Zement

Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da.

Der Brigadier schrie: Auf Zement muss man aufpassen.

Der Vorarbeiter schrie: Zement muss man sparen.

Und wenn der Wind ging: Zement darf nicht wegfliegen.

Und wenn es regnete oder schneite: Zement darf nicht nass werden.

Zementsäcke sind aus Papier. Das Zementsackpapier ist zu dünn für einen vollen Sack. Man kann den Sack allein oder zu zweit tragen, am Bauch oder an seinen vier Ecken packen — er reißt. Mit einem zerrissenen Sack kann man Zement nicht mehr sparen. Bei einem trockenen zerissenen Zementsack läuft die Hälfte auf den Boden. Bei einem feuchten zerrissenen Zementsack bleibt die Hälfte am Papier kleben. Man kann es nicht ändern, je mehr man Zement spart, um so mehr verausgabt sich der Zement. Der Zement ist ein Betrug wie Straßenstaub, Nebel und Rauch — er fliegt in der Luft, kriecht auf der Erde, klebt an der Haut. Überall ist er zu sehen und nirgends zu fassen.

Zement muss man sparen, aber aufpassen muss man beim Zement auf sich selbst. Man trägt den Sack mit Gefühl, trotzdem wird der Zement immer weniger. Man wird als Wirtschaftsschädling beschimpft, als Faschist, Saboteur und Zementdieb. Man stolpert durchs Geschrei und stellt sich taub. Den Mörtelkarren schiebt man auf einem schiefen Brett das Gerüst hinauf zu den Maurern. Das Brett schwingt, man hält sich am Karren fest. Man könnte bei dem Schwingen in den Himmel fliegen, weil der leere Magen in den Kopf steigt.

Was wollen die Zementwächter mit ihrem Verdacht. Als Zwangsarbeiter hat man nichts als eine Pufoaika, einen Watteanzug, am Leib und in der Baracke einen Koffer und ein Bettgestell. Wozu sollte man Zement stehlen. Man nimmt ihn nicht als Diebstahl mit, sondern als zudringlichen Dreck. Jeden Tag hat man seinen blinden Hunger, aber Zement kann man nicht essen. Man friert oder schwitzt, aber Zement wärmt nicht und kühlt nicht. Er schürt den Verdacht, weil er fliegt und schleicht und klebt, weil er hasengrau, samtig und amorph ohne Grund verschwindet.

Die Baustelle war hinterm Lager, neben dem Pferdestall, in dem es nur Futtertröge und längst kein Pferd mehr gab. Es wurden sechs Wohnhäuser für Russen gebaut, sechs Zweifamilienhäuser, sagte man uns. Jedes Haus hatte drei Zimmer. Aber wohnen werden in jedem mindestens fünf Familien, dachten wir uns, weil wir beim Hausieren die Armut der Leute sahen und die vielen mageren Schulkinder. Mädchen wie Jungen, alle kahlgeschoren, alle in hellblauen Flügelkleidchen. Immer paarweise, händchenhaltend im Gänsemarsch mit heroischen Liedern durch den Schlamm neben der Baustelle. Hinten und vorn stapfte eine runde stumme Madame, schaute verdrießlich und schaukelte den Hintern wie ein Schiff.

Auf der Baustelle gab es acht Brigaden. Sie gruben Fundamente, schleppten Schlackoblocksteine und Zementsäcke, rührten die Kalkmilch und die Betonmischung an, gossen die Fundamente aus, machten Mörtel für die Maurer, trugen ihn mit der Trage, schoben ihn mit dem Schubkarren aufs Gerüst, machten den Verputz für die Wände. Die sechs Häuser wurden alle gleichzeitig gebaut, ein Hin- und Herlaufen, alles ging durcheinander, und es tat sich fast nichts. Man sah die Maurer, den Mörtel und die Ziegel auf dem Gerüst, aber man sah nicht, dass die Mauern wuchsen.

Es ist das Vertrackte am Bauen — wenn man den ganzen Tag hinschaut, sieht man nicht, wie die Wände wachsen. Nach drei Wochen sind sie dann plötzlich hoch, sie müssen gewachsen sein. Vielleicht über Nacht, selbständig wie der Mond. So unbegreiflich wie der Zement verschwindet, wachsen auch die Wände. Man wird herumkommandiert, fängt etwas an und wird weggejagt. Man wird geohrfeigt und getreten. Man wird innen stur und schwermütig und außen hündisch und feig. Der Zement frisst das Zahnfleisch wund. Wenn man den Mund öffnet, zerreißen die Lippen wie Zementsackpapier. Man hält den Mund und gehorcht.

Höher als jede Wand wächst das Misstrauen. In dieser Baustellenschwermut verdächtigt jeder den anderen, dass er am Zementsack das leichtere Ende zu tragen hat, dass er einen ausnützt und sich schont. Jeder wird vom Geschrei erniedrigt, vom Zement hintergangen, von der Baustelle betrogen. Höchstens wenn einer stirbt, sagt der Vorarbeiter: Schalko, otschin Schalko, sehr schade. Gleich danach wechselt er den Ton und sagt: Wnimanije, Achtung.

Man schuftet und hört seinen eigenen Herzschlag und: Zement muss man sparen, auf Zement muss man aufpassen, Zement darf nicht nass werden, Zement darf nicht wegfliegen. Aber Zement streut sich, ist selbstvergeuderisch und mit uns geizig bis ins Letzte. Wir leben so, wie der Zement es will. Er ist ein Dieb, er hat uns gestohlen, nicht wir ihn. Und nicht nur das, vom Zement wird man gehässig. Der Zement sät das Misstrauen, indem er sich streut, der Zement ist ein Intrigant.

Jeden Abend auf dem Heimweg, in der nötigen Entfernung vom Zement, mit dem Rücken zur Baustelle, habe ich gewusst, dass nicht wir uns gegenseitig betrügen, sondern alle betrogen werden von den Russen und ihrem Zement. Aber am nächsten Tag kam wieder der Verdacht, gegen mein Wissen und gegen alle. Und das haben alle gespürt. Und alle gegen mich. Und das habe ich gespürt. Der Zement und der Hungerengel sind Komplizen. Der Hunger reißt die Poren auf und kriecht hinein. Wenn er drin ist, klebt der Zement sie zu, man ist zementiert.

Zement kann tödlich werden im Zementturm. Er ist 40 Meter hoch, fensterlos, leer. Fast leer, aber man kann darin ertrinken. Bei der Größe des Turms sind es kleine Reste, doch sie liegen frei herum, nicht abgefüllt in Säcken. Wir scharren sie mit bloßen Händen in Eimer. Es ist alter Zement, aber fies und alert. Er ist quicklebendig und lauert uns auf, rutscht uns grau und stumm entgegen, schneller als wir zucken und weglaufen können. Zement kann fließen, und er rinnt dann schneller als Wasser, und flacher. Man kann erfasst werden vom Zement und ertrinken.

Ich wurde zementkrank. Wochenlang habe ich überall Zement gesehen: Der klare Himmel war glattgestrichener Zement, der bewölkte Himmel voller Zementhaufen. Der Regen knüpfte vom Himmel auf die Erde seine Schnüre aus Zement. Mein graugesprenkelter Blechnapf war aus Zement. Die Wachhunde trugen ein Fell aus Zement, auch die Ratten im Küchenabfall hinter der Kantine. Die Blindschleichen krochen zwischen den Baracken in einem Strumpf aus Zement. Die Maulbeerbäume, eingesponnen mit Raupennestern, Trichter aus Seide und Zement. Ich wollte sie mir, wenn die Sonne grell schien, von den Augen wischen, aber da waren sie nicht. Und auf dem Appellplatz am Brunnenrand saß abends ein Vogel aus Zement. Sein Gesang war kratzig, ein Lied aus Zement. Der Advokat Paul Gast kannte den Vogel von zu Hause, eine Kalanderlerche. Ich fragte: Ist sie bei uns auch aus Zement. Er zögerte, bevor er sagte: Bei uns kommt sie aus dem Süden.

Das andere fragte ich ihn nicht, weil man es in den Dienststuben auf den Bildern sah und aus dem Lautsprecher hörte: Stalins Backenknochen und seine Stimme waren aus Gusseisen, sein Schnurrbart jedoch aus purem Zement.

Im Lager war man immer dreckig von jeder Arbeit. Doch kein Dreck war so zudringlich wie der Zement. Zement ist unausweichlich wie der Staub der Erde, man sieht nicht, woher er kommt, denn er ist schon da. Außer dem Hunger ist im Kopf des Menschen nur das Heimweh so schnell wie der Zement. Und es stiehlt einen auch so, und man kann darin auch so ertrinken. Mir scheint, nur eins ist im Kopf des Menschen noch schneller als der Zement — die Angst. Und nur so kann ich mir erklären, dass ich schon im Frühsommer auf der Baustelle heimlich auf ein Stück von dem dünnen braunen Zementsackpapier notieren musste:

SONNE HOCH IM SCHLEIER

GELBER MAIS, KEINE ZEIT

Mehr schrieb ich nicht, denn Zement muss man sparen. Im Grunde wollte ich etwas ganz anderes notieren:

Tief und schief und rötlich lauernd

steht der halbe Mond am Himmel

schon im Untergehen

Das habe ich mir dann geschenkt, ich hab es mir still in den Mund gesagt. Es ist gleich zerbrochen, in den Zähnen hat mir der Zement geknirscht. Dann habe ich geschwiegen.

Auch Papier muss man sparen. Und gut verstecken. Wer mit beschriebenem Papier erwischt wird, kommt in den Karzer — ein Betonschacht, elf Stufen unter der Erde, so eng, dass man nur stehen kann. Stinkig von Exkrementen und voll mit Ungeziefer. Oben zugesperrt mit einem Eisengitter.

Am Abend auf dem Heimweg im Schlurfen der Schritte hab ich mir oft gesagt: Der Zement wird immer weniger, er kann von sich aus verschwinden. Ich bin doch auch aus Zement und werde auch immer weniger. Wieso kann ich nicht verschwinden.

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