Es gibt Tage, da will dir rein gar nichts glücken. Dein Fuß findet den Weg vom Bett zum Pantoffel nicht, sondern landet auf dem Rücken deines geliebten Hundes, der dir vor Schreck nach dem Knöchel schnappt. Den Kaffee gießt du an der Tasse vorbei - und natürlich direkt auf das frisch gewaschene Hemd. Auf dem Weg zur Metro stellst du fest, dass du Papiere und Geld zu Hause vergessen hast, und als du kehrtmachst, wird dir klar, dass du die Sachen nicht vergessen, sondern verloren hast. Zusammen mit den Schlüsseln.
Aber auch das Gegenteil kommt vor. Du wachst munter und mit angenehmen Erinnerungen an einen Traum auf, der gestrige Schnupfen hat sich über Nacht spurlos verflüchtigt, es gelingt dir, weich gekochte Eier zu fabrizieren, deine Freundin, mit der du dich am Vortag überworfen hast, ruft von sich aus an und bittet dich um Verzeihung, Oberleitungs- und Autobus kommen, kaum dass du die Haltestelle erreicht hast, dein Chef ruft dich zu sich und teilt dir mit, er habe beschlossen, dir eine Gehaltserhöhung zu gewähren und eine Prämie auszuzahlen.
Solche Tage jagen mir mehr Angst ein. Denn das wusste man bereits in der Antike: Man darf das Schicksal nicht durch übermäßigen Erfolg ergrimmen. Der Herrscher Polykrates hat sich schon etwas dabei gedacht, als er den Ring ins Meer warf. Als die See dieses Opfer verschmähte, hätte sich der König freilich den Finger abschneiden müssen, womöglich wäre er ihm ja nicht nachgewachsen. Solltest du kein geborener Glückspilz sein, der mit dem leichten Schritt eines Flaneurs durchs Leben geht, dann hüte dich vor den glücklichen Tagen! Nicht umsonst gleicht das Leben der gestreiften Gefängnistracht. Hast du heute Pech, winkt dir schon morgen das Glück.
Für gewöhnlich beruhigt mich dieser Gedanke. Nur heute nicht.
Wie angewurzelt stand ich vor der Tür meiner Wohnung. Einer ganz normalen Tür. Die wegen der heutigen kriminellen Zeiten aus Eisen war und billig mangels eines reichen Onkels in Amerika.
Nur dass diese Tür einen Spalt offen stand. Was das hieß, bedarf keiner weiteren Erklärung. Noch leide ich nicht an Gedächtnisschwund: Vor einer Woche hatte Anja mir die Schlüssel bei ihrem Abgang voller Verachtung auf den Boden geschmissen. Meine Eltern hatten ein Ersatzbund, selbstverständlich nicht, um meine Wohnung zu inspizieren, sondern für den Fall, dass ich meinen eigenen verlor. Bedauerlicherweise machten die beiden jedoch seit einer Woche in der Türkei Urlaub, konnten mich also kaum besuchen.
Ich stand da und dachte an Cashew. Warum mein Skye-Terrier Cashew heißt, muss man die Züchterin fragen. Vielleicht liebte sie diese Nüsse. Vielleicht wusste sie aber auch einfach nicht, was Cashews sind. Ich hatte mich damals jedenfalls nicht getraut, mich danach zu erkundigen.
Was macht ein Dieb, wenn er in einer Wohnung einen kleinen, wiewohl tapferen Terrier entdeckt? Vermutlich durfte ich schon froh sein, wenn er ihn bloß trat.
Sicherlich, es gab in meiner Wohnung das eine oder andere wertvolle Stück. Der Laptop. Die Stereoanlage. Der Fernseher war ebenfalls nicht zu verachten, der DVD-Player brandneu. Und irgendwann würde jeder versierte Dieb die mit Klebeband an der Rückwand der Garderobe befestigte eiserne Reserve entdecken, jenen Briefumschlag mit den tausend Euro.
Trotzdem dachte ich einzig und allein an Cashew. Vermutlich hätte ich noch ein paar Minuten so dagestanden, unfähig, mich aufzuraffen, die Tür aufzustoßen, wenn nicht ein feines metallisches Geräusch aus der Wohnung gedrungen wäre.
Der Dieb war noch da!
Durch reckenhaften Wuchs oder heroischen Mut habe ich mich noch nie ausgezeichnet. Sämtliche Bekanntschaft, die ich mit dem Zweikampf geschlossen hatte, beschränkte sich auf einen Karatekurs, den ich im zarten Teenageralter ohne rechte Begeisterung ein halbes Jahr lang besucht hatte, sämtliche praktische Erfahrung auf gelegentliche Balgereien etwa in der gleichen Phase meines Lebens. Des ungeachtet stürmte ich mit dem Eifer eines Bruce Lee, dem jemand auf seinen Lieblingskimono getreten ist, in die Wohnung.
Sind Sie sich schon mal wie ein kompletter Idiot vorgekommen?
Da stand ich nun in dem engen, schummerigen Flur meiner Einzimmerwohnung. Nur dass diese Wohnung völlig fremd aussah. Statt der akkurat in der Wand befestigten Haken, an denen einsam eine seit dem Frühjahr nicht getragene Jacke hing, sprang mir eine geweihartige Holzgarderobe samt beigefarbenem Mantel und Schirm ins Auge. Auf dem Fußboden lag ein Teppich in einer fröhlichen Farbe. Soweit ich es erkennen konnte, stimmte in der Küche auch nichts. Zum Beispiel war der Kühlschrank sonst wohin verschwunden. Seinen Platz nahm jetzt eine unansehnliche junge Frau im Bademantel und mit einer Kasserolle in der Hand ein. Bei meinem Anblick kreischte sie laut los und ließ den Topf fallen.
»Pech gehabt, alte Vettel!«, schrie ich. Was um alles in der Welt ist eine »Vettel«? Woher nahm ich plötzlich dieses Wort? Ich wusste es selbst nicht.
»Was erlauben Sie sich denn!«, keifte die Frau ihrerseits. »Verschwinden Sie! Oder ich rufe die Miliz!«
Da das Telefon direkt neben der Eingangstür an der Wand hing, stufte ich ihre Drohung nicht nur als unverschämt, sondern auch als voreilig ein. Ich spähte ins Zimmer, entdeckte dort aber keine Komplizen der Frau. Dafür hielt sich Cashew hier auf, er stand auf dem Sofa - bei dem es sich nicht um mein Sofa handelte! Cashew kläffte laut, war gesund, munter und völlig unverletzt.
Hat man Töne! Die hatten einfach meine Möbel rausgeschleppt! Wie lange war ich aus dem Haus gewesen? Fünf Stunden? Sechs? Aber die hatten es geschafft, meine Sachen abzutransportieren. Bloß wozu hatten sie die Wohnung auch noch neu eingerichtet?
»Die Miliz?«, gab ich zurück. »Die wird ein Wörtchen mit Ihnen zu reden haben.«
Ich nahm den Hörer ab und wählte 01. Die Frau stellte ihr Geschrei ein und starrte mich schweigend an. Cashew bellte.
»Die Feuerwehr am Apparat«, erklang es in der Muschel.
Ich drückte die Gabel herunter und wählte 02. Jetzt nur keine Panik, so was konnte jedem passieren. Schließlich wird einem nicht alle Tage die Bude ausgeräumt - noch dazu auf so ausgefallene Weise.
»Ist da die Miliz? Ich habe einen Einbruch zu melden«, sagte ich schnell. »Kommen Sie bitte sofort. Studeny-Passage ...«
»Was soll das? Sind Sie krank?«, fragte die Frau. Offenbar hatte sie sich wieder beruhigt. »Oder betrunken?«
»Betrunken, bekifft, bedröhnt«, versicherte ich schadenfroh, während ich auflegte. »Was dachten Sie denn?«
»Kirill?«, vernahm ich es hinter mir.
Als ich mich umdrehte, gewahrte ich voller Freude meine Nachbarin auf dem Treppenabsatz. Ein giftiges altes Weib namens Galina, eine Liebhaberin von Tratsch und Klatsch, die alle Nachbarn anfeindete. Momentan drückte sich in ihrer Miene in der Vorfreude auf das neue Gesprächsthema freilich unverfälschte Anteilnahme und Freundlichkeit aus.
»Sehen Sie sich doch nur, was geschehen ist, Galina«, sagte ich. »Ich komme nach Hause und treffe auf eine Diebin!«
Auf dem Gesicht der Nachbarin spiegelte sich Begeisterung wider, gemischt mit einer Prise Angst.
»Sollte man nicht die Miliz rufen, Kirilluschka?«
»Das hab ich schon«, beruhigte ich sie. »Werden Sie meine Zeugin sein?«
Galina nickte und winkte andeutungsweise in Richtung der Einbrecherin. »Puh, was für eine dreckige Vettel! So eine hat mir im letzten Jahr auf dem Markt meine Geldbörse aus der Tasche geklaut!«
»Sie haben ja alle beide völlig den Verstand verloren«, befand die Frau gelassen. Sie angelte nach einem Päckchen Zigaretten und steckte sich eine an. Im Zimmer bellte nach wie vor der tapfere Terrier. »Cashew, aus!«, blaffte die Frau, worauf der Hund sofort verstummte.
Mir blieb die Spucke weg. Selbst Galina spitzte aufmerksam zu der anderen Frau hinüber. Sie hasste meinen Hund - so wie sie jedes Lebewesen in diesem Haus hasste. Aber ...
»Ist das deine Freundin?«
»Wer? Die da?« Vor lauter Ärger verschluckte ich mich sogar. Nun gut, in ihren Augen galt jeder junge Mann als geiler Bock, und wenn er obendrein unverheiratet war, rangierte er bei ihr als Mischung aus Casanova und Caligula. Mich aber für fähig zu halten, mir dieses reizlose Individuum mit dem spillerigen rotblonden Haar und dem von Sommersprossen übersäten Gesicht ins Haus zu holen ... »Die sehe ich zum ersten Mal!«
»Sie sind es, den ich zum ersten Mal sehe!«, mischte sich die Frau zu allem Überfluss auch noch ein. »Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, aber Sie sollten tunlichst aus meiner Wohnung verschwinden ...«
»Kirill wohnt schon über drei Jahre hier«, brach Galina prompt eine Lanze für mich. In diesem Augenblick wäre ich bereit gewesen zu schwören, der alten Klatschbase gebühre im Grunde Respekt. »Seine Eltern sind reiche Leute, sie haben ihrem Sohnemann die Wohnung gekauft und alles renovieren lassen. Manch anderer haust ja sein Lebtag in Gott weiß was für Löchern, aber er hat schon als junger Mann’ne eigene Wohnung ...«
Gut, vermutlich hatte ich es mit meiner Begeisterung für die Nachbarin etwas übertrieben. Was zum Teufel ging es sie an, wer mir die Wohnung gekauft hatte? Schließlich hatte sie selbst ihre Dreizimmerwohnung in der guten alten Zeit vom Staate für irgendwelche Leistungen im Dienste des Plankomitees erhalten.
»Sie sind ja beide völlig verrückt«, erklärte die Frau. »Oder gehören zur selben Bande.«
Fassungslos rang Galina die Hände. Anschließend klingelte sie an der Nachbartür Sturm. Die Frau und ich maßen einander mit bösen und misstrauischen Blicken. Als gelte es, eine stillschweigende Übereinkunft zu wahren, blieben wir beide wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Allerdings rauchte die Frau, und zwar schon die zweite Zigarette, während ich das Schlüsselbund um einen Finger kreisen ließ.
»Mama ist nicht da«, informierte das Nachbarmädchen hinter der nur einen Spalt geöffneten Tür hervor Galina. »Und Papa schläft noch nach der Arbeit ...«
»Weck deinen Papa, man raubt unseren Nachbarn aus!«, verlangte die Alte frohgemut.
Das Mädchen steckte den Kopf zur Tür heraus, fiepte mir ein »Hallo!« zu und verschwand in der Wohnung, wobei sie nicht vergaß, die Tür zuzuknallen.
»Diese Form der Arbeit kennen wir ja«, kommentierte Galina prompt. »Hat sich die Hucke vollgesoffen und ratzt jetzt ...«
Abermals ging die Tür auf. Unser Nachbar trat heraus, in Unterhosen, Unterhemd und barfuß. Obwohl er schon auf die vierzig zuging, war er ein kräftiger Mann, dem anscheinend durchaus der Sinn danach stand, unverzüglich jemandem seine gewaltige Faust ins Auge zu jagen.
»Tagchen, Pjotr Alexejewitsch!«, überfiel ihn die Nachbarin. »Zustände sind das! Am helllichten Tag wollte man einen Jungen aus unserer Mitte ausrauben!«
»Es ist schon Abend«, sagte Pjotr, indem er Galina zur Seite schob. Er kam auf mich zu und lugte mir über die Schulter. »Brauchst du Hilfe?«
»Die Miliz kommt jeden Moment.«
Mein Nachbar nickte. »Schade, dass sie ein Weibsbild ist«, meinte er bedauernd. »Einem Kerl würde ich sofort eins über den Schädel ziehen. Fürs Erste.«
Die Frau erbleichte.
»Oder soll ich ihr trotzdem eins verpassen?«, überlegte Pjotr laut.
In dem Moment summte jedoch der Fahrstuhl los, und mein Nachbar verstummte. Kurz darauf zwängten sich drei Milizionäre zu uns auf den Treppenabsatz. Zwei von ihnen trugen Maschinenpistolen. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass sie vorerst niemanden zu erschießen brauchten, erstarrten sie gleichsam zu einer Ehrenwache. Bei dem dritten Mann handelte es sich offensichtlich um ihren Chef.
»Wer hat die Miliz gerufen?«, fragte er mich.
»Ich.«
»Ist das Ihre Wohnung?«, wollte er mit einem Nicken in Richtung Tür wissen.
»Ja.«
Drinnen lachte die Frau hysterisch auf.
»Seine, ganz bestimmt«, sprang Galina mir bei. »Wir sind Nachbarn. Und Zeugen!«
»Obersergeant Dawydow. Ihre Papiere, bitte«, verlangte der Milizionär, der bislang keine Anstalten machte, die Wohnung zu betreten. »Das gilt für alle!«
Meine Nachbarn verschwanden in ihren Wohnungen. Selbst der träge Pjotr Alexejewitsch legte eine gewisse Beflissenheit an den Tag. Ich kramte meinen Ausweis hervor und reichte ihm den Milizionär mit der wirren Erklärung: »Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen, die Tür stand offen ... Ich habe mir Sorgen um meinen Hund gemacht, diese Dreckskerle schrecken doch nicht mal davor zurück, ein Tier totschlagen ...«
»Man muss sich einen Hund halten, der so loskläfft, dass jeder Verbrecher sich in die Hosen macht«, sagte der Milizionär, während er meinen Ausweis studierte. Er schielte zu der Fremden hinüber. »Oder in den Rock ... Gut. Kirill Danilowitsch Maximow. Gemeldet in Moskau, Studeny-Passage 37, Wohnung 18 ... Gut. Alles in Ordnung.«
Meine Nachbarn kehrten mit ihren Papieren zurück.
»Sie werden Zeugen sein«, erklärte Dawydow. »Wollen wir jetzt in die Wohnung gehen?«
»Zu gern«, versicherte ich hämisch. »Stellen Sie sich vor, die haben meine Möbel abtransportiert und stattdessen ihre eigenen angeschleppt ...«
»Besetzung von Wohnraum«, warf einer der Bullen mit MP ein.
»Die Schlussfolgerungen überlass den Richtern«, fuhr ihn sein Chef an.
Daraufhin betraten wir die Wohnung. Cashew bellte erneut los. Dawydow betrachtete ihn und schüttelte den Kopf. Danach wandte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit an die Frau: »Ihre Papiere, bitte.«
»Die sind in der Tasche. An der Garderobe«, erklärte sie.
»Dann holen Sie sie.«
Die Frau fischte ihre Papiere aus der Tasche. Mich bedachte sie mit einem höchst seltsamen Blick.
Die nächste Minute nahm sich der Obersergeant den Ausweis vor. Dann trat er ans Fenster und inspizierte das Dokument in den letzten Resten des Tageslichts. Schließlich stieß er einen Pfiff aus und schaute mich mit hintergründigem Lächeln an. »Das hier muss die Dritte Bauarbeiterstraße sein, Bürger Maximow.«
Warum zitierte er diese Adresse aus dem Film Ironie des Schicksals, die schon dort für allerlei Verwirrung gesorgt hatte? Warum nannte er mich Bürger? Mir behagte das überhaupt nicht. Mit gutem Grund.
Die Frau hieß Natalja, mit Nachnamen Iwanowa. Sie war einundzwanzig Jahre alt, also fünf Jahre jünger als ich. Und sie war in meiner Wohnung gemeldet. Jetzt saßen wir am Küchentisch, Natalja, der Obersergeant und ich.
Nachdem Dawydow die Ausweise eine Zeitlang geprüft hatte, fragte er: »Und Sie kennen einander nicht?«
Auf diese Frage zu antworten schenkte ich mir. Genauso wie die Frau.
»Wer wohnt hier?«, erkundigte sich der Obersergeant bei den Nachbarn.
»Er!«, rief Galina aus. »Er lebt hier! Schon seit drei Jahren.«
Gab es also doch irgendwas Menschliches in ihr.
»Kirill«, bestätigte auch Pjotr Alexejewitsch. »Daran gibt es nichts zu rütteln. Und die da ... sehe ich zum ersten Mal.«
Der Obersergeant musterte Natalja. »Was versprechen Sie sich denn davon, Bürgerin?«, fragte er in tadelndem Ton. »Urkundenfälschung, Einbruch ...«
»Die Schlussfolgerungen überlassen Sie den Richtern«, zischte die Frau. »Ich wohne hier! Seit drei Jahren, seit ich die Wohnung gekauft habe. Und die da ...« Ihr unbestimmtes Nicken schloss mich ebenso ein wie die beiden Nachbarn. »... sehe ich zum ersten Mal! Das ist eine Bande! Wieso wollen Sie das nicht begreifen?«
Während ich ihr zuhörte, musterte ich die Kacheln. Ein gewöhnlicher Kachelstreifen über dem Herd und der Spüle, zum Schutz. Ich hatte dafür hübsche bordeauxrote Kacheln gewählt, die eigentlich ziemlich viel kosteten, die ich aber verbilligt als Restposten bekommen hatte. Wie viel brauchte man da denn schon? Zwei Quadratmeter vielleicht.
Natalja hatte schlichtere Kacheln. Hellblaue.
Gewiss, an einem Tag konnte man sämtliche Möbel aus einer Wohnung schaffen. Und wenn man es darauf anlegte, wohl auch frisch tapezieren. Aber die alten Kacheln abklopfen und neue legen? Obendrein so penibel?
Oder ließ sich auch das bewerkstelligen?
Ich betrachtete den Fußboden. Linoleum. Nicht das, was bei mir auslag. Anderes.
»Ist das Ihre Wohnung?«, fragte Dawydow. »Wohnen Sie hier?«
»Ich weiß nicht ...«
»Was heißt das - Sie wissen es nicht?« Meine Antwort brachte ihn aus dem Konzept. »Sie müssen doch ...«
»Ich wohne hier. Das sind meine Nachbarn.« Ich nickte in Richtung der Zeugen. »Aber ... hier hat sich alles völlig verändert. Das sind nicht meine Möbel. Das Linoleum, das ich hatte, war ... heller und irgendwie weicher, auf einer Verlegepappe ...«
Natalja schnaubte.
»Die Kacheln an der Wand sind auch anders ...«, schloss ich, obwohl ich spürte, wie meine Chancen, Unterstützung seitens der Miliz zu erhalten, dahinschwanden.
»Die Kacheln?«, hakte der Obersergeant nach. »Die Kacheln sind anders?«
Er trat an die Wand heran und fuhr mit dem Fingernagel über eine Fuge, um dann die Achseln zu zucken. »Du hast doch mal auf dem Bau gearbeitet, oder?«, wandte er sich an einen seiner Kollegen. »Kann man eine Wand innerhalb eines Tages neu kacheln?«
»Theoretisch ist alles möglich«, gab sich der Bulle vage. »Guter Leim, ein schnelltrocknender Fugenkleber ... Aber praktisch ... Nein.«
»Gehen wir ins Bad«, entschied Dawydow.
Im Badezimmer trocknete Unterwäsche. Weibliche. Natalja huschte vorbei, um Höschen und BHs von der Leine zu klauben.
»Ist das Ihr Badezimmer?«, fragte Dawydow. »Sind das Ihre Fliesen?«
Was biss er sich bloß an diesen Fliesen fest? Langsam schwante mir freilich, worauf die Fragerei abzielte. Zwei Quadratmeter Kacheln auszutauschen war eine Sache. Aber das ganze Bad zu renovieren ...
»Es scheint meins zu sein«, meinte ich bedrückt. »Ich habe es so gelassen, wie es war.«
»Gibt es irgendetwas Besonderes? Eine abgeplatzte Stelle an der Wanne? Einen Riss in einer Fliese?«
Mit aller Gewalt versuchte ich mich zu erinnern. Zu gern hätte ich in dieser Wohnung etwas entdeckt, was mir gehörte.
»Auf dem Wasserhahn waren Kratzer, ich habe ihn schon mit diesem Mangel gekauft«, erklärte ich. »Aber das hier ist ein anderer, der ist viel älter.«
»Was heißt hier ein anderer Hahn?«, empörte sich Natalja. »Den habe ich nicht ausgewechselt, das ist der, der hier schon immer drin war!«
Das Funkgerät des Obersergeanten piepte. Er murmelte etwas ins Mikro. Nachdenklich betastete er den Wasserhahn. »Also gut«, stieß er aus. »Wer besitzt Papiere für diese Wohnung?«
»Ich!«, rief Natalja. »Einen Moment ...«
Sie rannte ins Zimmer.
»Ich hatte auch mal welche«, brachte ich hoffnungslos hervor. »In meinem Schreibtisch. Aber der steht nicht mehr in meinem Zimmer, da habe ich schon nachgeguckt. Der ist nicht mehr da, der Schreibtisch, meine ich.«
»Solche Dokumente muss man in einem Schließfach in der Bank aufbewahren«, belehrte mich der Obersergeant ernsten Tones.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Was faselst du denn da, du Hüter des Gesetzes?«, platzte es aus mir heraus. »Was für ein Schließfach! Für wen hältst du mich denn? Für irgendeinen Neureichen? Mit Schließfach in der Bank? Wo bewahrst du denn deine Papiere auf?«
Er nahm mir das nicht einmal übel - und das jagte mir abermals Angst ein.
»Unter der Matratze ... Beruhigen Sie sich, Kirill Danilowitsch, sonst sagen Sie noch etwas Unbedachtes, und ich muss Sie festnehmen.«
Jetzt kam Natalja zurück. Mit den Unterlagen für die Wohnung, den Belegen für die Miete, Stromquittungen, der Kaufurkunde ...
Ich sagte kein Wort. Der Obersergeant besah sich die Papiere und gab sie Natalja zurück. »Also, meine Damen und Herren«, sagte er, »ich sehe keine Möglichkeit, Ihnen zu helfen. Sie müssen vor Gericht gehen, Kirill Danilowitsch. Wenn die Wohnung wirklich Ihnen gehört ...«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«, rief ich.
»... dann werden beim Notar, bei den Behörden für den An- und Verkauf von Wohnraum und wohl auch bei der Direktion für Gebäudenutzung Kopien der Unterlagen vorliegen«, fuhr er mit gerunzelter Stirn fort. »Diese Dokumente auszutauschen« - er stockte -, »dürfte zwar möglich sein, wäre aber derart aufwendig und teuer, dass sich die ganze Angelegenheit kaum lohnen würde. Niemand würde sich wegen einer Einzimmerwohnung in einem Plattenbau am Stadtrand dergleichen aufhalsen!«
Natalja schnaubte - und dies derart triumphierend, dass unmissverständlich klar wurde: Sie hegte an der Existenz ihrer Papiere keine Zweifel. Sowohl bei der genannten Direktion wie auch beim Notar.
»Und Ihnen, Bürgerin Iwanowa, würde ich, wenn Sie hier wohnen, den Rat geben, wenigstens gewisse nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Wer kann denn bestätigen, dass Sie hier wohnen? Ihre Freundinnen? Ihre Verwandten?«
»Meine Verwandten wohnen in Pskow und haben mich bisher noch nicht besucht«, parierte Natalja. »Mit meinen Freundinnen gehe ich im Park spazieren oder ins Kino, betrinke mich mit ihnen aber nicht in meiner Wohnung, wie es Männer tun. Und was diese Nachbarn angeht, dieses versoffene Pack ...« Zornig blickte sie die Nachbarn an. »... die will ich gar nicht kennenlernen.«
»Ganz ruhig!« Mit einer Handbewegung stoppte Dawydow den auf Natalja zurollenden Pjotr Alexejewitsch. »Wir haben es hier mit einer komplizierten Situation zu tun, aber am Ende siegt das Recht immer. Verlassen wir jetzt die Wohnung der Bürgerin ...«
Damit war mein Spiel verloren, keine Frage. Und es gab nichts, was ich noch hätte vorbringen können.
Obwohl...
»Cashew kriegst du aber nicht, du Miststück!«, blaffte ich und packte den um Nataljas Beine wuselnden Skye-Terrier. »Autsch!«
Cashew hatte nach meinem Finger geschnappt, sich meinem Griff entwunden und auf den Boden fallen lassen, wo er sogleich loskläffte. Wo er mich verbellte!
»Rühr mir ja den Hund nicht an, du Arsch!«, keifte Natalja. »Cashew, mein Kleiner ...«
»Sie soll die Papiere für den Hund vorzeigen!«, brüllte ich. »Das ist meiner!«
Cashew rekelte sich in Nataljas Armen und bellte mich empört an. Mein Finger tat weh, aber immerhin hatte der Terrier ihn nicht blutig gebissen.
»Gehen wir, Kirill.« Dawydow schlug mir auf die Schulter. »Brechen wir auf. Der Hund, scheint’s, teilt Ihre Meinung nicht unbedingt.«
»Dir zeig ich die Dokumente!«, keifte Natalja mir hinterher. »Du Arsch, du! Wozu hast du dir das alles ausgedacht? Wolltest mir den Hund wegnehmen?«
Kaum hatten wir die Wohnung verlassen - halb zog Dawydow mich, halb schubste er mich -, da fiel hinter uns krachend die Tür zu. Die Schlösser wurden verriegelt, der Riegel geräuschvoll vorgeschoben.
»Schöne Sache ...«, meinte der Obersergeant mitfühlend.
Ich linste zu meinen Nachbarn hinüber. Galina - endlich fiel mir auch ihr Vatersname wieder ein! - Galina Romanowna sah mich mit unverfälschter Begeisterung an. Na klar! Was für Gesprächsstoff!
»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, wenn Sie erst mal vom Bäcker nach Hause kommen und in Ihrer Wohnung einen fremden Mann vorfinden«, prophezeite ich.
Die Augen gingen Galina Romanowna über.
»Ach, hör doch auf ...«, fauchte sie und zog sich panisch in ihre Wohnung zurück. »Ich kenne dich überhaupt nicht! Und du hast hier niemals gewohnt!«
»Das war nicht klug von Ihnen«, meinte Dawydow seufzend. »Vermutlich stehen Ihnen lange Untersuchungen bevor, da sollten Sie die Zeugen nicht gegen sich aufbringen.«
»Also glauben Sie mir?«, fragte ich.
Die Miliz hatte ich noch nie gemocht. Allzu oft bereiten dir die Bullen mehr Verdruss, als dass sie dir helfen. Aber dieser Obersergeant gefiel mir. Er - wie soll ich das ausdrücken -, er schien mir okay zu sein. Wirkte wie ein normaler Milizionär. Wie er sein sollte. Ich verübelte ihm nicht einmal, dass er angesichts der Papiere Nataljas eingeknickt war.
»Ja, das tu ich. Meiner Ansicht nach lügen Sie nicht. Weshalb sollten Sie auch? Und Ihren Nachbarn glaube ich auch.« Dawydow holte ein Päckchen Jawa heraus und bot mir eine Zigarette an, die ich jedoch ablehnte. Nachdem er sich eine angesteckt hatte, fuhr er fort: »Wenn ich das Ganze zu entscheiden hätte, würde ich einem Wort dieser fuchtigen Alten mehr Gewicht beimessen als allen Papieren zusammen.«
»Ja, falls sie sich zu einer Aussage herablässt ...«, brummte Pjotr Alexejewitsch. »Könnte ich eine haben?«
Dawydow linste ins Päckchen. »Von anderen nehmen wir Milizionäre nicht die letzte ... aber unsere letzte anbieten, das tun wir. Nimm, ich habe noch welche im Auto.«
Offenbar wollte niemand aufbrechen, dazu fesselte uns alle dieser Vorfall viel zu sehr.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte ich.
»Haben Sie keine Papiere? Von Ihrem Ausweis einmal abgesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gehen Sie zur Direktion für Gebäudenutzung. Suchen Sie alle Stellen auf, in denen die Unterlagen aufbewahrt werden könnten, die Ihr Anrecht auf den Wohnraum bestätigen. Wer bist du denn ohne Papiere?«
»Ein Niemand«, murmelte ich.
»Eben. Du kannst hundert Zeugen anbringen, die mit dir in der Wohnung Wodka getrunken haben, die dir beim Tapezieren geholfen und den Einzug mit dir gefeiert haben. Aber ohne die Papiere bist du ein Niemand, und kein Gericht wird dir recht geben. Wenn Sie Journalisten kennen, setzen Sie sich mit ihnen in Verbindung. Vielleicht können sie Ihnen einen Rat geben oder einen Artikel schreiben ...«
»Die Zeiten, wo man etwas auf Artikel gegeben hat, sind vorbei«, grummelte Pjotr Alexejewitsch. »Heute ... wischt man sich nur noch den Hintern damit ab.«
»Die Sache mit dem Hund ist allerdings seltsam«, bemerkte Dawydow unvermittelt. »Alles andere kann ich mir vorstellen. Dass jemand sämtliche Unterlagen ausgetauscht, frisch tapeziert und neu gefliest hat. Aber dass ein Hund sein Herrchen nicht erkennt? War er schon ausgewachsen, als Sie ihn bekommen haben?«
»Nein, ein Welpe. Zwei Monate alt war er damals.«
»Komisch.« Dawydow schüttelte den Kopf. »Also muss das ein anderer Hund sein.«
»Es ist meiner! Ich werde doch wohl noch meinen eigenen Hund erkennen, oder? Für einen Fremden mögen sie ja alle gleich aussehen ...«
Abermals fiepte Dawydows Funkgerät.
»Viel Glück ...«, brummte er geschäftig, als bereue er mit einem Mal seine Vertrauensseligkeit. Dann drückte er den Knopf für den Fahrstuhl. »Am Ende kommt die Wahrheit immer ans Licht.«
»Auf Wiedersehen«, meinte der Bulle, der früher auf dem Bau gearbeitet hatte, unpassenderweise.
Sie stiegen in den Fahrstuhl, wobei sie mit den Läufen der Maschinenpistolen aufeinander zielten, ohne dass sie es selbst bemerkten. So kommt es dann zu Unfällen ...
»Was ist, Kirill, kommst du auf ein Gläschen mit zu mir?«, fragte Pjotr Alexejewitsch. »Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Betrinken werde ich mich heute mit Sicherheit noch. Aber nicht jetzt.«
»Weißt du, wo du schlafen kannst?«
»Ja ... wahrscheinlich schon. Falls bei meinen Eltern jetzt nicht irgendwelche Flüchtlinge aus Tadschikistan gemeldet sind ...«
Pjotr grinste nicht einmal.
Auch ich konnte in den Worten nichts Komisches finden. Ich verabschiedete mich mit einem Handschlag von ihm und rief den Fahrstuhl.
»Wenn es drauf ankommt, werde ich überall zu Protokoll geben, dass du hier gewohnt hast!«, versicherte mein Nachbar. »Meine Tochter wird auch für dich aussagen und meine Frau ...«
Mir fiel die Vergangenheitsform auf - selbst wenn Pjotr ihr keine Bedeutung beigemessen haben dürfte.