Diktandohefte

Am nächsten Tag war Sonntag. Ich fing an, in das Diktandoheft zu schreiben. Das erste Kapitel hieß: VORWORT. Es begann mit dem Satz: Wirst du mich verstehen, Fragezeichen.

Mit dem Du meinte ich das Heft. Und es ging auf sieben Seiten um einen Mann mit dem Namen T. P. Und um einen mit dem Namen A. G. Und um einen K. H. und einen O. E. Um eine Frau mit dem Namen B. Z. Der Trudi Pelikan gab ich den Decknamen SCHWAN. Den Namen des Werks Koksochim Zavod und den Kohlebahnhof Jasinowataja habe ich ausgeschrieben. Auch die Namen Kobelian und Planton-Kati. Auch ihren kleinen Bruder Latzi habe ich erwähnt und ihren hellen Moment. Das Kapitel endete mit einem langen Satz:

In der Früh nach dem Waschen löste sich ein Tropfen aus meinen Haaren und lief mir wie ein Tropfen Zeit die Nase entlang in den Mund, am besten lasse ich mir einen trapezförmigen Bart wachsen, dass mich niemand mehr in der Stadt erkennt.

In den nächsten Wochen habe ich das VORWORT verlängert, drei Hefte lang.

Dass die Trudi Pelikan und ich schon auf dem Heimtransport ohne Absprache in verschiedene Viehwaggons gestiegen sind, habe ich unterschlagen. Meinen alten Grammophonkoffer habe ich weggelassen. Meinen neuen Holzkoffer, meine neuen Kleider habe ich genau beschrieben: die Ballettki, die Schimmimütze, das Hemd, die Krawatte und den Anzug. Meinen Weinkrampf bei der Heimkehr, bei der Ankunft im Auffanglager in Sighetul Marmat¸iei, dem ersten rumänischen Bahnhof, habe ich verschwiegen. Auch die einwöchige Quarantäne am Gleisende des Bahnhofs in einem Güterdepot. Ich brach innerlich zusammen aus Angst vor der Verschickung in die Freiheit und ihrem allernächsten Abgrund, der den Weg nach Hause immer kürzer machte. Ich saß in meinem neuen Fleisch und den neuen Kleidern mit leicht geschwollenen Händen zwischen dem Grammophonkoffer und dem neuen Holzkoffer wie in einem Nest. Der Viehwaggon war nicht plombiert. Jetzt wurde die Tür weit aufgestoßen, der Zug rollte in den Bahnhof von Sighetul Marmat¸iei ein. Auf dem Bahnsteig lag dünner Schnee, ich ging über Zucker und Salz. Die Pfützen waren grau zugefroren, das Eis zerkratzt wie das Gesicht von meinem angenähten Bruder.

Als der rumänische Polizist uns die Passierscheine für die Heimfahrt aushändigte, hielt ich den Abschied vom Lager in der Hand und schluchzte. Bis nach Hause, mit zweimal umsteigen in Baia Mare und Klausenburg, waren es höchstens zehn Stunden. Unsere Sängerin Loni Mich schmiegte sich an den Advokaten Paul Gast, richtete ihre Augen auf mich und meinte zu flüstern. Doch ich verstand jedes Wort, sie sagte:

Schau, wie der heult, dem läuft was über.

Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder daruntergeschrieben. Wieder durchgestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen. Das ist Erinnerung.

Statt den Satz der Großmutter, Ich weiß, du kommst wieder, das weiße Taschentuch aus Batist und die gesunde Milch zu erwähnen, habe ich seitenlang, wie einen Triumph, das Eigenbrot und das Wangenbrot beschrieben. Dann meine Ausdauer im Rettungstausch mit der Horizontlinie und den Staubstraßen. Beim Hungerengel kam ich ins Schwärmen, als hätte er mich nur gerettet, nicht gequält. Darum habe ich VORWORT durchgestrichen und NACHWORT darübergeschrieben. Es war das große innere Fiasko, dass ich jetzt auf freiem Fuß unabänderlich allein und für mich selbst ein falscher Zeuge bin.

Meine drei Diktandohefte habe ich in meinem neuen Holzkoffer versteckt. Er lag unter meinem Bett und war mein Wäscheschrank, seit ich zu Hause war.

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