Leichtsinn wie Heu

Im Sommer durften wir draußen auf dem Appellplatz tanzen. Die Schwalben flogen ihrem Hunger nach, kurz vor der Nacht, die Bäume waren schon dunkel gezackt, die Wolken rot unterlaufen. Später hing über der Kantine ein fingerschmaler Mond. Das Getrommel vom Kowatsch Anton zog durch den Wind, die Tanzpaare schwankten auf dem Appellplatz wie Büsche. In Wellen bimmelte das Glöckchen der Koksbatterien. Gleich danach kam der Glutschein vom Fabrikgelände drüben und leuchtete im Himmel bis hierher. Und man konnte, bis das Leuchten verging, den zitternden Kropf der singenden Loni sehen und die schweren Augen des Akkordeonspielers Konrad Fonn, immer zur Seite gedreht, wo nichts und niemand war.

Es hatte etwas Animalisches, wie Konrad Fonn die Rippen des Akkordeons aufzog und zudrückte. Seine Augendeckel wären fürs Laszive schwer genug gewesen, aber die Leere in seinen Augen war zu kalt. Ihm ging die Musik nicht ins Gemüt. Er scheuchte die Lieder von sich weg, in uns krochen sie hinein. Sein Akkordeon spielte dumpf und schlurfend. Seit der Zither-Lommer in Odessa, wie es hieß, in Richtung nach Hause eingeschifft worden war, fehlten dem Orchester die warmen hellen Töne. Vielleicht war das Akkordeon so verstimmt wie der Musikant und zweifelte, ob das getanzt ist, wenn Deportierte paarweise auf dem Appellplatz schwanken wie Gebüsch.

Die Planton-Kati saß auf der Bank und baumelte mit den Füßen im Takt. Wenn ein Mann mit ihr tanzen wollte, lief sie weg ins Sackdunkle. Hie und da tanzte sie mit einer der Frauen, streckte dabei den Hals und schaute in den Himmel hinauf. Beim Schrittwechsel blieb sie im Takt, früher musste sie oft getanzt haben. Wenn sie auf der Bank saß und zuschaute, wie die Paare sich zu nahe kommen, warf sie mit Kieselsteinen. Es war kein Spiel, ihr Gesicht blieb ernst.

Der Albert Gion sagte, die meisten vergessen den Appellplatz und sagen sogar, wir tanzen auf dem Rondell. Er tanze nie mehr mit der Zirri Wandschneider, die sei eine Klette und wolle sich unbedingt an ihn abgeben. Aber es sei doch die Musik, die hier im Dunkeln verführt, nicht er.

In der Winterpaloma blieben die Gefühle plissiert wie die Rippen des Akkordeons, eingesperrt in der Kantine. Der Sommertanz wühlte über der Schwermut einen Leichtsinn auf wie Heu. Die Barackenfenster schimmerten schwach, man spürte einander mehr als man sich sah. Die Trudi Pelikan meinte, auf dem Rondell tröpfelt das Heimweh aus dem Kopf in den Bauch. Das Muster der Paare sei alle Stunde anders, das seien Heimwehpaare.

Ich glaube, die Mischungen aus Gunst und Tücke, die bei den Paarungen herauskamen, waren wahrscheinlich so verschieden und vielleicht so miserabel wie die Kohlemischungen. Man konnte aber nur mischen, was man hatte. Man konnte nicht, man musste. So wie ich mich aus allen Mischungen heraushalten und aufpassen musste, dass keiner ahnt warum.

Der Akkordeonspieler ahnte es wahrscheinlich, er hatte etwas Abweisendes. Das kränkte mich, auch wenn ich ihn abstoßend fand. Ich musste ihm jedesmal ins Gesicht schauen, so lange und so oft wie der Glutschein von der Fabrik über den Himmel fuhr. Alle Viertelstunde sah ich über dem Akkordeon seinen Hals mit dem Hundekopf und den furchterregend weggedrehten weißen Augen aus Stein. Dann war der Himmel wieder schwarze Nacht. Und ich wartete eine Viertelstunde, bis der Hundekopf im Licht wieder hässlich wurde. Es war jedesmal dasselbe bei der Sommerpaloma auf dem Appellplatz. Nur im späten September, bei einem der letzten Nachttänze draußen, war es anders.

Ich saß wie so oft mit den Füßen auf der Holzbank und zog beide Knie unters Kinn. Der Advokat Paul Gast machte eine Tanzpause und setzte sich nah an meine Fußspitzen und sagte nichts. Vielleicht dachte er doch noch hie und da an seine tote Frau, an die Heidrun Gast. Denn in dem Moment, als er den Rücken anlehnte, fiel überm Russendorf ein Stern. Er sagte:

Leo, du musst dir schnell etwas wünschen.

Das Russendorf schluckte den Stern, all die anderen glitzerten wie grobes Salz.

Mir ist nichts eingefallen, sagte er, und dir.

Ich sagte: Dass wir leben.

Es war gelogen mit einem Leichtsinn wie Heu. Ich hatte mir gewünscht, dass mein Ersatzbruder nicht mehr lebt. Ich wollte meiner Mutter ein Leid antun, ihn kannte ich ja nicht.

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