Ich bin noch immer das Klavier

Ein ganzes Jahr blieb ich Kistennagler. Ich konnte zwölf Nägelchen auf einmal zwischen die Lippen pressen und gleichzeitig zwölf durch die Finger schnippen. Ich konnte so schnell nageln wie atmen. Der Meister sagte: Du bist begabt, weil du so flache Hände hast.

Es waren aber nicht meine Hände, sondern der flache Atem der russischen Norm. 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot verwandelte sich in 1 Nagelkopf = 1 Gramm Brot. Ich hatte die taube Mitzi, den Peter Schiel, die Irma Pfeifer, die Heidrun Gast, die Corina Marcu im Kopf, die nackt in der Erde lagen. Für den Meister waren es Butterkisten und Auberginenkisten. Für mich kleine Särge aus frischem Fichtenholz. Mir mussten die Nägel durch die Finger fliegen, damit es gelingt. Ich brachte es auf 800 Nägel in der Stunde, das konnte mir keiner nachmachen. Jedes Nägelchen hatte seinen harten Kopf, und bei jedem Nageln war die Aufsicht des Hungerengels dabei.

Im zweiten Jahr schrieb ich mich im Abendlyzeum zu einem Betonierkurs ein. Tagsüber war ich Betonfachmann auf einer Baustelle an der Utscha. Dort habe ich meinen ersten Plan für ein rundes Haus auf Fließpapier gezeichnet. Sogar die Fenster waren rund, alles Eckige glich einem Viehwaggon. Bei jedem Strich habe ich an Titi, den Sohn des Bauleiters, gedacht.

Im Spätsommer kam Titi einmal mit mir in den Erlenpark. Am Parkeingang stand eine alte Bäuerin mit einem Korb Walderdbeeren, feurigrot und klein wie Zungenspitzen. Und jede hatte an ihrem grünen Kragen einen Stiel wie feinster Draht. Hie und da hing auch noch ein dreifingrig gezacktes Blättchen dran. Sie gab mir eine zum Kosten. Ich kaufte für Titi und mich zwei große Stanitzel. Wir spazierten um den geschnitzten Pavillon. Dann lockte ich ihn am Wasserlauf entlang immer weiter durchs Gesträuch bis hinter den Kurzgrashügel. Als wir die Erdbeeren gegessen hatten, zerknüllte Titi sein Stanitzel und wollte es wegwerfen. Ich sagte: Gib es mir. Er streckte mir die Hand hin, ich fasste sie an und ließ sie nicht mehr los. Mit einem kalten Blick sagte er: He. Das war mit Lachen und Reden nicht mehr wegzuwischen.

Der Herbst war kurz und färbte schnell sein Laub. Ich mied den Erlenpark.

Im zweiten Winter blieb der Schnee schon im November liegen. Die kleine Stadt war eingepackt im Watteanzug. Alle Männer hatten Frauen. Alle Frauen hatten Kinder. Alle Kinder hatten Schlitten. Alle waren dick und heimatsatt. In engen, dunklen Mänteln liefen sie durchs Weiße. Mein Mantel war hell und angeschmutzt und viel zu groß. Auch heimatsatt, es war immer noch der abgetragene Mantel von meinem Onkel Edwin. Den Passanten schaukelten die Atemfetzen aus dem Mund und verrieten: Alle Heimatsatten machen hier ihr Leben, aber jedem fliegt es davon. Alle schauen ihm nach, allen schillern die Augen wie Broschen aus Achat, Smaragd oder Bernstein. Auch auf sie wartet eines Tages früh oder bald oder spät Eintropfenzuvielglück.

Ich hatte Heimweh nach den mageren Wintern. Mit mir lief der Hungerengel herum, und er denkt nicht. Er führte mich in die gebogene Straße. Vom anderen Ende kam ein Mann. Er hatte keinen Mantel, sondern eine karierte Decke mit Fransen umgehängt. Er hatte keine Frau, sondern ein Handwägelchen. In dem Handwägelchen saß kein Kind, sondern ein schwarzer Hund mit weißem Kopf. Der Hundekopf nickte locker im Takt. Als die karierte Decke näher kam, sah ich auf der rechten Brust des Mannes den Umriss einer Herzschaufel. Als das Handwägelchen an mir vorbeifuhr, war die Herzschaufel ein versengter Fleck von einem Bügeleisen und der Hund ein Blechkanister mit einem emaillierten Trichter im Hals. Als ich dem Mann nachschaute, war der Kanister mit dem Trichter wieder ein Hund. Und ich war beim Neptunbad angekommen.

Der Schwan auf dem Emblem oben hatte drei Glasfüße aus Eiszapfen. Der Wind wiegte den Schwan, ein Glasfuß brach ab. Auf dem Boden zersplittert war der Eiszapfen grobkörniges Salz, das man im Lager noch klopfen musste. Ich zerstampfte es mit dem Absatz. Als es fein genug zum Streuen war, ging ich durch das offene Eisentor und stand vor der Eingangstür. Ohne zu überlegen, ging ich durch die Tür in die Halle. Der dunkle Steinboden spiegelte wie ruhiges Wasser. Ich sah meinen hellen Mantel unter mir zur Kassenloge schwimmen. Ich verlangte eine Karte.

Die Kassenfrau fragte: Eine oder zwei.

Hoffentlich sprach aus ihrem Mund nur die optische Täuschung, nicht ein Verdacht. Hoffentlich sah sie nur den doppelten Mantel und nicht, dass ich unterwegs war in mein altes Leben. Die Kassenfrau war neu. Aber die Halle erkannte mich, der blanke Boden, die Mittelsäule, die Bleiverglasung am Schalter, die Kachelwände mit dem Seerosenmuster. Der kalte Schmuck hatte sein eigenes Gedächtnis, die Ornamente hatten nicht vergessen, wer ich bin. Meine Brieftasche steckte in der Jacke. Darum griff ich in meine Manteltasche und sagte:

Ich habe die Brieftasche zu Haus gelassen, ich hab kein Geld.

Die Kassenfrau sagte: Macht nichts. Nun ist die Karte abgerissen, zahlst sie nächstes Mal. Ich schreib dich auf.

Ich sagte: Nein, auf keinen Fall.

Sie streckte den Arm aus der Kassenloge und wollte mich am Mantel packen. Ich wich zurück, blies die Backen auf, zog den Kopf ein und schlurfte mit den Fersen voraus an der Mittelsäule knapp vorbei in Richtung Tür.

Sie rief mir nach: Ich hab Vertrauen, ich schreib dich auf.

Erst jetzt sah ich den grünen Bleistift hinter ihrem Ohr. Ich stieß mit dem Rücken an die Türklinke und riss die Tür auf. Ich musste ziehen, die Metallfeder war sperrig. Ich schlüpfte durch den Spalt, die Tür quietschte mir hinterher. Ich hetzte durch das Eisentor auf die Straße.

Es war schon dunkel. Der Schwan auf dem Emblem schlief weiß, und die Luft schlief schwarz. Unter der Laterne an der Straßenecke schneite es graue Federn. Obwohl ich mich nicht von der Stelle rührte, hörte ich meine Schritte im Kopf. Dann fing ich an zu gehen und hörte sie nicht mehr. Mein Mund roch nach Chlor und Lavendelöl. Ich dachte an die Etuba und sprach von einer Laterne zur anderen bis nach Hause mit dem schwindlig fliegenden Schnee. Es war nicht der, in dem ich ging, sondern ein ausgehungerter von weit her, der mich kannte vom Hausieren.

Auch an diesem Abend kam die Großmutter einen Schritt auf mich zu und legte die Hände auf die Stirn, fragte aber:

Du kommst so spät, hast du ein Mädchen.

Am folgenden Tag schrieb ich mich zum Betonierkurs im Abendlyzeum ein. Dort auf dem Schulhof habe ich Emma kennengelernt. Sie machte einen Buchhalterkurs. Sie hatte helle Augen, nicht messinggelb wie Tur Prikulitsch, sondern wie Quittenpelz. Und sie hatte wie alle in der Stadt einen dunklen heimatsatten Mantel. Vier Monate später habe ich Emma geheiratet. Zu der Zeit war Emmas Vater schon todkrank, wir feierten keine Hochzeit. Ich zog zu Emmas Eltern. Alles Meinige trug ich bei mir, meine drei Diktandohefte und Kleider passten alle in den Holzkoffer aus dem Lager. Vier Tage später starb Emmas Vater. Ihre Mutter zog ins Wohnzimmer und überließ uns das Schlafzimmer mit dem Ehebett.

Ein halbes Jahr wohnten wir bei Emmas Mutter. Dann zogen wir aus Hermannstadt in die Hauptstadt, nach Bukarest. Unsere Hausnummer war 68 wie die Anzahl der Betten in der Baracke. Die Wohnung lag im vierten Stock, hatte nur ein Zimmer und eine Kochnische, die Toilette war auf dem Gang. Doch in Wohnungsnähe, zwanzig Minuten Fußweg, lag ein Park. Als der Sommer in die Großstadt kam, ging ich die Abkürzung, wo der Staub flog. Da war der Fußweg nur fünfzehn Minuten. Wenn ich im Treppenhaus auf den Lift wartete, stiegen im Drahtkäfig des Schachts zwei hellgeflochtene Stricke hinauf und hinab, als kämen Bea Zakels Zöpfe.

An einem Abend saß ich mit Emma im Restaurant Goldener Krug, am zweiten Tisch neben dem Orchester. Der Kellner hielt sich beim Einschenken das Ohr zu und sagte:

Da hören Sie es, das habe ich doch dem Chef die ganze Zeit versichert, das Klavier spielt falsch. Und was hat er gemacht, er hat den Pianisten rausgeschmissen.

Emma schaute mich scharf an. In ihren Augen drehten sich gelbe Zahnrädchen. Sie waren angerostet, ihre Lider blieben beim Blinzeln daran hängen. Dann zuckte ihre Nase, die Zahnrädchen machten sich frei, und Emma sagte mit klaren Augen:

Na siehst du, immer erwischt es den Spieler, nie das Klavier.

Wieso hatte sie mit diesem Satz gewartet, bis der Kellner weg war. Ich hoffte, sie weiß nicht, was sie sagt. Im Park habe ich damals den Decknamen Der Spieler gehabt.

Angst kennt kein Pardon. Ich habe den nahen Park gewechselt. Und meinen Decknamen. Für den neuen Park weit von der Wohnung und nahe am Bahnhof habe ich mir den Namen Das Klavier genommen.

An einem Regentag kam Emma mit einem Strohhut nach Hause. Sie stieg aus dem Bus. Nahe der Bushaltestelle an dem kleinen Hotel Diplomat stand ein Mann unter der Markise. Als Emma vorbeiging, fragte er, ob er ein Stück unter ihrem Schirm gehen darf bis an die Ecke zur anderen Bushaltestelle. Er trug einen Strohhut. Er war um einen Kopf größer als Emma und noch mit Strohhut, Emma musste den Schirm hochstrecken. Statt den Schirm zu tragen, drängte er sie halb in den Regen und steckte die Hand in die Tasche. Er sagte, wenn das Wasser Blasen macht, regnet es tagelang. Als seine Frau eingeschlafen ist, habe es auch so geregnet. Er habe das Begräbnis um zwei Tage verschoben, aber der Regen hat nicht mehr aufgehört. Die Kränze habe er über Nacht ins Freie gelegt, damit sie Wasser trinken, den Blumen habe das nicht geholfen, sie waren ersoffen und verfault. Dann wurde seine Stimme glitschig und brabbelte etwas, was mit dem Satz aufhörte: Meine Frau hat einen Sarg geheiratet.

Als Emma sagte, Heiraten sei doch etwas anderes als Sterben, meinte er, vor beidem müsse man Angst haben. Als Emma fragte, wieso Angst, forderte er ihre Brieftasche. Sonst muss ich im Bus eine stehlen, sagte er, von einer gebrechlichen Vorkriegsdame. Und dort ist außer einem Bild von ihrem toten Mann nichts drin. Als er weglief, flog sein Strohhut in eine Pfütze. Emma hatte dem Mann ihre Brieftasche gegeben. Er hatte gesagt: Schrei nicht, sonst springt es. In seiner Hand war ein Messer.

Als Emma mit der Geschichte fertig war, fügte sie noch den Satz hinzu: Angst kennt kein Pardon. Ich nickte.

Solche Übereinstimmungen gab es oft mit Emma. Mehr sag ich nicht, weil ich mich, wenn ich rede, nur anders einpacke ins Schweigen, in die Geheimnisse aller Parks und aller Übereinstimmungen mit Emma. Unsere Ehe hat elf Jahre gehalten. Und Emma wäre weiter bei mir geblieben, das weiß ich. Aber nicht, warum.

Zu der Zeit waren im Park Der Kuckuck und Das Nachtkästchen verhaftet worden. Ich wusste, dass bei der Polizei fast alle reden und mir keine Ausrede etwas nützt, wenn die zwei Das Klavier erwähnen. Ich stellte einen Besuchsantrag für Österreich. Die Einladung meiner Fini-Tante habe ich mir selbst geschrieben, damit es schneller geht. Nächstes Mal fährst du, sagte ich zu Emma. Sie war einverstanden, weil Ehepaare nie zusammen in den Westen reisen durften. Meine Fini-Tante hatte während meiner Lagerzeit nach Österreich geheiratet. Sie traf auf einer Reise mit dem Saurier-Bus zu den Salzbädern nach Ocna Bǎi den Alois, einen Konditor aus Graz. Ich hatte Emma von der Brennschere, den Haarwellen und Heuschrecken unterm Organzakleid der Fini-Tante erzählt und machte Emma glauben, dass ich die Tante wiedersehen und ihren Konditor Alois kennenlernen will.

Es ist bis heute meine schwerste Schuld, ich habe mich für eine kurze Reise kostümiert, bin mit einem leichten Koffer in den Zug gestiegen und nach Graz gefahren. Von dort habe ich eine handgroße Karte geschrieben:

Liebe Emma,

Angst kennt kein Pardon.

Ich komme nicht wieder.

Emma kannte den Satz meiner Großmutter nicht. Wir hatten nie übers Lager gesprochen. Ich habe auf den Satz zurückgegriffen und ihm auf der Karte das Wort NICHT beigefügt, damit auch sein Gegenteil hilft.

Das war vor mehr als dreißig Jahren.

Emma hat wieder geheiratet.

Ich habe mich nie mehr gebunden. Nur Wildwechsel.

Die Dringlichkeit der Gier und Niedertracht des Glücks ist längst eine andere Zeit, wenn auch mein Hirn sich noch auf Schritt und Tritt verführen lässt. Mal ist es ein gewisses Schlenkern auf der Straße, mal sind es im Laden zwei Hände. In der Straßenbahn ist es diese gewisse Art des Platzsuchens. Im Zugabteil bei der Frage: Ist hier noch frei, dies gedehnte Zögern, und gleich danach bestätigt sich meine Intuition in dieser gewissen Art, das Gepäck zu verstauen. Im Restaurant ist es, unabhängig von der Stimme, diese gewisse Art des Kellners, zu sagen: Ja, mein Herr. Am meisten verführt mich bis heute das Kaffeehaus. Ich setz mich an den Tisch und gehe die Gäste durch. Bei ein, zwei Männern ist es diese gewisse Art des Schlürfens an der Tasse. Und beim Abstellen der Tasse glänzt die Innenhaut ihrer Unterlippe wie rosa Quarz. Bei ein, zwei Gästen, bei allen anderen nicht.

Wegen ein zwei Gästen stehen mir die Muster der Erregung im Kopf. Auch wenn ich weiß, dass sie erstarrt wie Nippfiguren in einer Vitrine sind, geben sie sich jung. Auch wenn sie wissen, dass ich nicht zu ihnen passe, weil ich vom Alter geplündert bin. Einmal war ich vom Hunger geplündert und passte nicht mehr zu meinem Seidenschal. Ich wurde wider Erwarten mit neuem Fleisch genährt. Doch gegen das Plündern des Alterns hat noch niemand neues Fleisch erfunden. Ich glaubte früher, ich lasse mich in der Nacht nicht ganz umsonst ins sechste, siebte, sogar achte Lager deportieren. Ich kriege die fünf gestohlenen Jahre als Verzögerung des Altwerdens vielleicht wieder zurück. Es ist nicht so gekommen, das Abdanken des Fleisches rechnet anders. Es ist innen öde und glitzert draußen im Gesicht als Augenhunger. Und der sagt:

Du bist noch immer Das Klavier.

Ja, sage ich, das Klavier, das nicht mehr spielt.

Загрузка...