Zeppelin

Wo keine Koksbatterien, Exhaustoren und dampfenden Rohre sind, wo nur noch die weiße Kühlturmwolke von hoch oben hinsieht, wenn sie weit hinaus in die Steppe fliegt, wo die letzten Schienen enden und wir von der Jama aus beim Kohleabladen nur blühendes, über den Bauschutt wachsendes Unkraut sehen, also dort, wo hinter der Fabrik die Erde kahl und am schäbigsten ist, bevor sie in die Wildnis übergeht, kreuzen sich Trampelpfade. Und sie führen zu einem riesigen verrosteten Rohr, einem ausrangierten Mannesmann-Vorkriegsrohr. Es ist 7 bis 8 Meter lang und 2 Meter hoch. An einem Ende, am Kopfende in Richtung Jama, ist es zugeschweißt wie eine Zisterne. Am anderen, am Fußende in Richtung Brachland, ist es offen. Ein mächtiges Rohr, niemand weiß, wie es hierherkam. Seit wir ins Lager gekommen sind, weiß man wenigstens, wofür es gut ist. Alle nennen es ZEPPELIN.

Der Zeppelin selbst schwebt nicht silbrig im Himmel, aber den Verstand bringt er zum Schweben. Er ist ein Stundenhotel, das von der Lagerleitung und den Natschalniks geduldet wird. Im Zeppelin treffen sich unsere Lagerfrauen mit den deutschen Kriegsgefangenen, die hier in der Nähe im Brachland oder in den zerbombten Fabriken den Bauschutt wegräumen. Der Kowatsch Anton hat gesagt, sie kommen zur Katzenhochzeit mit unseren Frauen. Mach doch mal, wenn du Kohle schaufelst, die Augen auf.

Noch im Stalingrad-Sommer, in diesem letzten Sommer auf der Veranda zu Hause, hat aus dem Radio eine liebesdurstige, reichsdeutsche Frauenstimme gesagt:

Jede deutsche Frau schenkt dem Führer ein Kind.

Meine Fini-Tante hat meine Mutter gefragt: Wie machen wir das, kommt jetzt der Führer jeden Abend zu einer von uns nach Siebenbürgen, oder fahren wir alle der Reihe nach zu ihm ins Reich.

Es gab sauren Hasen, meine Mutter hat die Soße von einem Lorbeerblatt geleckt, das Blatt langsam durch den Mund gezogen. Und als es saubergeleckt war, hat sie es in ihr Knopfloch gesteckt. Ich hab mir gedacht, sie machen sich nur zum Schein über ihn lustig. Ihren Glitzeraugen sieht man an, dass sie sich das mehr als ein bisschen wünschen. Mein Vater hat das auch gesehen, er hat die Stirn gerunzelt und eine Weile vergessen zu kauen. Und meine Großmutter hat gesagt: Ich dachte, ihr wollt keine Männer mit Schnurrbart. Schickt dem Führer ein Telegramm, er soll sich vorher rasieren.

Da die Jama nach der Arbeit verlassen dalag und die Sonne noch grell über die Gräser schien, ging ich auf einem Trampelpfad zum Zeppelin und schaute hinein. Am Eingang war das Innenrohr schattig, in der Mitte dämmerig und ganz hinten sackdunkel. Am nächsten Tag machte ich beim Kohleschaufeln die Augen auf. Am späten Nachmittag sah ich Männer zu dritt oder viert durchs Unkraut kommen. Sie trugen andere Pufoaika-Jacken als wir, gestreifte. Kurz vor dem Zeppelin setzten sie sich bis übern Hals ins tiefe Gras. Bald hing am Eingang des Rohrs ein zerrissener Kissenbezug an einem Stecken, ein Zeichen für besetzt. Etwas später war das Fähnchen weg. Bald erschien es wieder und verschwand auch wieder. Sobald die ersten Männer weg waren, kamen die nächsten drei, vier und setzten sich ins Gras.

Ich sah auch, dass ganze Frauenbrigaden die Katzenhochzeiten deckten. Während drei, vier Frauen ins Unkraut gingen, verwickelten die anderen den Natschalnik in Gespräche. Wenn er dann doch nach den Weggegangenen fragte, erklärten sie ihm, dass die Frauen wegen Magenkrämpfen und Durchfall ins Unkraut mussten. Das stimmte auch für einige, für wie viele konnte er ja nicht feststellen. Der Nataschalnik kaute auf den Lippen, hörte eine Zeitlang zu, drehte dann aber den Kopf immer häufiger in Richtung Zeppelin. Ab dem Punkt bemerkte ich, dass die Frauen eingreifen mussten, dass sie mit unserer Sängerin Loni Mich flüsterten, und die Loni glassirrend zu pfeifen begann, lauter als der ganze Krach beim Schaufeln:

Abendstille überall

Nur im Tal die Nachtigall

Und dann waren die Verschwundenen gleich da. Sie drängten sich zwischen uns und schaufelten, als wäre nichts gewesen.

Mir gefiel der Name Zeppelin, er stand im Einklang mit dem silbrigen Vergessen unseres Elends, mit der katzeneiligen Paarung. Ich verstand, dass diese fremden Deutschen alles hatten, was unseren Männern fehlte. Sie waren vom Führer in die Welt geschickt als Soldaten, und sie waren im richtigen Alter, nicht so kindjung und nicht so überreif wie unsere Männer. Armselig und degradiert waren auch sie, hatten aber vorher im Krieg gekämpft. Für unsere Frauen waren sie Helden, etwas Besseres als die Abendliebe mit einem Zwangsarbeiter im Barackenbett hinter der Decke. Die Abendliebe blieb weiterhin unverzichtbar. Aber sie roch für unsere Frauen nach ihrer eigenen Mühsal, nach derselben Kohle und demselben Heimweh. Und sie führte immer ins alltägliche Geben und Nehmen. Der Mann hatte fürs Essen zu sorgen, die Frau für Wäsche und Trost. Im Zeppelin hatte die Liebe außer dem Hissen und Einholen des weißen Fähnchens keinerlei Sorgen.

Das traute mir der Kowatsch Anton nicht zu, dass ich den Frauen den Zeppelin gönnte. Dass ich im Kopf dieselbe Fährte trug, als Eingeweihter die Erregung in verrutschten Kleidern kannte, die streunende Lust und ihr schnappendes Glück im Erlenpark und im Neptunbad. Dass ich die Rendezvous jetzt öfter durchging, das traute mir niemand zu. Schwalbe, Tanne, Ohr, Faden, Pirol, Mütze, Hase, Katze, Möwe. Dann Perle. Dass ich diese Decknamen im Kopf und im Nacken soviel Schweigen trug, traute mir hier niemand zu.

Auch im Zeppelin hatte die Liebe ihre Jahreszeiten. Im zweiten Jahr machte der Winter dem Zeppelin ein Ende. Danach der Hunger. Als der Hungerengel hysterisch mit uns herumlief, als die Hautundknochenzeit da war, als Männlein und Weiblein nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, wurde auf der Jama weiter Kohle abgeladen. Nur die Trampelpfade im Unkraut wuchsen zu. Und die Vogelwicke kletterte lila zwischen weißer Schafgarbe und rotem Meldekraut, die blauen Kletten blühten und die Disteln auch. Der Zeppelin schlief und gehörte dem Rost, so wie die Kohle dem Lager, die Gräser der Steppe und wir dem Hunger gehörten.

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