Man lebt. Man lebt nur einmal

In der Hautundknochenzeit hatte ich nichts mehr im Hirn außer dem ewig sirrenden Leierkasten, der Tag und Nacht wiederholte: Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen. Ich wollte einen Tausch aushandeln mit den Dingen, die ohne zu leben untot sind. Ich wollte einen Rettungstausch vereinbaren zwischen meinem Körper und der Horizontlinie in der Luft oben und den Staubstraßen auf der Erde unten. Ich wollte mir ihre Ausdauer leihen und ohne meinen Körper existieren, und wenn das Gröbste vorbei ist, wieder in meinen Körper schlüpfen und im Watteanzug erscheinen. Es hatte nichts zu tun mit sterben, es war das Gegenteil.

Der Nullpunkt ist das Unsagbare. Wir sind uns einig, der Nullpunkt und ich, dass man über ihn selbst nicht sprechen kann, höchstens drumherum. Das aufgesperrte Maul der Null kann essen, nicht reden. Die Null schließt dich ein in ihre würgende Zärtlichkeit. Der Rettungstausch duldet keine Vergleiche. Er ist zwingend und direkt wie: 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.

In der Hautundknochenzeit muss mir der Rettungstausch tatsächlich gelungen sein. Hie und da muss ich die Ausdauer der Horizontlinie und Staubstraßen gehabt haben. Mit Haut und Knochen im Watteanzug allein hätte ich mich nicht am Leben halten können.

Das Nähren des Körpers bleibt mir bis heute ein Geheimnis. Im Körper wird abgerissen und aufgebaut wie auf der Baustelle. Du siehst dich und die anderen täglich, merkst aber an keinem Tag, wieviel in dir zusammenbricht oder auf die Beine kommt. Es bleibt ein Rätsel, wie die Kalorien alles nehmen und geben. Wie sie alle Spuren in dir löschen, wenn sie nehmen, und sie wieder zurücktun, wenn sie geben. Du weißt nicht, ab wann es mit dir aufwärts ging, aber du bist wieder bei Kräften.

Im letzten Lagerjahr bekamen wir für unsere Arbeit Geld auf die Hand. Wir konnten einkaufen auf dem Basar. Wir aßen Dörrpflaumen, Fisch, russischen Pfannkuchen mit süßem oder gesalzenem Käse, Speck und Schmalz, Maiskuchen mit Zuckerrübenbrei, öligen Sonnenblumenhalva. In wenigen Wochen waren wir wieder ganz normal genährt. Schwammig dick, die Russen sagen BAMSTI. Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als wäre es die zweite Pubertät.

Die neue Eitelkeit begann bei den Frauen, als die Männer noch in ihrer Watterüstung in den Tag schlurften. Sie waren sich noch schön genug und besorgten den Frauen lediglich das Material der Eitelkeit. Der Hungerengel bekam ein Gespür für Kleider, für die neue Lagermode. Die Männer brachten 1 Meter lange Stücke von blütenweißen armdicken Baumwollseilen aus der Fabrik. Die Frauen drehten die Seile auf, knüpften die Fäden zusammen und häkelten sich mit Eisenhaken Brusthalter, Höschen, Blusen und Leibchen. Die Knoten wurden beim Häkeln nach innen gezogen, man sah keinen einzigen an den fertigen Sachen. Die Frauen häkelten sogar Haarbänder und Broschen. Die Trudi Pelikan trug eine gehäkelte Seerosenbrosche wie eine an die Brust gehängte Mokkatasse. Die eine Zirri trug eine Maiglöckchenbrosche mit weißen Fingerhüten am Draht, die Loni Mich eine mit rotem Ziegelstaub gefärbte Dahlie. In dieser ersten Phase des Baumwolltransfers war auch ich mir noch schön genug. Aber bald wollte ich mich neu ausstaffieren. In langer Handarbeit nähte ich mir aus dem zerschlissenen Mantel mit dem Samtbündchen eine Schimmimütze. Ich hatte ihren Bauplan im Kopf, eine schwierige Konstruktion mit allen Finessen. Mit Stoff verkleidet rundum ein Steg aus Reifengummi, so groß, dass man sich die Mütze schief aufs Ohr ziehen kann. Im Schild Dachpappe, ein ovales Oberteil, verstärkt mit Zementsackpapier, und die ganze Mütze innen gefüttert mit brauchbaren Stücken aus einem zerrissenen Unterhemd. Das Innenfutter war mir wichtig, es war die alte Eitelkeit von früher, dass man für sich selbst auch dort schön sein will, wo andere nicht hinsehen. Es war eine Schiebermütze als Erwartungsmütze, eine Mütze für bessere Zeiten.

Zur gehäkelten Lagermode der Frauen gab es im Laden des Russendorfs Toilettenseife, Puder und Rouge. Alles die gleiche Marke Krasnyi Mak, roter Mohn. Die Schminksachen waren rosa und hatten einen schneidigsüßen Duft. Der Hungerengel staunte.

Die allererste Modewelle waren Ausgehschuhe, die Ballettki. Ich brachte einen halben Gummireifen zum Schuster, andere organisierten sich aus der Fabrik gummierten Stoff vom Förderband. Der Schuster machte leichte Sommerschuhe, sehr dünne schmiegsame Sohlen, an jeden Fuß genau angepasst. Auf dem Leisten gearbeitet, sehr elegant. Männer wie Frauen trugen sie. Der Hungerengel wurde leichtfüßig. Die Paloma war aus dem Häuschen, alle liefen zum Rondell und tanzten, bis kurz vor Mitternacht die Hymne kam.

Weil die Frauen aber nicht nur sich selbst und den anderen Frauen, sondern auch den Männern gefallen wollten, mussten auch die Männer sich anstrengen, damit die Frauen sie hinter der Decke an die gehäkelte Unterwäsche ließen. So kam es nach den Ballettki auch oberhalb der Schuhe zur Männermode. Neue Mode und neue Liebschaften, Wildwechsel, Schwangerschaften, Auskratzungen im städtischen Spital. In der Krankenbaracke hinterm Holzgitter vermehrten sich aber auch die Babys.

Ich ging zum Herrn Reusch aus Guttenbrunn, aus dem Banat. Ich kannte ihn nur vom Appell. Tagsüber räumte er Schutt ab in einer zerbombten Fabrik. Abends besserte er für Tabak zerrissene Pufoaikas aus. Er war gelernter Schneider, und seit der Hungerengel leichtsinnig herumlief, ein gefragter Fachmann. Der Herr Reusch rollte ein dünnes Fetzenband mit Zentimeterstrichlein auf, ich wurde vom Hals bis zu den Knöcheln vermessen. Dann sagte der Herr Reusch, für die Hose 1,50 Meter Stoff, für die Jacke 3,20 Meter. Und noch 3 große Knöpfe und 6 kleine. Fürs Jackenfutter sorge er selbst, sagte er. Ich wollte auch einen Gürtel mit Schnalle für die Jacke. Er schlug mir eine Schlüpfschnalle aus zwei Metallringen vor und am Rücken eine Falte, die sich mit Einnähern zweimal öffnet. Er sagte, eine Kellerfalte, in Amerika ist das jetzt Mode.

Ich bestellte zwei Metallringe vom Kowatsch Anton und ging mit meinem ganzen Bargeld ins Russendorf in den Laden. Der Hosenstoff war gedecktes Blau mit hellgrauen Noppen. Der Jackenstoff sandbeige und zementsackbraun kariert, jedes Karo in sich mit Reliefeffekt. Ich kaufte auch gleich eine fertige Krawatte, moosgrün in schiefen Rhomben. Und 3 Meter Rips, hell reseda für ein Hemd. Dann Knöpfe für Hose und Jacke plus 12 ganz kleine für das Hemd. Das war im April 1949.

Drei Wochen später hatte ich das Hemd und den Anzug mit der Kellerfalte und der Eisenschnalle. Der weinrote, in sich matt und glänzend karierte Seidenschal hätte jetzt endlich wieder zu mir gepasst. Tur Prikulitsch trug ihn schon lange nicht mehr, wahrscheinlich hatte er ihn weggeschmissen. Der Hungerengel war nicht mehr im Hirn, im Nacken saß er aber noch. Und er hatte ein gutes Gedächtnis. Das brauchte er gar nicht, die Lagermode war auch eine Art Hunger, Augenhunger. Der Hungerengel sagte: Verschwende nicht dein ganzes Geld, wer weiß, was noch kommt. Alles, was noch kommt, ist schon da, dachte ich. Ich wollte Ausgehkleider für den Lagerkorso, das Rondell und sogar für den Weg zu meinem Keller durch Unkraut, Rost und Schutt. Ich begann die Schicht mit Umkleiden unten im Keller. Der Hungerengel mahnte: Hochmut kommt vor dem Fall. Aber ich sagte ihm: Man lebt. Man lebt nur einmal. Auch das Meldekraut kommt nicht weg von hier und trägt rotes Geschmeide und schneidert sich für jedes Blatt einen Handschuh mit einem anderen Daumen.

Mein Grammophonkistchen hatte mittlerweile seinen neuen Schlüssel, wurde jetzt aber langsam zu klein. Ich ließ mir vom Tischler auch noch einen soliden Holzkoffer für die neuen Kleider bauen. Und bestellte von Paul Gast in der Schlosserei ein seriöses Kofferschloss mit Gewinde.

Als ich meine neuen Kleider auf dem Rondell zum ersten Mal vorführte, dachte ich: Alles, was noch kommt, ist schon da. Es soll alles immer so bleiben, wie es jetzt ist.

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