Von strengen Menschen

Bea Zakel hat sich am Brunnen die Hände gewaschen und kommt jetzt den Korso entlang. Sie setzt sich zu mir auf die Bank mit der Lehne. Ihre Augen gleiten in den schiefen Blick ab und haben etwas vom Schielen. Sie schielt nicht, sie baut in ihre Augendrehung diese gewisse Verzögerung ein, weil sie weiß, das macht sie apart. So apart, dass ich befangen bin. Sie fängt an zu reden, einfach an zu reden. Sie spricht so schnell wie Tur Prikulitsch, nur nicht so kapriziös. Ihren abgleitenden Blick dreht sie hinüber zur Fabrik, schaut der Kühlturmwolke nach und erzählt von den Dreiländerbergen, wo die Ukraine, Bessarabien und die Slowakei zusammenkommen.

Die Berge von zu Hause zählt sie langsamer auf, die Niedere Tatra, die Beskiden, die in die Waldkarpaten münden, am Oberlauf der Theiß. Mein Dorf heißt Lugi, sagt sie, ein verstecktes armes Dorf bei Kaschau. Dort schauen uns die Berge von oben durch den Kopf, bis wir sterben. Wer dort bleibt, wird tiefsinnig, viele ziehen weg. Darum bin auch ich nach Prag, aufs Konservatorium.

Der große Kühlturm ist eine Matrone, er trägt seine dunkle Holzverschalung auf den Hüften wie ein Korsett. So eingezwängt, steigen der Matrone Tag und Nacht weiße Wolken aus dem Maul. Und die ziehen auch weg wie die Leute aus Bea Zakels Bergen.

Ich erzähle Bea von den Bergen aus Siebenbürgen, immer noch Karpaten, sage ich. Nur bei uns haben die Berge runde tiefe Seen. Man sagt, es sind Meeraugen, so tief, dass ihr Grund mit dem Schwarzen Meer in Verbindung steht. Man ist mit den Fußsohlen auf dem Berg und mit den Augen am Meer, wenn man in einen Bergsee schaut. Mein Großvater sagt, die Karpaten tragen das Schwarze Meer unterirdisch auf dem Arm.

Dann redet Bea von Artur Prikulitsch, dass er zu ihrer Kindheit gehört. Dass er aus demselben Dorf kommt und in derselben Straße wohnte und mit ihr sogar in derselben Schulbank saß. Beim Spielen mit Tur musste sie das Pferd sein, und Tur hat kutschiert. Und sie ist hingefallen und hat sich den Fuß gebrochen, aber das hat sich erst später herausgestellt. Tur hat sie mit der Peitsche angetrieben und behauptet, sie würde sich verstellen, weil sie nicht mehr das Pferd sein will. Die Straße war abschüssig, sagt sie, wenn man mit Tur gespielt hat, war er immer ein Sadist. Und ich erzähle vom Tausendfüßlerspiel. Die Kinder werden eingeteilt in zwei Tausendfüßler. Einer muss den anderen über eine Kreidelinie in sein Revier ziehen, weil er ihn fressen will. In jedem der zwei Tausendfüßler müssen sich die Kinder um den Bauch fassen und mit aller Macht ziehen. Man wird fast zerrissen, ich hatte Quetschungen an den Hüften und eine ausgerenkte Schulter.

Ich bin kein Pferd, und du bist kein Tausendfüßler, sagt Bea.

Wenn man das ist, was man spielt, wird man dafür bestraft wie nach einem Gesetz. Und aus einem Gesetz kommt man nicht heraus, auch wenn man umzieht nach Prag. Oder ins Lager, sage ich. Ja, weil Tur mitkommt, sagt Bea. Er ging auch studieren, er wollte Missionar werden und wurde es nicht. Aber in Prag ist er geblieben, er hat auf Handel umgesattelt. Weiß du, die Gesetze des kleinen Dorfes und selbst die Gesetze von Prag sind streng, sagt Bea, darum kommt man aus ihnen nicht heraus, sie sind gemacht von strengen Menschen.

Dann baut Bea wieder die gewisse Verzögerung in den abgleitenden Blick und sagt:

Ich liebe strenge Menschen.

Einen, denke ich und muss mich zügeln, weil sie von dieser Strenge lebt und von ihrem einen strengen Menschen den guten Platz in der Wäschekammer hat, im Unterschied zu mir. Sie beklagt sich über Tur Prikulitsch, sie will zu uns gehören, aber so leben wie er. Wenn sie schnell spricht, ist sie manchmal nah dran, den Unterschied zwischen uns und ihr zu verleugnen. Doch kurz bevor das geschieht, schlüpft sie in ihre Sicherheit zurück. Kann sein, dass ihre Augen wegen dieser Sicherheit im abgleitenden Blick so länglich werden. Kann sein, dass ihr Vorteil sie beschäftigt, wenn sie mit mir spricht. Und dass sie so viel redet, weil sie außer ihrem strengen Menschen noch ein bisschen Freiheit haben will, von der er nichts weiß. Kann sein, dass sie mich aus der Reserve lockt, dass sie ihm alles beichtet, was sie mit uns spricht.

Bea, sage ich, das Lied von meiner Kindheit geht so:

Sonne hoch im Schleier,

gelber Mais,

keine Zeit

Denn der stärkste Geruch meiner Kindheit ist der faulige Gestank von keimenden Maiskörnern. Wir sind in die großen Ferien auf die Wench gefahren und acht Wochen geblieben. Wir sind aus den großen Ferien wiedergekommen. Auf dem Sandhaufen im Hof hatte der Mais gekeimt. Wenn ich ihn aus dem Sand herauszog, weiße Wurzelfäden und seitlich drangehängt das stinkiggelbe alte Korn.

Bea wiederholt: Gelber Mais, keine Zeit. Dann lutscht sie an ihrem Finger und sagt: Gut, dass man wächst.

Bea Zakel ist einen halben Kopf größer als ich. Ihre Zöpfe sind um den Kopf gerollt, ein armdicker Seidenstrick. Vielleicht sieht ihr Kopf nicht nur so stolz aus, weil sie in der Wäschkammer sitzt, sondern weil sie diese schweren Haare tragen muss. Wahrscheinlich hat sie diese schweren Haare schon als Kind gehabt, damit ihr in dem versteckten armen Dorf die Berge nicht von oben durch den Kopf schauen, bis sie stirbt.

Aber hier im Lager stirbt sie nicht. Tur Prikulitsch wird dafür sorgen.

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