Von den Langeweilen

Heute habe ich keine Frühschicht, keine Nachmittagsschicht und keine Nachtschicht. Nach der letzten Nachtschicht kommt immer der lange Mittwoch. Er ist mein Sonntag und hört erst am Donnerstag um zwei Uhr mittags auf. Ich habe zu viel freie Luft um mich. Ich müsste mir die Nägel schneiden, aber letztes Mal schien es mir, als würde ich sie an meinen Fingern jemand anderem schneiden. Ich wusste nicht, wem.

Durchs Barackenfenster sieht man den Korso bis zur Kantine. Da kommen die zwei Zirris, sie tragen einen Eimer, darin wird Kohle sein, er ist schwer. An der ersten Bank sind sie vorbei, auf die zweite setzen sie sich, weil sie eine Lehne hat. Ich könnte das Fenster öffnen und winken oder hinausgehen. Schon schlüpfe ich in die Galoschen und bleibe dann in den Galoschen auf dem Bett sitzen.

Es gibt den langweiligen Größenwahn des Gummiwurms in der Kuckucksuhr, das schwarze Knie am Ofenrohr. Auf dem Boden liegt der Schatten des abgenutzten Holztischchens. Wenn sich die Sonne dreht, wird sein Schatten neu. Die Langeweile des Wasserspiegels im Blecheimer gibt es und das Wasser in meinen aufgepumpten Beinen. Die Langeweile der eigenen aufgerissenen Hemdnaht und der geliehenen Nähnadel gibt es und die zittrige Langeweile des Nähens, bei dem mir das Hirn über die Augen rutscht, und die Langeweile des abgebissenen Fadens gibt es.

Bei den Männern gibt es die Langeweile der unkennbaren Depressionen bei ihrem brummigen Kartenspielen ohne jede Passion. Mit einem guten Blatt muss man gewinnen wollen, doch die Männer brechen ihr Spiel ab, bevor einer gewonnen oder verloren hat. Und bei den Frauen gibt es die Langeweile des Gesangs, ihre Heimwehlieder beim Entlausen in der Langeweile der soliden Läusekämme aus Horn und Bakelit. Und es gibt die Langeweile der schartigen Blechkämme, die nichts nützen. Die Langeweile des Kahlscherens gibt es und die Langeweile der Schädel wie Porzellandosen, dekoriert mit Eiterblümchen und Girlanden aus frischen und abflauenden Läusebissen. Auch die stumme Langeweile der Planton-Kati gibt es. Die Planton-Kati singt nie. Ich habe sie gefragt: Kati, kannst du nicht singen. Sie hat gesagt: Ich hab mich schon gekämmt. Siehst du, ohne Haare kratzt der Kamm.

Der Lagerhof ist ein leeres Dorf in der Sonne, die Zacken der Wolken sind Feuer. Meine Fini-Tante zeigte auf der Bergwiese in die Abendsonne. Ein Windschub hatte ihre Haare hochgehoben wie ein Vogelnest und ihren Hinterkopf mit einem weißen Scheitel in der Mitte durchgeschnitten. Und sie sagte: Das Christkind backt Kuchen. Ich fragte: Schon jetzt. Schon jetzt, sagte sie.

Es gibt die Langeweile der vergeudeten Gespräche, um nicht zu sagen Gelegenheiten. Für einen schlichten Wunsch verbraucht man viele Wörter und vielleicht bleibt keines hängen. Oft meide ich Gespräche, und wenn ich sie suche, habe ich Angst vor ihnen, am meisten vor denen mit Bea Zakel. Es kann sein, dass ich von Bea Zakel gar nichts will, wenn ich mit ihr rede. Dass ich in ihre länglichen Augen tauche, weil ich um Gnade betteln will bei Tur. Im Grunde rede ich mit allen mehr, als ich will, um weniger allein zu sein. Als könnte man im Lager überhaupt allein sein. Kann man nicht, nicht einmal wenn das Lager ein leeres Dorf in der Sonne ist.

Es ist immer dasselbe, ich lege mich hin, denn so ruhig wie jetzt ist es später nicht mehr, weil die anderen aus der Arbeit kommen. Nachtschichtler schlafen nicht lange am Stück, nach vier Stunden Pflichtschlaf bin ich wach. Ich könnte mir ausrechnen, wie lang es noch dauert, bis im Lager wieder ein langweiliger Frühling ist mit einem nächsten sinnlosen Frieden und dem Gerücht, dass wir bald nach Hause dürfen. Und ich liege in diesem neuen Frieden im neuen Gras und habe mir die ganze Erde auf den Rücken geschnallt. Doch wir werden von hier in ein anderes Lager verlegt, noch weiter ostwärts, in ein Holzfällerlager. Und ich packe meine Kellersachen in den Grammophonkoffer, packe und packe und werde nicht fertig. Die anderen warten schon. Die Lokomotive tutet, ich spring im letzten Moment aufs Trittbrett. Wir fahren von einem Tannenwald in den nächsten. Die Tannen springen zur Seite und weichen den Schienen aus und hüpfen hinterm Zug wieder auf ihren Platz zurück. Und wir kommen an und steigen aus, zuerst der Kommandant Schischtwanjonow. Ich lasse mir Zeit und hoffe, niemand merkt, dass ich im Grammophonkoffer weder eine Säge habe noch eine Axt, nur Kellersachen und mein weißes Taschentuch. Der Kommandant hat sich nach dem Aussteigen gleich umgezogen, an seiner Uniform sind Hornknöpfe und Schulterklappen mit Eichenblättern, obwohl wir im Tannenwald sind. Er wird ungeduldig, dawaj, mach schon, sagte er zu mir, Sägen und Äxte haben wir mehr als genug. Ich steige aus, und er gibt mir einen braunen Papiersack. Schon wieder Zement, denke ich. Aber an einer Ecke ist der Sack zerrissen, und es rinnt weißes Mehl heraus. Ich bedanke mich für das Geschenk, nehme den Sack unter den linken Arm und mit dem rechten salutiere ich. Schischtwanjonow sagt: Beine lockern, in den Bergen hier muss man auch sprengen. Jetzt begreife ich, das weiße Mehl ist Dynamit.

Statt auf solche Gedanken zu kommen, könnte ich etwas lesen. Aber den schrecklichen Zarathustra, den dicken Faust und den dünngedruckten Weinheber habe ich für ein bisschen Hungerstille längst als Zigarettenpapier verkauft. An meinem vorigen freien Mittwoch habe ich mir vorgestellt, dass wir gar nicht in den Zug steigen. Dass die Baracke ohne Räder mit uns weiter in den Osten fährt und sich beim Fahren dehnt wie eine Ziehharmonika. Dass es gar nicht rüttelt, dass draußen Akazien vorbeilaufen und mit den Ästen am Fenster kratzen und ich neben Kobelian sitze und frage: Wieso fahren wir, wir haben doch gar keine Räder. Und dass Kobelian sagt: Wir fahren doch auf einem Kugellager.

Ich bin müde und habe keine Lust, mich schrecklich nach etwas zu sehnen. Es gibt allerhand Langeweilen, schnell vorauseilende und spät nachhinkende. Wenn ich sie gut behandle, tun sie mir nichts und sind jeden Tag mein Eigentum. Das ganze Jahr gibt es überm Russendorf die Langeweile des dünnen Mondes, sein Hals simuliert eine Gurkenblüte oder eine Trompete mit grauen Fingerklappen. Ein paar Tage später wächst ein halber Mond wie eine aufgehängte Schiebermütze. Und in den Tagen darauf schaut vom Himmel herunter die Langeweile einer ganzen Mondkugel, voll bis zum Überlaufen. Jeden Tag gibt es die Langeweile des Stacheldrahts auf der Lagermauer, die Langeweile der Wachposten auf den Türmen, die glänzenden Schuhspitzen von Tur Prikulitsch und die Langeweile der eigenen zerrissenen Galoschen. Die Langeweile der weißen Kühlturmwolke gibt es sowie die Langeweile der weißen Leintücher des Brotes. Und es gibt die Langeweile der gewellten Asbestplatten, der Teerschwaden und der alten Ölpfützen.

Es gibt die Langeweile der Sonne, wenn das Holz dorrt und die Erde dünner wird als im Kopf der Verstand, wenn die Wachhunde dösen, statt zu bellen. Und bevor das Gras ganz verdurstet ist, zieht sich der Himmel zu, dann gibt es die Langeweile am unteren Ende der Regenschnüre, bis das Holz quillt und die Schuhe im Schlamm kleben und die Kleider auf der Haut. Der Sommer quält sein Laub, der Herbst seine Farben, der Winter uns.

Es gibt die Langeweile des frischgefallenen Schnees mit Kohlestaub und des alten Schnees mit Kohlestaub, die Langeweile des alten Schnees mit Kartoffelschalen und des frischgefallenen Schnees ohne Kartoffelschalen. Die Langeweile des Schnees mit Zementfalten und Teerflecken, die mehlige Wolle auf den Wachhunden und ihr blechtiefes oder sopranhohes Gebell. Es gibt die Langeweile der tropfenden Rohre, ihre Eiszapfen wie Glasrettiche, und die Langeweile des plüschmöbeligen Schnees auf den Kellertreppen. Auch den Eiszwirn gibt es und sein haarnetziges Schmelzen auf den Schamottbröseln der Koksbatterien. Auch die Langeweile des klebrigen menschenversessenen Schnees gibt es, der uns die Augen verglast und die Wangen verbrennt.

Auf den breiten russischen Bahnstrecken gibt es den Schnee der Holztraversen, den Rostkranz der Schrauben, die eng beisammensitzen, zwei, drei oder gar fünf wie Schulterklappen mit verschiedenen Ranghöhen. Und am Bahndamm gibt es, wenn jemand umfällt, die Langeweile des Schnees mit dem Leichnam und seiner Schaufel. Kaum weggeräumt, hat man die Leiche vergessen, weil man in dickem Schnee den Umriss magerer Leichen nicht sieht. Nur die Langeweile einer verlassenen Schaufel. Man soll nicht in der Nähe der Schaufel sein. Wenn sich der Wind schwach hebt, fliegt eine Seele, mit Federn geschmückt. Wenn er stark ist, wird sie in Wellen getragen. Nicht nur sie, mit jedem Leichnam wird vermutlich auch ein Hungerengel frei und sucht sich einen neuen Wirt. Aber zwei Hungerengel kann keiner von uns ernähren.

Die Trudi Pelikan hat mir erzählt, dass sie und die russische Feldscherin mit Kobelian zum Bahndamm gefahren sind und die erfrorene Corina Marcu aufs Auto geladen haben. Dass die Trudi auf die Ladefläche gestiegen ist, um die Leiche nackt auszuziehen, bevor sie ins Grab kommt, dass die Feldscherin aber gesagt hat: Das machen wir später. Dass die Feldscherin mit Kobelian in der Kabine und die Trudi Pelikan mit der Leiche oben saß. Dass Kobelian nicht auf den Friedhof, sondern ins Lager fuhr, wo Bea Zakel in der Krankenbaracke wartete und mit ihrem Kind auf dem Arm vor die Tür trat, als sie das Auto brummen hörte. Dass Kobelian sich die tote Corina Marcu auf die Schulter lud und auf Weisung der Feldscherin nicht ins Sterbezimmer und nicht ins Behandlungszimmer trug, sondern ins Privatzimmer der Feldscherin. Dass er dort nicht wusste, wohin damit, weil die Feldscherin sagte: Warte. Dass ihm die Tote auf der Schulter zu schwer wurde und er sie an sich herunterrutschen ließ und auf den Boden stellte. Dass er sie an sich lehnte, bis die Feldscherin die Konservendosen in einen Eimer gerafft hatte und der Tisch frei war. Dass Kobelian die Tote ohne ein weiteres Wort auf den Tisch legte. Dass die Trudi Pelikan anfing, der Toten die Jacke aufzuknöpfen, weil sie glaubte, Bea Zakel warte auf die Kleider. Dass die Feldscherin sagte: Erst die Haare. Dass Bea Zakel ihr Kind hinter den Holzverschlag zu den anderen Kindern sperrte. Dass das Kind solange an die Holzwand trat und schrie, bis auch die anderen Kinder schriller mitschrien, so wie Hunde schriller mitbellen, wenn einer anfängt. Dass Bea Zakel die Tote am Kopf über den Tischrand zog, bis ihre Haare herunterhingen. Dass Corina Marcu wie durch ein Wunder noch nie kahlgeschoren worden war und die Feldscherin sich jetzt die Haare mit der Nullerschere abschor. Dass Bea Zakel sie ordentlich in ein Holzkistchen legte. Dass die Trudi wissen wollte, wozu das gut ist, und die Feldscherin sagte: Für Fensterkissen. Dass die Trudi fragte: Für wen, und Bea Zakel sagte: Für die Schneiderei, der Herr Reusch näht uns Fensterkissen, Haare halten den Luftzug ab. Dass die Feldscherin sich die Hände mit Seife wusch und sagte: Ich habe Angst, dass man sich langweilt, wenn man tot ist. Dass Bea Zakel darauf mit einer ungewöhnlich hohen Stimme sagte: Mit Recht. Dass Bea Zakel dann zwei leere Blätter aus dem Krankenregister riss und das Holzkistchen abdeckte. Dass sie mit dem Kistchen unterm Arm aussah, als hätte sie im Laden des Russendorfs eine verderbliche Ware gekauft. Dass sie nicht auf die Kleider wartete, sondern mit dem Kistchen verschwand, bevor die Tote fertig ausgezogen war. Dass Kobelian zu seinem Auto ging. Dass es dauerte, bis die Tote nackt war, weil die Trudi den guten Pufoaika-Anzug nicht zerschneiden wollte. Dass bei dem Gezerre eine Katzenbrosche aus der Jackentasche der Toten neben den Eimer auf den Boden fiel. Dass die Trudi Pelikan sich nach der Brosche bückte und im Eimer auf einer der glänzenden Konservendosen das Gedruckte buchstabierte: CORNED BEEF. Dass sie ihren Augen nicht traute. Dass die Feldscherin, während sie noch buchstabierte, die Brosche aufhob. Dass die ganze Zeit das Auto draußen brummte und nicht wegfuhr. Dass die Feldscherin mit der Katzenbrosche in der Hand hinausging und mit leerer Hand wiederkam und sagte: Kobelian sitzt am Steuer, sagt immer Großer Gott und heult.

Die Langeweile ist die Geduld der Angst. Sie will ja nicht übertreiben. Nur manchmal, und darum geht es ihr besonders, will sie wissen, wie es mit mir steht.

Ich könnte ein Stück gespartes Brot aus dem Kissen essen, mit bisschen Zucker oder Salz. Oder meine nassen Fußlappen auf der Stuhllehne neben dem Ofen trocknen. Das Holztischchen wirft einen längeren Schatten, die Sonne hat sich gedreht. Im Frühjahr, im nächsten Frühjahr organisiere ich mir vielleicht zwei Gummistücke vom Förderband aus der Fabrik oder von einem Autoreifen aus der Garage. Dann bringe ich sie zum Schuster.

Als erste hat Bea Zakel im Lager Ballettki getragen, schon im vorigen Sommer. Ich kam zu ihr in die Kleiderkammer, ich brauchte neue Holzschuhe. Ich wühlte herum in dem Schuhhaufen, und Bea Zakel sagte: Ich habe nur zu große oder zu kleine, Fingerhüte oder Schiffe, die mittleren sind alle weg. Ich probierte viele, um länger zu bleiben. Zuerst entschied ich mich für kleine, dann fragte ich, wann wieder mittlere kommen. Dann behielt ich zwei große. Bea Zakel sagte: Zieh sie gleich an, lass die alten hier. Schau, was ich hab, Ballettki.

Ich fragte: Woher.

Sie sagte: Vom Schuster. Schau, die biegen sich wie barfuß.

Was kosten sie, fragte ich.

Sie sagte: Das musst du Tur fragen.

Die Gummistücke gibt Kobelian mir vielleicht umsonst. Sie müssten mindestens so groß wie zwei Schaufelblätter sein. Für den Schuster brauche ich Geld. Ich müsste Kohle verkaufen, solang es noch kalt ist. Im Sommer, im nächsten Sommer zieht die Langeweile vielleicht die Fußlappen aus und trägt die Ballettki. Dann läuft sie wie barfuß.

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