte der Mann, indem er den Rauch glückstrahlend ausstieß. »Ich heiße Sascha. Onkel Saschko.«

»Und ich bin Kirill.« Ich verkniff mir jeden ironischen Ton. Ein ganz gewöhnlicher Onkel.

»Kommst du von weit her, Kirill?«

»Nein.« Vage deutete ich mit der Hand in Richtung Turm. »Nicht von sehr weit.«

»Ist etwa ein neuer Durchgang da?«, freute sich der Mann. »Herrlich! Woher bist du?«

»Aus Moskau.«

»Und ich aus Poltawa.«

Mit dieser Mitteilung schienen alle Gesprächsthemen erschöpft, denn Onkel Saschko streckte sich nun im Gras aus, die Zigarette immer noch zwischen die Zähne geklemmt.

»Und lebst du schon lange hier, Onkel Saschko?«, wollte ich wissen.

»Tja ...« Er antwortete nicht gleich, sondern ließ die Zigarette von einem Mundwinkel zum anderen wandern. »Zwei Jährchen. Oder drei. Wann hat man den Gorbatsch abgesägt?«

»Meinst du Gorbatschow?«, fragte ich erstaunt. »Den Präsidenten der UdSSR?«

»Genau den!«

»Aber das ist doch schon zehn ... nein, was rede ich denn da, das ist schon fünfzehn Jahre her. Ich erinnere mich nicht mal mehr richtig an ihn«, gestand ich aus irgendeinem Grund.

»Fünfzehn? Oho!«, entzückte sich Saschko. Doch damit erlahmte sein Interesse an der Zeit, die er außerhalb der Erde zugebracht hatte, auch schon wieder. Er schob die Hände unter den Kopf und zog voller Vergnügen an seiner Zigarette, bevor er die Kippe mit meisterhafter Vollendung Richtung Fluss ausspuckte.

»Leben hier viele Menschen?«, erkundigte ich mich.

»Jetzt schon«, gab Saschko bereitwillig Auskunft. »Aber am Anfang war ich ganz allein ... Na ja, nicht allein, mit ein paar Kumpeln ... Nach und nach kamen mehr Leutchen her.«

»Und wie seid ihr hierhergelangt?«

»Na ja, wie’s so kommt ...« Saschko stieß einen Seufzer aus, der jedoch nicht verzweifelt klang, sondern einfach dazuzugehören schien. »Hab mich mit einem Burschen beharkt ... so einem Neunmalklugen! Ich hau ihm eins aufs Auge, kassiere von ihm die entsprechende Antwort. Hätte dann Ruhe geben sollen ... aber nein, ich bin ihm nach ... Na ja, hab ihn auch gekriegt ... Der hatte ein komisches kleines Haus. Hundert Mal war ich schon dran vorbeigegangen, ohne es zu bemerken. Bin dann nachts mit zwei Kumpeln wieder hin. Komm jetzt ja nicht auf falsche Gedanken! Wir wollten ihm bloß’ne ordentliche Abreibung verpassen! Gut, wir hatten Eisenstangen dabei ... haben ja gesehen, dass der was aufm Kasten hatte ...«

Saschko verstummte. Ich nickte, auf jede weitere Präzisierung verzichtend. Selbstverständlich vermochten die drei Schwachöpfe nicht einmal bewaffnet etwas gegen ein Funktional auszurichten, zu dessen Fähigkeiten auch der Faustkampf gehörte. Das ist etwas anderes, als eine halb verrückte Alte zu fesseln.

Und dann hatte man sie hierher verfrachtet ...

»Wie heißt diese Welt?«, fragte ich.

»Nirwana«, antwortete Saschko bereitwillig.

Ich erhob mich und schaute noch einmal zu dem armseligen Dorf samt seinen zufriedenen Einwohnern hinüber. Aus einem der Häuser trat eine dicke rotblonde Bauersfrau heraus, die mit kehliger Stimme etwas für meine Ohren nicht allzu Verständliches rief. Erst nach einer Weile begriff ich, dass sie gar kein Russisch sprach, sondern Norwegisch oder Schwedisch. Schließlich stand einer der Angler auf, schnappte sich das neben ihm sitzende Kind von drei oder vier Jahren, setzte es sich auf die Schultern und marschierte zum Haus.

Zu meinem Erstaunen scherte er sich in keiner Weise um das Schicksal seiner Angel. Er ließ sie einfach am Ufer liegen, wobei die Schnur im Wasser schlingerte.

Dergleichen musste sehr bequem sein, keine Frage! Nicht ganz mit einem Gefängnis zu vergleichen. Und auch nicht mit einer Irrenanstalt. Eine knallbunte, gemütliche, gefahrlose Welt, in der aus einer Laune der Natur heraus ein Mensch in den Zustand leichter Euphorie gerät. Kam jemand einem Funktional in die Quere, brauchte man ihn nicht umzubringen oder einzuschüchtern. Man kassierte ihn einfach ein und lieferte ihn in Nirwana ab - von wo er aus freien Stücken nie wieder fort wollte. Um der Menschlichkeit Genüge zu tun, stellte man sogar kleine Fertighäuschen bereit (ich war mir sicher, dass Onkel Saschko und seine Kameraden sich darum nicht selbst gekümmert hatten), pflanzte Apfelbäume ... Am anderen Ufer des Flusses schienen Kartoffeläcker zu liegen. Im Fluss gab es Fische. Die Hühner legten Eier. Was brauchte man sonst noch zum Leben?

Sollte etwas fehlen, würde man es ihnen zur Verfügung stellen, daran hegte ich keinen Zweifel. Seien es nun Aspirin und Antibiotika oder Kleidung. Vermutlich versorgte man sie sogar mit Milchpulver für die Kinder ...

Nun begriff ich auch, warum im Dorf ausschließlich Erwachsene oder kleine Kinder lebten. Die Besiedlung Nirwanas im großen Maßstab musste vor sieben oder acht Jahren begonnen haben. Danach kamen die Kinder zur Welt (die Euphorie erstickt offensichtlich nicht jedes Verlangen), die aber noch nicht herangewachsen waren.

Tadel würde ich mir für diese Welt vermutlich keine einfangen. Sie dürfte maßgeschneidert für die Bedürfnisse der Funktionale sein.

Aber warum? Warum hatte ich einen Durchgang ausgerechnet in diese Welt geöffnet?

Und plötzlich wusste ich ganz genau, warum. Hatte ich denn nicht die Zukunft Russlands sehen wollen? Und war es etwa meine Schuld, dass in meinem Bewusstsein nun mal folgendes Bild abgespeichert war: apathische Drogenabhängige, die lustlos in der Erde herumstochern, sich nicht weniger lustlos fortpflanzten und ein absolutes Desinteresse an den Tag legen?

Der Politiker hatte mich überzeugt, die Tür nach Arkan zu öffnen. Dabei hatte er jedoch so viel über die Zukunft Russlands gesprochen, dass ich im Traum genau die Welt ›gefunden‹ hatte, die meinen Vorstellungen von dieser Zukunft am nächsten kam. Hätte ich an kristallene Städte und Marmorpaläste geglaubt, wäre ich möglicherweise in die entsprechende Welt geraten.

Worte sind tückisch. Wenn du dein Gegenüber nicht richtig verstehst, dann kannst du dich drehen und wenden, wie du willst, der erste - der falsche - Gedanke hakt sich in deinem Unterbewusstsein fest.

»Wo kommen denn die Leute her, Onkel Saschko?«, fragte ich.

»Vom Oberlauf des Flusses«, teilte mir der ehemalige Poltawer mit. »Da gibt’s’nen Durchgang. Ganz in der Nähe, ein halbes Stündchen von hier.«

»Aha.« Ich dachte kurz nach, holte dann das Päckchen Zigaretten heraus und gab ihm noch ein paar. »Vielen Dank. Sag, Onkel Saschko, willst du denn nicht nach Poltawa zurückkehren?«

»Was hab ich da verloren?« Die Verwunderung des Mannes war unverfälscht. »Soll ich wieder nur Wurst auf Lebensmittelkarten kriegen? Oder ein Hühnchen zu den Feiertagen?«

Die Erklärung, dass Karten für Wurst ebenso lange der Vergangenheit angehörten wie der ehemalige Generalsekretär Gorbatschow, sparte ich mir. Was wusste ich denn, wie man heutzutage in Poltawa lebte? Geschweige denn, wie Onkel Saschko dort zurechtkommen würde, nachdem er fünfzehn Jahre in diesem Paradies für Kiffer zugebracht hatte?

»Bleib doch«, forderte Saschko mich auf. »Iss mit uns, meine Frau hat heute Morgen Borschtsch mit Huhn aufgesetzt.«

Klar, natürlich. Wo es hier Männer und Frauen gibt, wäre es absurd, von ihnen ein Mönchsdasein zu erwarten. Familien entstanden, Kinder kamen zur Welt. Vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge. Das spielte keine Rolle.

»Vielen Dank. Aber ich brech jetzt auf.«

»Wie du willst.« Onkel Saschko erhob sich und klopfte den an seinem Hemd klebenden Sand ab. »Besuch uns mal. Ist doch schön hier, oder? So schön - da willst du nicht mal einen heben!«

Doch auch dieses Argument stimmte mich nicht um. Denn ich wollte zu gern mit meinem hiesigen Nachbarn, dem Funktional, sprechen.

Angesichts der zeitlichen Desorientierung, die im Kopf von Onkel Saschko herrschte, vermutete ich, mich erwarte ein mehrstündiger Fußweg. Aber die Entfernung betrug nicht mehr als drei Kilometer, also tatsächlich nur eine halbe Stunde im gemächlichen Schritt eines Touristen. Das linke Ufer säumten saftige grüne Wiesen, am rechten, an dem ich entlangging, zog sich nach wie vor der verwilderte Apfelgarten hin.

Mein Kollege, der Zöllner, lebte auf dem Fluss. Und zwar wirklich auf dem Fluss. Diesen teilte nämlich ein kleines Wehr, in dessen Mitte ein Wasserrad aufragte, das vielleicht doppelt so groß war wie ein Mensch. Und über dem Wehr und dem Rad erhob sich, auf dicken Holzbalken ruhend, etwas, bei dem es sich vermutlich um eine Mühle handelte. Auf jeden Fall verband ein Keilriemengetriebe das Wasserrad und diese Konstruktion, in deren Innerm sich etwas drehte und krachte. Schmale Holzbrücken, zwischen deren Brettern deutliche Spalten klafften, führten zu beiden Uferseiten. Die Tür, zumindest die zum rechten Ufer, stand offen. Dahinter tanzten rote Lichtreflexe, gleichsam als brenne ein Feuer.

Übrigens brannte dort in der Tat ein Feuer, denn leichter Rauch stieg zum Himmel auf.

»He, Nachbar!«, schrie ich, während ich vor der Brücke haltmachte. Aus irgendeinem Grund spürte ich, dass ich sie besser nicht ohne Erlaubnis betrat. Das wäre unhöflich. »Was macht die Mühle? Klappert sie?«

Ein freundliches Gelächter erklang. Schließlich erschien mein Kollege vom Zoll in der Tür. Eine hochgewachsene, breitschultrige Frau in Lederhosen und einer derben Lederschürze um den nackten Körper. Unwillkürlich wandte ich den Blick ab und konzentrierte mich ausschließlich auf ihr Gesicht. Die hellbraunen Haare waren zu einem strammen Knoten hochgesteckt und mit einem, hm, ich würde sagen, mit einem Band, aber nicht aus Stoff, sondern aus winzigen silbernen Kettengliedern umwickelt. Die Frau hielt eine massive Metallzange in der Hand, zwischen der ein rotglühend erhitztes Stück Metall steckte.

»Hallo, Nachbar!«, begrüßte sie mich. »Schon seit heute Morgen habe ich gespürt, dass eine neue Tür aufgegangen ist. Die ganze Zeit über habe ich auf dich gewartet. Allerdings klappert hier keine Mühle, so leid es mir tut. Das ist eine Schmiede.«

»Dann bitte ich vielmals um Entschuldigung ...« Ich wusste nicht einmal, was mich stärker in Verlegenheit brachte, mein Irrtum oder der Anblick dieser ... wie nannte man eine wie sie? Schmiedin?

»Ich bin Schmied«, sagte die Frau lächelnd. »Zerbrich dir nicht den Kopf, es gibt kein Wort für einen weiblichen Schmied. Ich bin der Schmied Wassilissa.«

»Und ich bin der brave Junge Iwanuschka und suche meine Braut, die der böse Zauberer Kaschtschej entführt hat«, konnte ich mir eine Anspielung auf eines unserer Märchen um die schöne Wassilissa nicht verkneifen.

Wie oft hatte Anka mir meine Neigung zu dummen Witzen vorgehalten. Nie hatte ich ihr widersprochen. Aber manchmal glückte mir eben doch einer.

So wie jetzt, da der Schmied Wassilissa die Zange weglegte. »Wirklich?«, fragte sie mit aufrichtiger, unverfälschter Neugier.

»Nein, natürlich nicht. Da ist nur meine romantische Ader mit mir durchgegangen.« Ich breitete die Arme aus. »Schmiedin ... Wassilissa ...«

»Das ist, nebenbei bemerkt, ein sehr schöner, ein uralter russischer Name«, sagte die Frau leicht verärgert. »Nenn mich bloß einmal Wassja, und ich verpass dir eine. Ich habe eine kräftige Hand, das ist dir ja wohl klar ... Komm rein, Kirill, sei mein Gast.«

Hatte ich anfangs den Eindruck, sie sei älter als ich, so meinte ich jetzt, wir seien mehr oder weniger gleichaltrig. Sie strahlte eine gutmütige Schlichtheit aus, wie man sie tatsächlich von den Figuren aus Volksmärchen kennt.

Das Erdgeschoss nahm die Schmiede ein. Ich weiß nicht, wie diese Werkstätten normalerweise aussehen. Hier jedenfalls standen fünf oder sechs Ambosse, in einer Reihe, ganz außen ein großer, der an einen Tisch erinnerte, am anderen Ende ein winziger, der größte Geschicklichkeit voraussetzen dürfte. Außerdem gab es drei Feuer, ebenfalls von unterschiedlicher Größe. Entfacht war das mittlere. Auch riesige Blasebälge fehlten nicht, die direkt von einer Skizze da Vincis zu stammen schienen. Sie waren es, die das Wasserrad bewegte. Die Bälge saßen auf einer Drehscheibe und konnten an jedes Feuer angeschlossen werden. Auf dem Boden türmten sich Berge von Eisen, ein erstaunliches Sortiment aus verrosteten Federn und funkelnden Schwertern.

»Gefällt’s dir?«, fragte Wassilissa neugierig. »Natürlich gefällt’s dir, das merke ich doch. Komm, ich schenk dir was ...«

Den Schrott durchwühlte sie allerdings nicht. Stattdessen öffnete sie einen Schrank an der Wand, einen ganz normalen Schrank, nur dass er keine Hemden und Laken enthielt, sondern Waffen.

»Nimm das!«

Sie reichte mir einen langen Dolch in einer Lederscheide. Der Griff war solide und sorgfältig gearbeitet, ein Meisterwerk, mit weißgegerbtem Leder umwickelt. Die Waffe sah prachtvoll und - im Unterschied zu den Souvenirs, die in Geschäften verkauft werden - gefährlich aus.

»Vielen Dank.« Mir war klar, dass ich das Geschenk nicht zurückweisen durfte. »Aber weißt du, Klingen darf man nicht verschenken ...«

»Ich bin nicht abergläubisch.«

»Aber ich.« In meiner Tasche fand ich einen Rubel, den ich Wassilissa gab. »Also ... vielen Dank, Nachbarin. Eine Meist... ein echter Meister bist du!«

O ja, das Wort »Meisterin«, mochte es auch noch so gut auf Stick- und Häkelarbeiten passen, verbot sich von selbst, wenn es um das Schmieden eines Dolchs ging.

»Eine Närrin bin ich«, seufzte Wassilissa. »Wer braucht denn all den Kram schon?« Sie winkte ab. »Gehen wir nach oben, dann mache ich dir einen Tee ... Woher kommst du, Kirill?«

»Aus Moskau.«

»Ich bin aus Charkow.«

Sie war zweiundfünfzig Jahre alt. Sie sah aus wie knapp über dreißig, aber dergleichen verwunderte bei Funktionalen ja nicht. Früher hatte sie in einer Traktorenfabrik gearbeitet, und zwar nicht in der Buchhaltung oder Gewerkschaftsleitung, sondern in der Schmiede. Natürlich schwang sie nicht den Hammer, sondern bediente die Schmiedepresse.

Irgendwann nahm die übliche Geschichte ihren Lauf. Auf der Arbeit wusste man nicht mehr, wer sie war. Da sie sich jedoch stur stellte, schaffte sie zweimal eine Neueinstellung, aber am nächsten Tag hatte man sie jedes Mal wieder vergessen. Ihr Mann schlug ihr die Tür vor der Nase zu, ohne etwas auf das Gejammer ihrer Kinder zu geben. »Seid ihr denn verrückt geworden? Eure Mamka ist vor drei Jahren gestorben!« Anscheinend suchte das Unterbewusstsein der nächsten Angehörigen stets nach einer Erklärung. Am übernächsten Tag wussten dann auch ihre Kinder nicht mehr, wer sie war. Dafür händigte ihr ein Postbote auf offener Straße ein Telegramm aus, das sie zum Stadtrand beorderte. Dort fand sie keinen Turm vor - sondern ein kleines, leer stehendes Häuschen, erbaut aus Ziegelsteinen.

Ihr standen nur drei Türen zur Verfügung. Eine führte selbstverständlich nach Charkow. Die zweite in eine öde Steinwelt mit eisigen Wintern und stickig heißen Sommern. Laut der Funktionale handelte es sich dabei um die Welt Nummer vierzehn, mit der niemand etwas Gescheites anzufangen wusste. Die dritte Tür brachte sie hierher, nach Nirwana. Und an dieser Welt hatten die Funktionale durchaus ein Interesse.

»Als Ort der Verbannung«, sagte ich, während ich am Tee nippte. Wassilissa hatte den Tisch im ersten Stock gedeckt, das typische Werk einer Frau, mit Tee, verschiedenen Sorten Marmelade, Früchten und Waffelkeksen. Auch Kognak hatte sie mir angeboten, den ich jedoch abgelehnt hatte. Wassilissa hatte sich ein helles Kleid angezogen und trug das Haar jetzt offen, sodass sie nicht mehr ganz so extravagant aussah, sondern wie eine starke Frau wirkte, die Hammerwerfen oder Kugelstoßen betreibt. Zudem hatte sie jede Ähnlichkeit mit einem Mann verloren und gab nun eine durchaus attraktive Frau ab - selbstverständlich nur, falls man etwas für ausgesprochen starke Frauen übrig hatte.

»O nein, es geht nicht nur um die Verbannung«, protestierte Wassilissa. »Das kommt natürlich auch vor. Wenn jemand plötzlich ... Aber im Grunde ist das hier eine Welt, die Perspektiven hat.«

Ohne Frage machte es ihr zu schaffen, ausgerechnet eine Tür zu einem Verbannungsort geöffnet zu haben.

»Perspektiven?«

»Gewiss doch. Das Leben hier ist sehr bequem. Aber normale Menschen fallen in ihr in einen Rauschzustand.«

»Mir ging’s zunächst genauso. Alles ist so knallig ... aber auch schön ...«

Wassilissa nickte verständnisvoll.

»Liegt das am Sauerstoff?«, wagte ich einen Erklärungsversuch.

»Was?« Wassilissa zeigte sich höchst erstaunt. »Was hat der Sauerstoff damit zu tun? Das sind Psychedelika.«

Mir gegen die Stirn zu schlagen - das war die einzige Reaktion, zu der ich mich imstande sah. Ich Idiot! Selbst wenn ich nie Drogen eingenommen hatte, die Symptome waren doch einfach klassisch!

»Das Klima hier ist sehr mild«, fuhr Wassilissa fort. »Selbst im Winter fällt kein Schnee. Es wachsen winzige Pilze, deren Sporen zu den Psychotomimetika mit LSDähnlicher Wirkung gezählt werden können. Obwohl sie vom Effekt her weniger mit LSD als vielmehr mit Meskalin zu vergleichen sind ... Wie du siehst, habe ich mich eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Schließlich kriege ich sonst kaum etwas zu tun, zu mir kommen nicht viele Kunden ...«

Die Idee, Nirwana zu kolonisieren (immerhin die Welt Nr. 22), war den Funktionalen fast auf Anhieb gekommen. Wassilissa sollte die Verantwortung für dieses Projekt übernehmen. Neben den Menschen, die auf die eine oder andere Art mit den Funktionalen in Konflikt geraten waren, schickte man Alkoholiker und Drogensüchtige hierher, die in der Regel begeistert den kostenlosen Dauerkick akzeptierten, der obendrein weder durch Turkey noch durch einen Kater getrübt wurde. In der Tat, das hier war ein Junkieparadies. Und niemand machte Anstalten, Nirwana zu verlassen.

Der Apfelgarten war Wassilissas Idee gewesen. Soweit ich es verstand, hatte sie ihn in den ersten Jahren allein angelegt. Möglicherweise hatte sie dabei ein bestimmter Sinn für Ironie geleitet, der sie Nirwana als Parodie auf den Garten Eden gestalten ließ; vielleicht lag dem Ganzen auch nur die nüchterne Kalkulation zugrunde, dass der Apfel der anspruchsloseste Obstbaum ist. Nach einigen Wochen der vollständigen Desadaption zeigten sich die Bewohner Nirwanas sogar in der Lage, in bescheidenem Umfang selbst für ihr Überleben zu sorgen: Sie fingen Fische, bauten Gemüse im Garten an und hielten sich Hühner.

»Wir setzen große Hoffnungen auf die Kinder«, erklärte Wassilissa. »Die Erwachsenen passen sich mit der Zeit an, werden den Rauschzustand jedoch wohl nie ganz überwinden. Aber die Kinder, die hier geboren wurden, sind fast vollständig assimiliert. Sie sind zärtlich und ausgelassen. Ein wenig fahrig, aber in der Lage zu lernen.«

»Unterrichtest du sie?«, fragte ich.

»Ja.« Aus irgendeinem Grund errötete sie, als habe ich sie eines ungehörigen Verhaltens überführt. »Lesen, Schreiben, Rechnen. Die älteren können schon allein lesen und bitten mich, ihnen Bücher zu besorgen. Fantasy und Science Fiction lieben sie sehr, vor allem unsere Bücher über Kinder, die eine Zauberschule besuchen. Puh, Unmengen davon habe ich schon angeschleppt! Nur gut, dass viele Bücher dieser Art erscheinen, jeden Monat kommt ein neues heraus. Harry Potter lesen sie allerdings nicht gern, das ist schon zu anspruchsvoll, und da sie sich nicht konzentrieren können, bocken sie dann. Ich besuche sie oft, um zu sehen, wie es bei ihnen steht. Hab ja sonst nicht viel zu tun. Man muss ihnen einfach helfen, und zwar sowohl den Kindern als auch den Erwachsenen ...«

»Und wenn wir sie in unsere Welt brächten?«, wollte ich wissen. »Zumindest die Kinder? Warum sollen sie hier leiden?«

»Was heißt ›hier leiden‹?«, empörte sich Wassilissa. »Hier leben ihre Eltern, die sie lieben. Hier gibt es keinen Krieg, keine Verbrecher, hier wird niemand umgebracht. Alle sind satt und haben etwas zum Anziehen. Außerdem dürften sie sowieso nicht zu uns.«

»Warum nicht?«

»Dann würden sie unter Entzug leiden«, klärte Wassilissa mich auf.

»Sag mal, Nachbarin«, meinte ich nach kurzem Schweigen. »Warum bringst du diese Pilze nicht zu uns?«

»Vergiss es, die gehen in unserer Welt ein«, antwortete Wassilissa, ohne mir die Frage krumm zu nehmen. »Das ist bereits erwiesen.«

»Und wenn man sie kultivieren würde?«

Sie sah mich begriffsstutzig an. Dann brach sie plötzlich in schallendes Gelächter aus, das jäh abriss. »Nein, Nachbar. Das wäre fatal. Hast du schon mal erlebt, wie ein Mensch Holz hackt, sich die Hand abhaut, einen Lachanfall kriegt, sich hinsetzt und glotzt, wie das Blut aus ihm herausfließt?«

»Nein.«

»Ich schon.«

»Entschuldige.« Leichte Scham überkam mich. »Ich mache öfter so blöde Witze.«

»Ist mir schon aufgefallen. Willst du Marmelade?«

Die lehnte ich jedoch ab. Stattdessen stand ich auf, ging durchs Zimmer und schaute zu den Fenstern hinaus. Auf der Charkower Seite handelte es sich hier um den ersten Stock eines Gebäudes, das in einer ruhigen und ungeachtet des späten Herbstes grünen und sonnigen kleinen Straße stand. Leicht gekleidete Menschen gingen vorbei. In einer Entfernung von einem Kilometer ragten aus dem Dach eines hohen Stalinbaus Antennen heraus, beinahe wie bei einer Relaisstation vom Fernsehen. Eine freundliche Stadt ... Ich merkte mir vor, sie einmal zu besuchen, Pelmeni zu essen und Wodka zu trinken. Natürlich nur, falls sich ein Restaurant oder Café in der Nähe fand, schließlich spannte meine Verbindung zum Turm schon jetzt. Einen Kilometer weiter könnte ich wohl noch gehen. Oder zwei, vielleicht sogar drei. Aber mehr nicht.

Vor dem zweiten Fenster bot sich ein weit weniger idyllisches Bild. Niedrig hängende graue Wolken, durch die die Sonne kaum zu dringen vermochte, eine schneebedeckte Ebene, über die der Wind winzige pikende Eiskörner trieb.

»Vor dieser Tür lagern zwei Zentner gefrorenes Obst. Ich benutze diese Welt als Kühlhaus«, informierte mich Wassilissa. »Natürlich nur im Winter. Allerdings ist da neun Monate lang Winter.«

»Ist das der hohe Norden?«

»Nein. Angeblich ist das der Äquator. Es muss eine sehr entlegene Welt des Multiversums sein. Ich glaube, es ist nicht mal die Erde. Selbst die Sonne scheint da nur schwach.« Sie verstummte kurz, um dann noch hinzuzufügen: »Außerdem gibt es da keinen Mond.«

»Wie bist du denn da hingelangt?«, platzte ich unüberlegt heraus.

»Ich wollte nicht mehr leben, Kirill«, sagte Wassilissa und trat an mich heran. Sie wollte nicht jammern, sondern teilte mir nur Fakten mit. »Ich habe meinen Mann geliebt. Und als mich dann auch noch meine Kinder vergessen hatten ...«

Sie verstummte.

»Verzeih mir.« Verlegen zuckte ich mit den Schultern. »Ich habe einfach drauflos geredet. Es tut mir sehr leid. Ich bin nicht verheiratet, und von meiner Freundin habe ich mich auch vor Kurzem getrennt ... Für mich war es leichter. Ich habe nur meine Eltern ... aber sie wissen genug mit sich selbst anzufangen. Für dich war es sehr schwer, oder?«

»Anfangs ja«, gab sie unumwunden zu. »Aber die Zeit heilt alle Wunden. Außerdem sind meine Kinder gesund, inzwischen sind sie erwachsen ...«

Ich drehte mich um, sah sie an - und fand mich prompt in einer kräftigen Umarmung wieder. Der Kuss der Schmiedin (in diesem Fall zog ich es vor, ein falsches Wort zu gebrauchen, als vom Kuss des Schmieds zu sprechen!) stellte sich als erstaunlich sanft, leidenschaftlich und angenehm heraus.

Schon im nächsten Moment riss sich Wassilissa jedoch von mir los. »Entschuldige, Kirill«, bat sie seufzend. »Du bist noch jung ... Wir sollten von so etwas lieber die Finger lassen. Aber wir bleiben doch Freunde, oder, Nachbar?«

Ehrlich gesagt, empfand ich die Situation als idiotisch. Allzu gut hatte ich vorausgesehen, dass Wassilissa in ihrer Langeweile ganz banal auf Sex erpicht war. Und zwar nicht mit einem dieser grinsenden Schwachköpfe aus dem Dorf in Nirwana, sondern mit einem Funktional.

Und ehrlich gesagt, war ich ebenfalls scharf darauf. Auf Sex. Ohne jede Verpflichtung. Mit einer schönen, wenn auch ungewöhnlichen Frau. Früher wäre es mir nie in den Sinn gekommen, mit einer Frau, die größer und stärker ist als ich, ins Bett zu gehen. Jetzt stachelte das meine Erregung nur noch an.

Gleichzeitig spürte ich jedoch: In gewisser Weise hatte sie recht. Es würde nicht klappen. Jetzt, da ich mich gerade in meiner neuen Rolle zurechtfand, würde es nicht klappen. Unsere Affäre ließe jede Leichtigkeit vermissen, denn wir würden versuchen, sie in eine dauerhafte Beziehung zu verwandeln. Wassilissa würde unweigerlich die Führungsrolle übernehmen. Das würde mir nicht passen. Daraufhin würden wir uns trennen, und das weiß Gott nicht als Freunde.

Wenn wir allerdings jetzt auf diese zufällige und überflüssige Liaison verzichteten ...

»Du hast recht«, sagte ich. »Bleiben wir Freunde. Sag mal, magst du das Meer?«

Wassilissa grinste nur.

»Ich habe einen Durchgang zu Erde-17«, teilte ich ihr mit. »Komm einfach mal vorbei, wenn du baden und dich sonnen willst.«

»Dafür danke ich dir schon jetzt, Kirill«, antwortete sie ernsthaft. »Das hört sich gut an. Du bist ein feiner Kerl.«

Ich wurde eines weiteren Kusses für würdig befunden, der jedoch nicht leidenschaftlich, sondern dankbar war.

»Komm vorbei«, wiederholte ich verlegen. »Ich gehe jetzt, ja? Ich bin heute Abend nach Kimgim eingeladen.«

»Du bist wirklich ein Glückspilz!« Wassilissa geriet ins Grübeln. »Ist es von deiner Funktion weit zu dem Ort, wo du hinmusst?«

»Fünf Kilometer.«

»Dann kommt das für mich nicht infrage. Von mir zu dir sind es sieben Kilometer Luftlinie. Von der Schmiede darf ich mich neun Kilometer entfernen. Aber bei dir schaue ich mal vorbei.«

»Tu das!«

Es trat jene peinliche Pause ein, die sich unweigerlich zwischen einem Mann und einer Frau bemerkbar macht, die miteinander Sex haben wollten - und es sich dann doch überlegt haben. Mir war dergleichen bisher erst einmal passiert, aber ich verstand ganz hervorragend, dass man in einem solchen Fall besser nichts auf die lange Bank schob. Ein schneller Abschied war das Einzige, das dir die Chance ließ, auch weiterhin gut miteinander auszukommen.

»Ich habe noch was zu tun«, sagte Wassilissa heuchlerisch. »Und du musst dich vermutlich auch beeilen. Gehst du durchs Dorf zurück?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Wenn es dir nichts ausmacht ... Könntest du mir einen Gefallen tun? Ich habe schon lange vor, den armen Schluckern ein paar Kleidungsstücke zukommen zu lassen.«

»Was für eine Frage? Natürlich nehm ich die mit.«

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