Vom Eigenbrot zum Wangenbrot

In die Brotfalle tappt jeder.

In die Falle der Standhaftigkeit beim Frühstück, in die Falle des Brottausches beim Abendessen, in die Falle der Nacht mit dem gesparten Brot unterm Kopf. Die schlimmste Falle des Hungerengels ist die Falle der Standhaftigkeit: Hunger haben und Brot haben, es aber nicht essen. Härter sein gegen sich selbst als tiefgefrorene Erde. Der Hungerengel sagt jeden Morgen: Denk an den Abend.

Abends vor der Krautsuppe wird Brot getauscht, denn das Eigenbrot scheint immer kleiner als das Brot der anderen. Und den anderen geht es genauso.

Vor dem Tausch kommt ein schleudernder Moment ins Hirn und nach dem Tausch sofort ein zweifelnder. Nach dem Tausch, in der Hand des anderen, ist mein weggegebenes Brot größer, als es in meiner Hand war. Und was ich bekommen habe, ist in meiner Hand geschrumpft. Wie schnell sich der andere wegdreht, er hat bessere Augen als ich, er hat profitiert. Ich muss wieder tauschen. Aber dem anderen geht es genauso, er glaubt, ich habe profitiert und ist auch beim Zweittausch. Und wieder schrumpft das Brot in meiner Hand. Ich suche mir einen Dritten und tausche. Andere essen schon. Wenn der Hunger es noch eine Weile aushält, kommt es zum Vierttausch, zum Fünfttausch. Und wenn gar nichts mehr hilft, dann kommt es zum Rücktausch. Dann habe ich wieder mein Eigenbrot.

Brottauschen ist immer nötig. Es geht schnell und immer scharf daneben. Das Brot betrügt dich wie der Zement. So wie man zementkrank wird, kann man vom Brot tauschkrank werden. Der Brottausch ist das Gepolter des Abends, ein glitzriges Geschäft mit den Augen und ein zittriges mit den Fingern. Morgens tasten die Schnäbel an der Brotwaage, abends tasten die Augen. Für den Brottausch sucht man nicht nur das richtige Brot, man sucht sich auch das richtige Gesicht. Man taxiert beim anderen das Schlitzmaul. Am besten ist es schmal und lang wie ein Stück von der Sense. Man taxiert den Hungerpelz in seinen Wangendellen, ob die feinen weißen Haare lang und dicht genug sind. Vor dem Hungertod wächst ein Hase im Gesicht. Da denkt man sich, dass bei dem das Brot schon vergeudet ist, dass sich bei dem das Nähren nicht mehr auszahlt, weil bald der weiße Hase ausgewachsen ist. Deshalb nennt man das getauschte Brot von denen mit dem weißen Hasen Wangenbrot.

Morgens hat man keine Zeit, aber es gibt auch nichts zu tauschen. Das frischgeschnittene Brot sieht gleich aus. Bis abends ist jede Scheibe anders getrocknet, eckig gerade oder bauchig krumm. Aus der Optik des Trocknens kommt das Gefühl, dass dein Brot dich betrügt. Dieses Gefühl haben alle, auch wenn sie nicht tauschen. Und beim Tauschen wird das Gefühl stimuliert. Man wechselt von einer optischen Täuschung zur anderen. Danach ist man immer noch betrogen, aber müde. Der Tausch vom Eigenbrot zum Wangenbrot hört auf, wie er anfängt, plötzlich. Das Gepolter ist weg, der Blick geht auf die Suppe. In einer Hand hält man das Brot, in der anderen den Löffel.

Ganz allein im Rudel fängt jeder an, seine Suppe zu strecken. Auch die Löffel sind ein Rudel, auch die Blechteller, auch das Schlürfen und das Geschiebe der Füße unter den Tischen. Die Suppe wärmt, sie lebt im Hals. Ich schlürfe laut, ich muss die Suppe hören. Ich zwinge mich, die Löffel nicht zu zählen. Ungezählt werden es mehr als 16 oder 19. Ich muss diese Zahlen vergessen.

Eines Abends tauschte der Akkordeonspieler Konrad Fonn mit der Planton-Kati. Sie gab ihm ihr Eigenbrot, aber er gab ihr ein viereckiges Stückchen Holz in die Hand. Sie biss darauf, staunte groß und schluckte leer. Niemand außer dem Akkordeonspieler lachte. Und Karli Halmen nahm der Planton-Kati das Brettchen und versenkte es in der Krautsuppe des Akkordeonspielers. Der Planton-Kati gab er ihr Brot zurück.

Jeder tappt in die Brotfalle. Aber aus dem Wangenbrot der Planton-Kati darf niemand sein Eigenbrot machen. Auch dieses Gesetz gehört zum Brotgericht. Wir haben im Lager gelernt, die Toten abzuräumen, ohne uns zu gruseln. Wir ziehen sie aus, bevor die Starre kommt, wir brauchen ihre Kleider, um nicht zu erfrieren. Und wir essen ihr gespartes Brot. Nach dem letzten Atemzug ist der Tod für uns ein Gewinn. Aber die Planton-Kati lebt, auch wenn sie nicht weiß, wo sie ist. Wir wissen es und behandeln sie wie unser Eigentum. An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun. Solang sie zwischen uns lebt, gilt für uns, dass wir zu allerhand, aber nicht zu allem fähig sind. Dieser Umstand zählt wahrscheinlich mehr als die Planton-Kati selbst.

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