Die lateinischen Geheimnisse

Nach dem Kantinenfraß rücken wir die langen Holztische und Bänke an die Wand. Wir dürfen hie und da samstags tanzen bis nachts um Viertel vor zwölf. Dann räumen wir alles wieder zurück. Um Punkt zwölf kommt aus dem Hoflautsprecher die russische Hymne, dann muss jeder in seiner Baracke sein. Samstags haben die Wachposten gute Laune vom Zuckerrübenschnaps, da fliegt leicht eine Kugel. Wenn Sonntag morgens einer im Hof liegt, heißt es: Fluchtversuch. Dass er in der Unterhose über den Hof zur Latrine eilen musste, weil sein ausgewaschenes Gedärm die Krautsuppe nicht mehr verdaut, ist keine Entschuldigung.

Trotzdem schieben wir hie und da einen Tango im Kantinensamstag. Wenn man tanzt, lebt man auf den Fußspitzen wie die Mondsichelmadonna im Café Martini, in der Welt, aus der man kommt. In einem Tanzsaal mit Girlanden und Lampions, mit Abendkleidern, Broschen, Krawatten, Einstecktüchern und Manschettenknöpfen. Meine Mutter mit zwei spiraligen Wangenlocken und einem Dutt wie ein Weidenkörbchen tanzt in hellbraunen Sandalen mit hohen Stöckeln und dünnen Fersenriemen wie Birnenschalen. Sie trägt ein grünes Kleid aus Atlasseide und genau auf dem Herzen eine Brosche mit vier Smaragden, den Glücksklee. Und mein Vater den sandgrauen Anzug mit weißem Einstecktuch und einer weißen Nelke im Knopfloch.

Ich aber tanze als Zwangsarbeiter und trage Läuse in der Pufoaika und stinkige Fußlappen in den Gummigaloschen und werde schwindlig vom Tanzsaal daheim und der Leere im Magen. Ich tanze mit der einen von den zwei Zirris, mit der Zirri Kaunz, die seidene Härchen auf den Händen hat. Die andere mit der olivgroßen Warze unterm Ringfinger heißt Zirri Wandschneider. Die Zirri Kaunz versichert mir beim Tanzen, dass sie aus Kastenholz kommt, nicht wie die andere aus Wurmloch. Und dass ihre Mutter in Agneteln aufgewachsen ist und ihr Vater in Wolkendorf. Dass ihre Eltern, bevor sie zur Welt kam, nach Kastenholz gezogen sind, weil ihr Vater dort einen großen Weingarten gekauft hat. Es gibt auch ein Dorf, das heißt Liebling, sage ich, und eine Stadt, die heißt Großscham, aber nicht in Siebenbürgen, sondern im Banat. Vom Banat versteh ich nichts, sagt die Zirri, da kenn ich mich nicht aus. Ich auch nicht, sage ich und drehe mich in meiner verschwitzten Pufoaika um die Zirri, und ihre verschwitzte Pufoaika dreht sich um mich. Die ganze Kantine dreht sich. Es gibt nichts zu verstehen, wenn sich alles dreht. Auch die Holzhäuser hinterm Lager muss man nicht verstehen, sage ich, sie heißen Finnenhäuser, in ihnen wohnen aber russische Ukrainer.

Nach der Pause kommt der Tango. Ich tanze mit der anderen Zirri. Unsere Sängerin, die Loni Mich, steht einen halben Schritt vor den Musikanten. Bei der Paloma geht sie noch einen halben Schritt vor, weil sie das Lied ganz für sich haben will. Die Arme und Beine hält sie steif, die Augen rollen, der Kopf wiegt sich. Ihr Kropfansatz zittert, die Stimme wird rauh wie der Sog von tiefem Wasser:

Und schnell geht ein Schiff zugrunde

Früh oder spät schlägt

Jedem von uns die Stunde

Auf Matrosen ohé

Einmal muss es vorbei sein

Einmal holt uns die See

Und das Meer gibt keinen

Von uns zurück

Bei der plissiert getanzten Paloma hat jeder zu schweigen. Da wird man sprachlos und denkt, woran man muss, wenn man auch nicht will. Da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste. Die Zirri lässt die Füße schleifen, ich drücke ihr die Hand ins Kreuz, bis sie wieder in den Takt zurückfindet. Sie hat seit einer Weile den Kopf von mir weggedreht, damit ich ihr Gesicht nicht sehe. Ihr Rücken zittert, ich spüre, wie sie weint. Das Schlurfen ist laut genug, ich sage nichts. Was könnte ich sagen, außer sie soll nicht weinen.

Weil man ohne Zehen nicht tanzen kann, sitzt die Trudi Pelikan am Rand auf der Bank, und ich setze mich zu ihr. Ihre Zehen sind im ersten Winter erfroren. Im Sommer wurden sie unterm Kalkwagen zerquetscht. Im Herbst wurden sie amputiert, weil Würmer unter den Verband kamen. Seither geht die Trudi Pelikan auf den Fersen, zieht die Schultern nach vorn und neigt sich nach hinten. Das macht ihren Buckel rund und die Arme steif wie Schaufelstiele. Weil sie weder auf der Baustelle noch in einer Fabrik oder als Garagenhilfe zu gebrauchen war, wurde sie im zweiten Winter Helferin in der Krankenbaracke.

Wir reden über die Krankenbaracke, dass sie nur eine Krepierstube ist. Die Trudi Pelikan sagt: Wir haben nichts zum Helfen, nur Ichtyol zum Einreiben. Die Feldscherin ist ja Russin und meint, die Deutschen sterben in Wellen. Die Winterwelle ist die größte. Die Sommerwelle die zweitgrößte mit den Epidemien. Im Herbst reift der Tabak, dann kommt die Herbstwelle. Die vergiften sich mit Tabaksud, das ist billiger als Steinkohleschnaps. Und sich mit Glasscherben die Adern ritzen ist ganz umsonst, so wie sich die Hand oder den Fuß abhacken. Und genauso umsonst, aber schwerer ist, sagt die Trudi Pelikan, mit dem Kopf an die Ziegelwand rennen, bis man umfällt.

Die meisten kannte man nur vom Sehen, vom Appell oder aus der Kantine. Ich wusste schon, dass es viele nicht mehr gab. Aber wenn sie nicht vor meinen Augen umgefallen waren, hielt ich sie nicht für tot. Ich habe mich gehütet zu fragen, wo die jetzt sind. Wenn es so viel Anschauungsmaterial von anderen gibt, die schneller abdanken als man selbst, wird die Angst mächtig. Mit der Zeit übermächtig, also zum Verwechseln ähnlich mit Gleichgültigkeit. Wie soll man sonst flink sein, wenn man den Toten als erster entdeckt. Man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor sich ein anderer die Kleider nimmt. Man muss sein gespartes Brot aus dem Kissen nehmen, bevor ein anderer da ist. Das Abräumen ist unsere Art zu trauern. Wenn die Tragbahre in der Baracke ankommt, darf außer einem Leichnam für die Lagerleitung nichts zu holen sein.

Wenn der Tote kein persönlicher Bekannter ist, sieht man nur den Gewinn. Abräumen ist nichts Böses, im umgekehrten Fall würde der Leichnam mit einem dasselbe tun, und man würde es ihm gönnen. Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts zu tun. Ich glaube, je kleiner die Scheu vor den Toten wird, umso mehr hängt man am Leben. Um so mehr ist man für jede Täuschung zu haben. Man redet sich ein, dass die Fehlenden nur in ein anderes Lager gekommen sind. Was man weiß, gilt nicht, man glaubt das Gegenteil. Wie das Brotgericht kennt auch das Abräumen nur die Gegenwart, handelt aber nicht gewalttätig. Es geschieht sachlich und zahm.

Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde

Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank

Und wenn ich sie einst wiederfinde

Dann bleib ich dort mein Leben lang

Das singt unsere Sängerin, die Loni Mich, mit Schweißtropfen auf der Stirn. Und der Zither-Lommer hat sein Instrument auf den Knien, seinen Metallring am Daumen. Nach jeder Liedzeile zupft er ein weiches Echo und singt mit. Und der Kowatsch Anton schiebt die Trommel ein paarmal nach vorn, bis er der Loni zwischen seinen Trommelstöckchen ins Gesicht schielen kann. Die Paare tanzen durch den Gesang und verhopsen sich wie Vögel bei der Landung, wenn scharfer Wind bläst. Die Trudi Pelikan sagt, wir können sowieso nicht mehr gehen, wir können doch nur noch tanzen, wir sind dicke Watte mit wiegendem Wasser und klapprigen Knochen, schwächer als die Trommelschläge. Als Gründe dafür zählt sie mir ihre lateinischen Geheimnisse aus der Krankenbaracke auf.

Polyarthritis. Myokarditis. Dermatitis. Hepatitis. Enzephalitis. Pelagra. Dystrophie mit Schlitzmaul, genannt Totenäffchengesicht. Dystrophie mit steifen kalten Händen, genannt Hahnenkralle. Dementia. Tetanus. Typhus. Ekzeme. Ischias. Tuberkulose. Dann kommen Ruhr mit hellem Blut im Stuhlgang, Furunkel, Geschwüre, Muskelschwund, Dörrhaut mit Krätze, Zahnfleischschrumpfen mit Zahnausfall, Zahnfäulnis. Erfrierungen erwähnt die Trudi Pelikan nicht. Auch nicht die Gesichtserfrierungen mit ziegelroter Haut und eckigen, weißen Flecken, die in der ersten Frühjahrswärme dunkelbraun werden, wie sie schon jetzt die Gesichter der Tanzenden färben. Und weil ich nichts sage und nichts frage, gar nichts, zwickt mich die Trudi Pelikan fest in den Arm und sagt:

Leo, ich meine es ernst, stirb nicht im Winter.

Und der Trommler singt mit der Loni zweistimmig:

Seemann lass das Träumen

Denk nicht an zu Haus

Die Trudi sagt in dieses Lied hinein, dass die Toten den ganzen Winter im Hinterhof gestapelt und mit Schnee zugeschaufelt, ein paar Nächte liegenbleiben, bis sie hart genug gefroren sind. Dass die Totengräber faule Halunken sind, dass sie die Leichen in Stücke hacken, damit sie kein Grab schaufeln müssen, nur ein Loch.

Ich habe der Trudi Pelikan gut zugehört und spüre von allen lateinischen Geheimnissen ein bisschen was in mir. Die Musik ermuntert den Tod, er kann schunkeln.

Ich fliehe aus der Musik in meine Baracke. Auf den beiden Wachtürmen an der Straßenseite des Lagerhofs stehen die Posten schmal und starr wie aus dem Mond gestiegen. Aus den Bewachungslaternen fließt Milch, aus der Wachstube am Lagereingang fliegt Gelächter in den Hof, dort wird wieder Zuckerrübenschnaps gesoffen. Und auf dem Lagerkorso sitzt ein Wachhund. Er hat grüne Glut in den Augen, zwischen seinen Pfoten liegt ein Knochen. Ich glaube, es ist ein Hühnerknochen, ich beneide ihn. Er spürte es und knurrt. Ich muss etwas tun, damit er mich nicht anspringt und sage: Wanja.

Er heißt bestimmt nicht so, schaut mich aber an, als könnte auch er meinen Namen sagen, wenn er nur wollte. Ich muss weg, bevor er es tut, mache große Schritte und drehe mich ein paarmal um, dass er mir ja nicht nachkommt. An der Barackentür angelangt, sehe ich, dass er sich noch immer nicht nach dem Knochen bückt. Er schaut mir noch immer nach oder meiner Stimme und dem Wanja. Auch einem Wachhund geht das Gedächtnis weg und kommt wieder. Und der Hunger geht nicht weg und kommt wieder. Und die Einsamkeit ist wie er. Vielleicht heißt die russische Einsamkeit Wanja.

Angezogen wie ich bin, krieche ich in mein Bettgestell. Wie immer brennt das Dienstlicht überm Holztischchen. Wie immer, wenn ich nicht einschlafen kann, starre ich das Ofenrohr an mit seinen schwarzen Kniefalten und die zwei eisernen Tannenzapfen der Kuckucksuhr. Dann aber sehe ich mich als Kind.

Ich stehe zu Hause in der Verandatür, habe schwarzgelockte Haare und reiche nicht mal bis zur Türklinke. Ich halte mein Stofftier im Arm, einen braunen Hund. Er heißt Mopi. Auf dem offenen Holzgang kommen meine Eltern aus der Stadt. Die Mutter hat an ihrem roten Lacktäschchen die Kette um die Hand gewickelt, damit sie beim Treppensteigen nicht so rasselt. Der Vater trägt den weißen Strohhut in der Hand. Er geht ins Zimmer. Die Mutter bleibt stehen, streicht mir die Haare aus der Stirn und nimmt mir das Kuscheltier weg. Sie legt es auf den Verandatisch, am Lacktäschchen rasselt die Kette, und ich sage:

Gib mir den Mopi, sonst bin ich allein.

Sie lacht: Du hast doch mich.

Ich sage: Du kannst doch sterben, der Mopi nicht.

Aus dem leichten Schnarchen der Schwachen, die nicht mehr tanzen gehen, höre ich meine Kinderstimme. Sie ist so samtig, dass sie mich gruselt. Kuscheltier, was für ein Wort für einen Stoffhund, ausgestopft mit Sägemehl. Und jetzt im Lager nichts als kuschen, oder wie nennt man das Schweigen aus Angst. Und kuschet heißt auf Russisch Essen. Jetzt will ich nicht auch noch ans Essen denken. Ich tauche in den Schlaf und ich träume.

Ich bin auf einem weißen Schwein durch den Himmel nach Hause geritten. Aus der Luft oben ist das Land gut zu erkennen, die Umrisse stimmen, sie sind sogar eingezäunt. Aber im Land stehen herrenlose Koffer herum und dazwischen grasen herrenlose Schafe. Um ihre Hälse hängen Tannenzapfen, die läuten aber wie Glöckchen. Ich sage:

Das ist ein großer Schafstall mit Koffern oder ein großer Bahnhof mit Schafen. Da wohnt doch niemand mehr, wo soll ich jetzt hin.

Der Hungerengel sieht mich aus dem Himmel an und sagt:

Reit zurück.

Ich sage: Dann sterbe ich doch.

Wenn du stirbst, mache ich alles orange, und es tut nicht weh, sagt er.

Und ich reite zurück, und er hält Wort. Während ich sterbe, ist der Himmel über allen Wachtürmen orange, und es tut nicht weh.

Dann wache ich auf und wische mir mit dem Kissen die Mundwinkel aus. Diesen Platz lieben die Wanzen in der Nacht.

Загрузка...