Der Blechkuss

Nach dem Abendessen ging ich zur Nachtschicht in den Keller. Am Himmel war eine Aufhellung. Vom Russendorf flog eine Vogelschar wie eine graue Halskette aufs Lager zu. Ich weiß nicht, ob die Vögel oben in der Aufhellung quietschten oder in meinem Mund am Gaumensegel. Ich weiß auch nicht, ob sie mit den Schnäbeln quietschten oder die Füße aneinanderrieben oder an den Flügeln alte Knochen ohne Knorpel hatten.

Auf einmal war von der Halskette ein Stückchen abgerissen, es teilte sich in Schnurrbärte. Drei davon flogen dem Soldaten vom hinteren Wachturm unterhalb der Mütze in die Stirn. Sie blieben lange dort. Erst als ich mich drüben am Fabriktor noch einmal umdrehte, flogen sie unterhalb der Mütze aus seinem Hinterkopf heraus. Sein Gewehr wackelte, der Wachsoldat blieb starr. Ich dachte, er ist aus Holz gebaut und das Gewehr aus Fleisch.

Mit dem Wachsoldaten auf dem Turm wollte ich nicht tauschen, auch nicht mit der Vogelkette. Auch der Schlackearbeiter, der jeden Abend dieselben 64 Stufen hinunter in den Keller geht, wollte ich nicht sein. Aber tauschen wollte ich. Ich wollte, glaube ich, das Gewehr sein.

In der Nachtschicht kippte ich wie immer ein Wägelchen nach dem andern, und der Albert Gion ging stoßen. Dann tauschten wir. Die heiße Schlacke nebelte uns ein. Die Glutbrocken rochen nach Tannenharz und mein verschwitzter Hals nach Honigtee. Dem Albert Gion schaukelte das Augenweiß wie zwei geschälte Eier und seine Zähne wie ein Läusekamm. Und sein schwarzes Gesicht war nicht bei ihm im Keller.

In der Pause, auf dem Schweigebrett, beleuchtete das kleine Koksfeuer unsere Schuhe bis zum Knie. Der Albert Gion knöpfte sich die Jacke auf und fragte: Vermisst die Heidrun Gast mehr den Deutschen oder die Kartoffeln. Die hat den Faden doch schon öfter abgebissen, wer weiß, was auf die anderen Fetzen geschrieben war. Der Advokat hat recht, wenn er ihr Essen stiehlt. Alte Ehe macht hungrig, Untreue macht satt. Der Albert Gion tupfte mir aufs Knie. Als Zeichen, dass die Pause um ist, dachte ich. Doch er sagte: Morgen kriege ich die Suppe, was meint dein Minkowski-Draht dazu. Mein Minkowski-Draht schwieg. Wir blieben stumm noch eine Weile sitzen. Meine schwarze Hand sah man nicht auf der Bank. Seine auch nicht.

Am nächsten Tag saß Paul Gast trotz der eiternden Zähne wieder neben seiner Frau in der Kantine. Er konnte wieder essen, und Heidrun Gast konnte wieder schweigen. Mein Minkowski-Draht meinte dazu, dass ich enttäuscht war, wie so oft. Und dass der Albert Gion so gehässig war wie sonst nie. Er wollte dem Advokaten das Essen verderben und suchte Streit. Er warf ihm sein unausstehlich lautes Schnarchen vor. Dann wurde ich gehässig und versicherte dem Albert Gion, dass er lauter schnarcht als der Advokat. Der Albert Gion war außer sich, dass ich ihm den Streit verdorben hatte. Er hob die Hand gegen mich, und sein knochiges Gesicht glich einem Pferdekopf. Während wir noch stritten, tauchte der Advokat seinen Löffel schon längst in den Teller seiner Frau. Ihr Löffel tauchte immer seltener und seiner immer öfter. Er schlürfte, und seine Frau fing an zu husten, damit sie mit dem Mund etwas tut. Und beim Husten hielt sie sich den Mund zu und spreizte wie eine Dame ihren kleinen Finger, der von der Schwefelsäure zerfressen und vom Schmieröl so dreckig war wie alle Finger hier in der Kantine. Saubere Hände hatte nur der Rasierer Oswald Enyeter, aber sie waren so dunkel wie unsere Hände vom Dreck, denn sie waren behaart als wären sie von den Erdhunden geliehen. Auch die Trudi Pelikan hatte saubere Hände, seit sie Krankenschwester war. Sauber schon, aber gelbbraun verfärbt vom Einreiben der Kranken mit Ichtyol.

Während ich mir über den gespreizten Finger der Heidrun Gast und den Zustand unserer Hände Gedanken machte, kam Karli Halmen und wollte mit mir Brot tauschen. Für Brottausch hatte ich den Kopf nicht frei, ich wehrte ab und blieb bei meinem Eigenbrot. Er tauschte dann mit dem Albert Gion. Da tat es mir leid, das Brotstück, von dem der Albert Gion jetzt abbiss, schien um ein Drittel größer als meines.

Rundherum an allen Tischen schepperte das Blech. Jeder Löffel Suppe ist ein Blechkuss, dachte ich. Und der eigene Hunger ist für jeden eine fremde Macht. Wie gut ich das in dem Moment wusste, wie schnell ich es wieder vergaß.

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