Einmal war mein Hungerengel Advokat

Erzählt das nie meinem Mann, hat die Heidrun Gast gesagt.

Es war an einem Tag, als sie zwischen der Trudi Pelikan und mir sitzen konnte, weil der Advokat Paul Gast nicht zum Essen kam, seine Zähne eiterten. An dem Tag konnte die Heidrun Gast auch reden.

Sie erzählte, dass in der Decke zwischen der Autowerkstatt und der ausgebombten Fabrikhalle ein Loch so groß wie eine Baumkrone ist. In der Fabrikhalle oben wird Schutt geräumt. Manchmal liegt unten in der Werkstatt eine Kartoffel auf dem Boden, die ein Mann von oben für Heidrun Gast herunterwirft. Immer derselbe Mann. Heidrun Gast schaut zu ihm hinauf, und er schaut herunter. Reden können sie nicht, er ist oben auch so bewacht wie sie in der Werkstatt. Der Mann trägt eine gestreifte Pufoaika, er ist ein deutscher Kriegsgefangener. Letztes Mal lag eine sehr kleine Kartoffel zwischen den Werkzeugkisten. Es kann sein, dass Heidrun Gast sie gar nicht gleich gefunden hat und sie schon ein zwei Tage dort lag. Entweder hat der Mann sie schneller als sonst herunterwerfen müssen, oder sie ist, weil sie so klein war, weiter als sonst weggekullert. Vielleicht hat er sie auch absichtlich woanders hinwerfen wollen. Im ersten Moment war sich Heidrun Gast nicht sicher, ob sie wirklich von dem Mann oben ist und nicht vom Natschalnik hingelegt, um sie in die Falle zu locken. Sie stieß die Kartoffel mit der Schuhspitze halb unter die Treppe, dass man sie nur sehen konnte, wenn man wusste, dass sie dort liegt. Sie wollte abwarten, ob der Natschalnik sie nicht belauert. Erst vor Feierabend nahm sie die Kartoffel und spürte beim Aufheben, dass um sie herum ein Faden gebunden war. Wie immer hat die Heidrun Gast auch an dem Tag, so oft sie konnte, durch das Loch hinaufgeschaut, den Mann aber nicht mehr gesehen. Als sie am Abend in ihre Baracke kam, biss sie den Faden ab. Die Kartoffel war durchgeschnitten. Zwischen den Kartoffelhälften lag ein Tuchfetzen. ELFRIEDE RO stand darauf, ERSTRAS, ENSBU und ganz unten EUTSCHLA. Die anderen Buchstaben waren von der Kartoffelstärke gefressen. Als der Advokat nach dem Kantinenfraß in seine Baracke gegangen war, warf die Heidrun Gast den Fetzen in ein spätes Feuerchen im Hof und röstete die zwei Kartoffelhälften. Ich weiß, sagte sie, dass ich eine Nachricht gegessen habe, das war vor einundsechzig Tagen. Nach Hause durfte er bestimmt nicht, und gestorben ist er auf keinen Fall, er war noch gesund. Er ist vom Erdboden verschwunden, sagte sie, wie diese Kartoffel in meinem Mund. Er fehlt mir.

In ihren Augen zuckte eine dünne Eishaut. Ihre Wangendellen klebten weißhaarig an den Knochen. Es konnte für ihren Hungerengel kein Geheimnis sein, dass bei ihr nichts mehr zu holen ist. Mir war unwohl, als ob ihr Hungerengel sie um so schneller verlassen würde, je mehr sie mir vertraut. Als ob er bei mir einziehen würde.

Nur der Hungerengel könnte Paul Gast verbieten, seiner Frau das Essen zu stehlen. Aber der Hungerengel ist doch selber ein Dieb. Alle Hungerengel kennen sich, dachte ich, wie wir uns kennen. Alle haben unsere Berufe. Der Hungerengel von Paul Gast ist Advokat, wie er. Und der von Heidrun Gast ist nur der Handlanger von seinem. Auch meiner ist nur Handlanger, wer weiß von wem.

Ich sagte: Heidrun, iss die Suppe.

Ich kann nicht, sagte sie.

Ich griff nach der Suppe. Auch die Trudi Pelikan schielte nach ihr. Auch der Albert Gion von vis-à-vis. Ich begann zu löffeln, die Löffel zählte ich nicht. Ich schlürfte nicht einmal, weil das länger dauert. Ich aß ganz für mich, ohne Heidrun Gast und Trudi Pelikan und Albert Gion. Ich vergaß alles um mich, die ganze Kantine. Ich zog mir die Suppe ins Herz. Vor diesem Teller war mein Hungerengel kein Handlanger, sondern ein Advokat.

Den leeren Teller schob ich zur Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihren kleinen Finger stieß. Sie leckte ihren unbenutzten Löffel ab und wischte ihn an der Jacke trocken, als hätte sie gegessen, nicht ich. Entweder wusste sie nicht mehr, ob sie isst oder zuschaut. Oder wollte sie so tun, als ob sie gegessen hätte. So oder so sah man ihren Hungerengel ausgestreckt in ihrem Schlitzmaul liegen, außen gnädigblass und innen dunkelblau. Es war nicht auszuschließen, dass er sogar waagerecht stehen konnte. Und es war sicher, dass er im Fetzenwasser der Krautsuppe ihre verbliebenen Tage zählte. Es kann aber auch sein, dass er die Heidrun Gast vergaß und die Waage an meinem Gaumenzäpfchen schärfer stellte. Dass er beim Essen rechnete, wie viel an mir in welcher Zeit zu holen ist.

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