Von der Herzschaufel

Es gibt viele Schaufeln. Aber die Herzschaufel ist mir die liebste. Nur ihr habe ich einen Namen gegeben. Mit der Herzschaufel kann man nur Kohle, und nur lockere Kohle, aufladen oder abladen.

Die Herzschaufel hat ein Schaufelblatt, das ist so groß wie zwei Köpfe nebeneinander. Es ist herzförmig und tief gewölbt, an die fünf Kilo Kohle oder der ganze Hintern des Hungerengels hätten darin Platz. Das Schaufelblatt hat einen langen Hals mit einer Schweißnaht. Im Vergleich zu diesem großen Blatt hat die Herzschaufel einen kurzen Stiel. Er endet in einem Querholz.

Mit der einen Hand packt man den Hals und mit der anderen das Querholz oben am Stiel. Aber ich würde sagen, unten am Stiel. Denn bei mir ist die Herzschaufel oben, und der Stiel ist die Nebensache, also seitlich oder unten. Also ich packe das Herzblatt oben am Hals und das Querholz unten am Stiel. Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust.

Die Herzschaufel muss eingearbeitet werden, bis das Schaufelblatt ganz blank ist, bis die Schweißnaht einem wie eine Narbe in der Hand liegt — und die ganze Schaufel wie ein zweites äußeres Gleichgewicht.

Kohleabladen mit der Herzschaufel ist nämlich anders als Brennziegelaufladen. Beim Ziegelaufladen hat man nur seine Hände, es geht um die Logistik. Aber beim Kohleabladen macht das Werkzeug, die Herzschaufel, die Logistik zur Artistik. Kohleabladen das ist vornehmster Sport, wie kaum das Reiten, kaum das Kunstspringen, kaum das elegante Tennis. Wie Eiskunstlauf. Ich und die Schaufel sind ein Paarlauf, könnte man sagen. Wer einmal seine Herzschaufel gehabt hat, der wird von ihr mitgerissen.

Das Kohleabladen beginnt so: Ist die Bordwand des Autos polternd nach unten gekippt, stellst du dich links oben hin und stichst die Kante schief ab, bis auf den Kastenboden, wobei du mit dem Fuß wie auf einen Spaten aufs Herzblatt trittst. Hast du dir am Rand des Lastwagens zwei Fuß Platz geschafft, so dass du jetzt auf dem Holzboden stehst, fängst du an mit dem Schaufeln. In einem wiegenden Schwungrhythmus spielen alle Muskeln mit. Du packst mit der linken Hand das Querholz und mit der rechten den langen Hals, dass die Finger auf den Knötchen der Schweißnaht liegen. Dann von links oben die Kohle abstechen und sie in einem Bogen abwärtsziehen bis zum Rand und sie im selben Schwung, über den Rand der Bordkante hinaus, in die Tiefe stoßen. Das heißt, die rechte Hand nun am Holzstiel hinaufgleiten lassen, fast bis zum Quergriff — wobei sich das Körpergewicht auf die rechte Wade verlagert und bis in die Zehenspitzen läuft. Dann die Schaufel leer zurück, links hinauf. Und wieder Schwung und dann die Schaufel wieder vollgeladen rechts hinunter.

Wenn der Großteil der Kohle abgeladen und der Abstand zur Bordkante zu groß geworden ist, kann man nicht mehr mit einem Bogenschwung arbeiten. Jetzt braucht es die Fechtstellung: Rechter Fuß graziös nach vorn, linker Fuß als Stützachse stabil nach hinten, Zehen leicht auswärts gedreht. Dann die linke Hand am Querholz, die rechte Hand diesmal nicht tief am Hals, sondern ganz locker ständig am Stiel auf und ab gleiten lassen und die Last ausbalancieren. Nun stichst du ein, hilfst mit dem rechten Knie nach, ziehst es zurück und verlagerst das Gewicht durch eine geschickte Wendung auf den linken Fuß, so dass kein Stückchen Kohle vom Herzblatt herunterfällt, und machst eine weitere Drehung, also einen Schritt mit dem rechten Fuß nach hinten, wobei sich Oberkörper und Gesicht mitdrehen. Dann verlagerst du das Gewicht auf einen dritten, neuen Fußpunkt rechts hinten, der linke Fuß steht jetzt graziös, mit leicht angehobener Ferse wie beim Tanzen, nur noch der Außenrand des großen Zehs hat Bodenhaftung — und jetzt wirfst du die Kohle in weitem Schwung vom Herzblatt hinaus in die Wolken, so dass die Schaufel waagerecht in der Luft steht, also nur von der linken Hand am Querholz gehalten. Es ist schön wie ein Tango, wechselnd spitzwinklig bei gleichbleibendem Takt. Und ab der Fechtstellung, wenn die Kohle weiter wegfliegen muss, wird es fließend abgelöst von Walzeranwandlungen, wobei die Gewichtsverlagerung im großen Dreieck geschieht, die Körperneigung ist bis 45 Grad, und in der Wurfdistanz fliegt die Kohle wie ein Vogelschwarm. Und der Hungerengel fliegt mit. Er ist in der Kohle, in der Herzschaufel, in den Gelenken. Er weiß, nichts wärmt den ganzen Körper mehr als das Schaufeln, das am ganzen Körper zehrt. Er weiß aber auch, dass der Hunger fast die ganze Artistik frisst.

Wir waren beim Abladen immer zu zweit oder zu dritt. Den Hungerengel nicht mitgezählt, denn man war sich nicht sicher, ob es einen Hungerengel für uns alle gibt oder jeder seinen eigenen hat. Maßlos genähert hat er sich jedem. Er wusste, wo abgeladen wird, kann auch aufgeladen werden. Mathematisch weitergedacht wäre das Ende entsetzlich: Wenn jeder seinen eigenen Hungerengel hat, dann wird jedesmal, wenn einer stirbt, ein Hungerengel frei. Dann würde es später nur noch verlassene Hungerengel geben, verlassene Herzschaufeln, verlassene Kohle.

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